Credo statt Ego?

Wolfram Weimer hat herausgefunden, warum die Rückkehr der Religionen ein gut Ding ist

Als Papst Johannes Paul II. im Sterben lag, glaubte mancher Beobachter, die unerwartet große öffentliche Anteilnahme vor allem mit der langjährigen Omnipräsenz Karol Wojtylas erklären zu können. Ein „Medienhype“ sei das also, mehr nicht. Als Papst Benedikt beim Weltjugendtag im vergangenen Jahr Millionen junger Menschen aus aller Welt nach Köln lockte, waren wiederum viele Beobachter mehr an den Kondomen auf dem Marienfeld als an der Empfänglichkeit der jungen Generation für die Frohe Botschaft aus Rom interessiert. Kann es sein, dass hier etwas Wichtiges aus dem Blick geriet?

Wolfram Weimer, Gründer und Chefredakteur der Monatszeitschrift Cicero, bejaht diese Frage in seinem streitbaren Traktat Credo über die „Rückkehr der Religion“ mit großem Nachdruck. Seine These: Wir seien auf dem Weg vom postmodernen ins neoreligiöse Zeitalter. Manchen Regionen der Welt, meint Weimer, legten diesen Weg mit großen Schritten zurück: Nordamerika, Osteuropa, der Nahe, der Mittlere und der Ferne Osten. Westeuropa hingegen sei noch auffallend langsam. Aber „nicht mehr lange“, behauptet der Autor unter Verweis auf die Faszinationskraft von Papst Johannes Paul II. sowie auf die völlig unerwartete Popularität des als „konservativ“ geltenden Papst Benedikt selbst in westeuropäischen Metropolen.

Kein Grund zum Fürchten, meint der Autor

Wie auch immer man zu der schwungvollen Argumentation Weimers steht und gleichgültig, ob man die „Rückkehr der Religion“ als zentralen gesellschaftlichen und politischen Faktor bewertet – unbestreitbar präsentiert der Autor seine knapp 80-seitige Streitschrift genau zum richtigen Zeitpunkt. Er platziert seine Interpretation der weltweiten „Religions-Revolution“ zu einer Zeit, da eine diffuse Gemengelage aus wachsenden Bedrohungsgefühlen und einer fortdauernden Suche nach moralisch-ethischem Halt in einem Meer von naturwissenschaftlichen Erkenntnisfortschritten festzustellen ist. Die Religions-Revolution sei kein Grund zum Fürchten, sondern „gut“, zumal für uns Westler.

Für diese These führt Weimer drei Argumente ins Feld: ein kulturelles, ein politisches und ein ethisches. Sie alle kreisen um jenes Paradoxon des freiheitlichen modernen Verfassungsstaates, das Ernst-Wolfgang Böckenförde einmal in die Worte kleidete, dieser beruhe auf Voraussetzungen, die er selbst nicht zu garantieren vermöge. Letztlich sind dies kulturelle, politische und individuell-habituelle Voraussetzungen. Sie haben ihr Fundament im christlich-abendländischen Wertekosmos und ermöglichen ein gedeihliches, friedliches, solidarisches Zusammenleben der Menschen als Gleiche unter Gleichen im modernen Verfassungsstaat. Anders gesagt: Selbst unser heutiges Grundgesetz, die freiheitlichste Verfassung, die Deutschland je hatte, basiert wesentlich auf religiösem, konkret christlichem Fundament. Bröckelt dieses Fundament, ist die Verfassung in akuter Gefahr. Im Bewusstsein dieser Beziehung erkennt Weimer der Religion eine „Fundamentalfunktion“ für den säkularen Verfassungsstaat zu. Und er erinnert daran, dass die „Würde des Menschen“, die unser Grundgesetz prominent schützt, Derivat jener revolutionären Aussage des Christentums sei, die erstens jede Art von Unterdrückung und Diskriminierung verbiete, zweitens alle Geschlechter gleichstelle und drittens jeden Statusunterschied nach Rasse, Sprache, Herkunft, Geld und Glauben abwehre.

Weimer wettert gegen den Dialog

Diese normativen Errungenschaften der wechselvollen abendländischen Geschichte vor Augen wettert Weimer gegen jedweden „Dialog der Kulturen“, der „so gerne beschworen“ werde, im Grunde jedoch eine „rhetorische Anästhesie“ darstelle, eine politische Befriedungsstrategie des Westens, zumal Europas. Dieses Vorgehen erinnere zunehmend an das Kind, „das in eine Schlangengrube gefallen ist und den Reptilien nun vorschlägt: Wollen wir nicht lieber reden als beißen?“ Natürlich lässt sich über die Angemessenheit einer derartigen Bildersprache im Lichte der gegenwärtigen Herausforderungen streiten, aber bei mancher Kritik an Weimers rhetorischer Schärfe und seinem stellenweise apodiktischen Stil ist ihm doch grundsätzlich zuzustimmen, wenn er hinsichtlich der Bedrohung unseres westlichen Wertesystems durch islamistischen Terror fordert: „Wir sollten dem weder aggressiv noch kriecherisch begegnen, sondern mit ernstem Stolz und dem Selbstbewusstsein einer reifen Kultur, die nach so vielen inneren Tragödien um den Wert der Freiheit weiß. Dem ‚Dialog der Kulturen‘ muss eine Mobilisierung der eigenen Kultur vorausgehen.“

Voraussetzung dafür ist, dass an die Stelle begrifflicher Stellvertreterkonflikte um „Leitkultur“, „Multikultur“ oder „kulturellen Pluralismus“ eine Verständigung über Substanz und Toleranzgrenzen des Eigenen im Zusammenwirken – oder im möglichen Konflikt mit dem Anderen – tritt. Weimer erinnert in diesem Zusammenhang an Karl Poppers Maxime, im Namen der Toleranz das Recht beanspruchen zu müssen, die Intoleranz nicht zu tolerieren. Wenn Frauen millionenfach misshandelt, wenn Kinder zu Selbstmordattentätern erzogen und das Existenzrecht Israels in Frage gestellt werde, so der Autor, dann könne es keinen kommunikativen Kompromiss geben. Dann seien Entschiedenheit und Standfestigkeit gefordert.

Weimer redet dort Klartext, wo hierzulande allzu lange mit begrifflichem Weichspüler agiert und virulente politische Herausforderungen mit wohlmeinendem Gesinnungsornat kaschiert wurden. Und doch redet sein äußerlich schmales, inhaltlich gewichtiges Buch keineswegs einen „Kampf der Kulturen“ herbei. Im Gegenteil. Der Autor plädiert für eine neuerliche Sensibilisierung gegenüber den religiösen Fundamenten unserer freiheitlichen, säkularen Kultur und verweigert sich zugleich, Religion reflexartig auf Fanatismus, mittelalterliche Finsternis, Kreuzzüge, Hexenverfolgung oder islamistische „Gotteskrieger“ zu reduzieren. So ist sein Buch ein Weckruf, sich darauf einzustellen, ja konstruktiv darauf einzulassen, dass Religion (erneut) eine wichtige gesellschaftlich-politische Rolle spiele – und spielen solle. Nicht nur in fernen Regionen der Welt und nicht nur in unterentwickelten Gesellschaften. Auch hier bei uns. Benedetto lässt grüßen.

Ein differenziertes Verhältnis zu Gott

Je eher wir ein neues, ein differenzierteres Verhältnis von Gott und der Welt, von „Credo“ und „Ego“ entwickeln, je eher wir von Nietzsches „Gott-ist-tot“-Narkotikum ablassen und dazu übergehen, „vom neo-religiösen Nachzügler zu einem kulturellen Gestalter“ dieser weltweiten Neujustierung werden zu wollen, desto besser. Besser zumal für alle, die „Freiheit“, „Solidarität“ und „Gerechtigkeit“ nicht nur für einen frommen Wunsch, sondern für eine Verpflichtung zu aktivem gesellschaftlich-politischem Handeln jenseits aller Grenzen halten.

Wolfram Weimer, Credo: Warum die Rückkehr der Religion gut ist, München: Deutsche Verlags-Anstalt 2006,
79 Seiten, 9,90 Euro

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