Perspektiven einer europäischen Außenpolitik

Amerika brachte Europa einst die Freiheit. Doch wohin gehen wir jetzt? Driften wir auf beiden Seiten des Atlantik von einer augenblicklichen Störung in eine lang anhaltende Verstörung? Wird sich der Irak-Krieg als historischer Wendepunkt erweisen?

Nach dem Zweiten Weltkrieg haben die Amerikaner die Westeuropäer an die Hand genommen. Mit ihrer Hilfe hat sich Europa in eine Region verwandelt, in der die Menschen ihre Freiheit leben und Demokratie verwirklichen können. Solange Europa geteilt war, haben die Vereinigten Staaten die Grenzen der EU bewacht. Beide zusammen, die EU und die Vereinigten Staaten, haben Freiheit und Demokratie in Europa garantiert. Diesseits des Atlantiks verliert die militärische Präsenz der Vereinigten Staaten nach eigenem Urteil Washingtons an Bedeutung. Europa lernt, das notwendige Maß an Sicherheit Schritt für Schritt selbst zu produzieren. Europa baut sich um. Sein eigenes Gewicht wird stärker, wenn es seine Kräfte bündelt. Deshalb ist es nötig, dass die EU sich zu einer Sicherheits- und Verteidigungsunion entwickelt. Alle Mitgliedsstaaten der Union zusammen verfügen über etwa die gleiche Zahl von Streitkräften wie die Vereinigten Staaten. Gemeinsam aber produzieren sie nur den zehnten Teil der militärischen Leistung, wenn man die Fähigkeiten im Atlantikraum miteinander vergleicht. Eine Strukturreform der europäischen Armeen ist zwingend. Das Problem ist nicht, dass es östlich des Atlantiks zu viel Amerika gäbe - bei uns gibt es sicherheitspolitisch zu wenig Europa. Deshalb gehen wir an die Aufgabe, den europäischen Pfeiler des transatlantischen Bündnisses zu stärken.


Es ist ein Zeichen für den Zuwachs an Verantwortung, dass die EU eine Rolle übernimmt, die zuvor von den Vereinigten Staaten ausgefüllt wurde: in europäischen Konfliktregionen mitzuhelfen, das notwendige Maß an Sicherheit zu gewährleisten, damit die regionalen Konfliktparteien lernen, ihre gegeneinander gerichteten Interessen auszugleichen. In diesem Frühjahr hat die EU von der Nato das Mandat der Vereinten Nationen übernommen, um Mazedonien in ein reformorientiertes Modell der Demokratie im europäischen Südosten zu verwandeln. Das geschieht nicht im Gegensatz zur Nato, sondern in Kooperation mit ihr. Flexibilität der Instrumente, gebunden an eine gemeinsam ausgearbeitete Strategie - das ist das Kennzeichen des gemeinsamen Herangehens an die Lösung von Problemen.


Willy Brandt, als er den Friedensnobelpreis verliehen bekam, hatte fest im Blick, wie das neue Europa konturiert sein werde: "Unser Europa, aus der Erfahrung von Leiden und Scheitern geboren, ist der bindende Auftrag der Vernunft ... jener Vernunft, die uns den Frieden befiehlt, weil der Unfriede ein anderes Wort für die extreme Unvernunft geworden ist."

Europas Kraft kommt aus der Vielfalt

Der europäische Konvent hat die künftige Verfasstheit der EU debattiert. In dieser Debatte konstituiert sich zugleich eine Öffentlichkeit als Mahner und Impulsgeber für ein sich erneuerndes Europa. Europas Kraft kommt aus der Vielfalt. Die kulturelle, regionale und nationale Differenz wird anerkannt und produktiv genutzt. Flexibilität ergänzt sie. So öffnet sich allen die Chance, sich an den Angeboten der Integration abgestuft zu beteiligen. Alle Projekte sind insgesamt darauf gerichtet, den Zusammenhalt zu fördern. Das Europa der EU kann kohärent bleiben, wenn es immer wieder neue Integrationskräfte freisetzt. Frankreich und Deutschland waren dafür die Garanten. So ist die EU ökonomisch den Vereinigten Staaten ebenbürtig geworden. Sozial und ökologisch hat die EU einen anderen Modernisierungspfad beschritten als Amerika. Auf diesem Pfad darf Kontinentaleuropa nicht stehenbleiben. Gerade Frankreich und Deutschland müssen ihre Systeme der sozialen Sicherheit grundlegend modernisieren, damit die Hoffnung auf soziale Gerechtigkeit unter Bedingungen sich beschleunigender Globalisierung eine Adresse hat. Eine sozial gerechte Modernisierung voranzutreiben stärkt zugleich auch das ökonomische Gewicht der EU.


Das Europa der EU war lange mit der Arbeit an seiner Integration und seiner Erweiterung beschäftigt. Die vorwiegend nach innen gerichteten Blicke haben die Explosionen in seinem Südosten so lange übersehen, bis die Vereinigten Staaten militärisch eingriffen. Endlich, nach dem selbstverschuldeten Verlust von Zeit, haben dann die Mitgliedsstaaten der EU ihre gemeinsame Verantwortung erkannt und ihre Stärke ausgespielt. Seither haben die Staaten des ehemaligen Jugoslawien sich dem europäischen Geleitzug angeschlossen, der über die Transformation und den Aufbau ihrer demokratischen Nationalstaaten in die EU führen wird. Den Moment der Schwäche Europas hat Amerika bloßgelegt.

Kritik wird als "unpatriotisch" gebrandmarkt

Das Ergebnis der neokonservativen Diskussion in den Vereinigten Staaten ist eindeutig: Ihre hegemoniale Macht beruht auf der unangreifbaren militärischen Überlegenheit. Getragen vom Bewusstsein der Legitimität ihrer Mission setzt sie sich selbst in ihr Recht. Nationale Souveränität, allein gebunden an die Verfassung, ist ihre Grundlage. Multilaterale und internationale Verpflichtungen werden nur noch berücksichtigt, wenn und so weit sie nationalen Interessen nicht entgegenstehen. Bündnisse werden mehr und mehr hegemonial genutzt, ihre Instrumente wie aus einem Werkzeugkasten nach Nützlichkeitserwägungen eingesetzt. Nicht Koalitionen bestimmen über Missionen, sondern die Ziele der Missionen werden von der amerikanischen Administration definiert - und eine Koalition von Willigen soll folgen. Schließlich beansprucht die Administration für sich, militärisch präemptiv eingreifen zu dürfen, wo präsumptive militärische Gefahren für die Vereinigten Staaten existieren. In den neunziger Jahren sind die Grundlagen dieser neuen Doktrin in der neokonservativen Debatte erarbeitet, mit der Präsidentschaft von George W. Bush sind sie planmäßig verwirklicht worden. Substantielle Kritik daran wird als "unpatriotisch" gebrandmarkt.

Die September-Lizenz zur Revolution

Der 11. September 2001 hat den Neokonservativen eine Lizenz verschafft - die "September-Lizenz", wie der Sozialphilosoph Michael Walzer sie nennt - ihre konservative Revolution militärstrategisch durchzusetzen. Diese Revolution hat den Westen in ihren Sog gerissen. Die erste Phase nach den terroristischen Angriffen auf Amerika war davon geprägt, dass multilaterales Handeln gegen den Terrorismus eine neue Chance erhielt. Das Mandat der Vereinten Nationen für die Operation Enduring Freedom wurde rasch erarbeitet und konsequent realisiert. Als jedoch der Irak ins Visier rückte, verloren die Gründe für den Krieg, anders als im Kampf gegen Taliban und Al Kaida, an Überzeugungskraft. Weil die Mehrheit der Mitglieder des Sicherheitsrates Legitimationslücken für eine militärische Intervention sah, wurden die Vereinten Nationen beiseite geschoben. Gerhard Schröder hatte sich frühzeitig auf ein Nein zur militärischen Intervention festgelegt, soweit von Deutschland eine aktive Rolle erwartet werde. Er schloss aus der Debatte, wie sie in den Vereinigten Staaten bis in den Sommer 2002 geführt wurde, den erkennbar gewordenen Willen der Administration, den Krieg gegen den Irak Saddam Husseins zu führen.


Ob der Weg über den Sicherheitsrat der Vereinten Nationen und die Resolution 1441 vom November 2002 ernsthaft einen Krieg hätte verhindern können, das werden Historiker analysieren. Wann auch immer die amerikanische Administration sich zum Krieg entschieden hatte - ihrem Willen folgte eine deutlich geringere Zahl von Staaten als zuvor im Golf-Krieg und im Afghanistan-Krieg danach. Die weltweite Zuneigung zu den im innersten Selbstverständnis getroffenen Vereinigten Staaten hatte sich mit atemberaubender Geschwindigkeit in wenigen Monaten in Skepsis, auch in Misstrauen gewandelt. Unabhängig von ihren Regierungen wandte sich die klare Mehrheit der Europäer gegen eine militärische Intervention. Sie spürte, dass die Gründe für einen Krieg getauscht wurden, dass dessen Legitimationsbasis schwand und die politische Überzeugungskraft brüchig wurde. Aufgefüllt wurden diese Schwächen durch die asymmetrische militärische Dominanz. Militärisch haben die Vereinigten Staaten und die Koalition der Willigen gesiegt. Den Frieden müssen sie erst noch gewinnen.


Im Verständnis der meisten Europäer war der Krieg gegen den Irak falsch. Richtig war jedoch der Sturz der Diktatur Saddam Husseins. Mit dem militärischen Sieg ist die Legitimationslücke keineswegs geschlossen. Die Vereinten Nationen sind nicht bloßes Ornament. Und völkerrechtlich berechtigte Fragen dürfen im Raum der Macht nicht verhallen. Dennoch, die Menschen im Irak haben eine neue Chance. Zum ersten Mal seitdem ihr Staat existiert, können sie erwarten, dass sie über ihre politische Zukunft selbst bestimmen können. Trotz aller inneren Widersprüche, der regionalen Disparitäten, der Spannungen zwischen religiösen Ansprüchen und säkularen Erfordernissen - die Iraker werden es bald in ihrer eigenen Hand haben, wie sie künftig leben wollen.


Die transatlantische Kontroverse um den Irak-Krieg ist nicht beendet. Sie ist eine Kontroverse innerhalb des Westens. Deshalb müssen wir eine Debatte führen, die Klarheit schafft. Sie sollte mit der Frage beginnen, wie auf dem Weg des normativen Fortschritts weitergegangen werden soll, den Amerika nach dem zweiten Weltkrieg geebnet hat. Die Mehrheit der Europäer beharrte im Sicherheitsrat auf dem Vorrang ihres Verständnisses von Völkerrecht. Viele sehen, wie Jürgen Habermas, "die normative Autorität Amerikas ... in Trümmern". Wie kann ein neues Fundament der Legitimität gelegt werden? Wie sollen die Vereinten Nationen als Forum der Weltgemeinschaft weiter entwickelt werden? Wie können die beiden tragenden Prinzipien der Charta, die nationalstaatliche Souveränität und die universelle Geltung der Menschenrechte anders miteinander verbunden werden? Wo liegen künftig die Grenzen der Toleranz gegenüber der Verletzung von Menschenrechten? Wann sind Interventionen erlaubt gegenüber Staaten, die permanent den Entscheidungen des Sicherheitsrats zuwiderhandeln? Kein Zweifel, das Völkerrecht muss sich fortentwickeln.

Überdehnt Amerika seine Macht?

Der internationale Terrorismus will das zivilisatorische Zusammenleben aufsprengen. Deshalb ist es zulässig, den harten Kern des Terrorismus mit der hard power militärischer Mittel zu bekämpfen. Terroristen des neuen Typs entstaatlichen den Krieg, privatisieren Gewalt und wollen das Monopol des zivilen Staates zerstören, Sicherheit zu garantieren. Zwei Strategien, den Terrorismus zu bekämpfen, stehen einander gegenüber: Zum einen versuchen die Europäer in ihrer Mehrheit, den Terrorismus in ein polizeiliches Problem zu verwandeln. Deshalb wollen sie die UNO stärken, damit sie in den Stand versetzt werden kann, das ihr zustehende Gewaltmonopol auszuüben. Allerdings verlangt dies eine größere politische Bereitschaft zu globalem Handeln sowie ein deutlich höheres finanzielles Engagement.


Die Vereinigten Staaten zum anderen setzen auf militärische Intervention im Kampf gegen den Terrorismus. Einmal in Gang gesetzt, wie im Krieg gegen den Irak, kann diese Strategie einen permanenten Zwang ausüben und in der Gefahr enden, dass bei jeder folgenden Auseinandersetzung eine Koalition der Willigen immer mühseliger hergestellt werden muss. Eine mögliche Folge wäre, dass Amerika seine Macht überdehnt und der politische Widerstand gegen seine Hegemonie wächst. Werden beide Strategien weiterhin nicht sinnvoll aufeinander bezogen, dann zerbricht die Komplementarität zwischen Europa und Amerika. Das Vertrauen beiderseits des Atlantik war begründet auf der Selbstbeschränkung der Vereinigten Staaten und auf der Verlässlichkeit der Europäer. Dieses Vertrauen wieder herzustellen liegt im langfristigen Interesse beider Seiten. Wie sonst sollen die großen Aufgaben bewältigt werden, vor denen die Weltgemeinschaft steht: Hunger und Armut zu bekämpfen, Terrorismus und Diktaturen auszutrocknen, Menschen zu ermutigen, damit sie sich für Freiheit und Demokratie einsetzen?

Soft power und hard power - je nachdem

Wenn der Westen sich neu darauf verständigt und wieder lernt, seine Fähigkeiten auf gemeinsam definierte Ziele hin zu bündeln, können die Konflikte bewältigt werden. Entscheidend wird sein, die Funktionen von Staatlichkeit in Krisenregionen zu fördern, damit sich Nationen und die sie tragenden Gesellschaften bilden können. Notwendig ist dafür ein policy mix, der starke militärische Komponenten zum Inhalt haben muss, die überzeugend abschreckend wirken, aber auch robuste polizeiliche Sicherheitskräfte, die zwischen Konfliktparteien vermitteln. Werden Instrumente der soft power strategisch richtig eingesetzt, können sie den Konflikten innewohnenden Gewaltpotenzialen die Kraft nehmen.

Zivile Fachdienste, die mithelfen, den inneren Frieden stabil zu halten und den zivilen Wiederaufbau nach gewaltsam ausgetragenen Konflikten in enger Kooperation mit den Experten des betreffenden Landes unterstützen, müssen in einem strategischen Gesamtkonzept die Sicherheitsdimension ergänzen. Werden die Anteile von soft power und hard power je nach Bedrohungslage strategisch überlegt und flexibel genutzt, dann verringert dies die Gefahren. Werden diese Instrumente auf die jeweilige Situation bezogen flexibel eingesetzt und in einen strategischen Gesamtrahmen gestellt, dann werden Bedingungen geschaffen, die aus der globalen Unordnung eine vernünftige Ordnung entstehen lassen können.


Der Westen wird seine Chancen verspielen, wollte sich Europa gegen Amerika emanzipieren. Der Westen wird eine humane Zukunft gewinnen, wenn Amerika und Europa sich von ihren Fehlern emanzipieren. John Rawls, der große Philosoph des nordamerikanischen Liberalismus, nimmt in seinem letzten Buch Das Recht der Völker die Leitidee Kants auf und wendet seinen Entwurf vom Frieden hin zu einem neuen multilateralen Verständnis des modernen Völkerrechts (vgl. die Rezension von Sebastian Ullrich in Heft 3/2003 der Berliner Republik).

Das ist die Brücke, die sich über den Atlantik spannt, hier begegnet sich europäisches Denken. Nicht ein unterschiedlicher Begriff von Ideen oder Grundwerten liegt zwischen Amerika und Europa. Es sind die unterschiedlichen Erfahrungen mit politischer Macht und militärischer Gewalt, die uns trennen. Europa kennt den Unterschied zwischen Triumph und Triumphalismus. Den haben wir gelernt in den finsteren Zeiten unserer Geschichte. Triumph verbindet Stärke mit Demut. Wer sich hingegen vom Triumphalismus hinreißen lässt, der ist bald allein und ruft herbei, was seine Macht vielleicht zerbröseln kann. Machtpolitik, die versucht, in wechselnden Allianzen Balancen zwischen Mächten zu finden - das wäre eine schlechte Utopie einer neuen Weltordnung. Die Alternative ist eine Weltinnenpolitik, in die alle Staaten eingebunden sind.


"Europa und Amerika sind nicht zu trennen", sagte Willy Brandt. "Sie brauchen einander als selbstbewusste, gleichberechtigte Partner. Unsere Freundschaft wird den Vereinigten Staaten um so mehr gehören, je schwerer dieses große Land an seinen Bürden trägt." Amerika und Europa können zu einer neuen Partnerschaft finden. Darin liegt die Möglichkeit, nicht die Gewissheit, dass die Welt doch vernünftiger werden kann und demokratischer. Darin liegt die Möglichkeit einer Universalität, die etwas anderes ist als Globalisierung.

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