Wahlkampf im falschen Rahmen
Auch bei dieser Bundestagswahl ist die Kampagne der SPD scharf beobachtet worden. Gleich nach der Wahl präsentierte der Spiegel in großer Aufmachung die „Schulz-Story“. Spiegel-Redakteur Markus Feldenkirchen hatte den sozialdemokratischen Kanzlerkandidaten Martin Schulz seit dem Frühjahr begleiten dürfen und konnte so aus nächster Nähe verfolgen, wie sich Schulz trotz zunehmend aussichtsloser Lage mit unermüdlichem persönlichen Einsatz in seine Auftritte warf. Noch kurz vor der Wahl hatte bereits Peter Carstens in der FAZ unter dem Titel „Wahlkrampf mit der Kampa“ eine kritische Darstellung der SPD-Kampagne und ihrer Schwächen veröffentlicht. Die Befunde beider Autoren fielen ähnlich aus: Die SPD kämpfte einen Kampf, der - wie schon im Jahr 2013 - nicht mehr zu gewinnen war.
Hat also die SPD bei der Bundestagswahl 2017 mit ihrem Stimmenanteil von 20,5 Prozent mehr als nur eine weitere katastrophale Niederlage erlitten? Signalisieren die Einbrüche am Wählermarkt über die tristen Ergebnisse hinaus eine ins Chronische tendierende Kampagnenschwäche oder sogar eine grundsätzliche Strategieunfähigkeit?
Ein Blick zurück auf die Erfolge 1998 und 2002
Blicken wir kurz zurück auf bessere Zeiten: Bei der Bundestagswahl 1998 hatte die SPD nach 16 Oppositionsjahren mit dem Parteivorsitzenden Oskar Lafontaine und dem Kanzlerkandidaten Gerhard Schröder 40,8 Prozent der Stimmen erhalten und damit einen triumphalen Wahlsieg errungen. Erstmals in der Geschichte der Bundesrepublik konnte sie, zusammen mit den Grünen, direkt aus dem Oppositionslager heraus die Koalition aus Union und FDP von den Regierungsbänken verdrängen. Und die Erfolgsgeschichte setzte sich fort: Obschon Lafontaine bereits im Frühjahr 1999 aus seinen Regierungs- und Parteiämtern ausgeschieden war, gelang es Rot-Grün unter dem Führungsduo Gerhard Schröder und Joschka Fischer im Jahr 2002, nach einem klassischen Lagerwahlkampf die Regierungsmehrheit zu verteidigen. Die SPD errang starke 38,5 Prozent, während die PDS an der Fünf-Prozent-Hürde scheiterte und lediglich durch zwei Direktmandate vor dem endgültigen Ausscheiden aus dem Bundestag bewahrt wurde.
Beide Wahlkämpfe gelten bis heute als Meisterstücke – vor allem die Kampagne von 1998, bei der seit 1995 ein „Stufenkonzept … bis zum Machtwechsel 1998 führte“. Schritt für Schritt wurden die Bausteine einer Wahlkampfstrategie implementiert: „Wiederaufbau von Strategiefähigkeit“, Stabilisierung der Führung und „Kanalisierung der Kandidatenfrage“, Festlegung der programmatischen Richtung („Bekräftigung sozialdemokratischer Themen und Werte zuerst, dann Öffnungen“), bis hin zum Aufbau der „organisatorischen Strategiekompetenz“ in der ausgelagerten „Kampa“ und der Konzipierung einer „strategischen Leitkampagne“ (siehe dazu Joachim Raschke und Ralf Tils in ihrem Buch Politik braucht Strategie – Taktik hat sie genug).
Dieser kurze Rückblick zeigt: Strategische Planung war bis vor kurzem auch in der SPD möglich und hat zu bemerkenswerten Erfolgen geführt. Klar wird auch: Erfolgreiche Planung vollzieht sich in längeren Zeiträumen. Neben dem Wahlkampfgeschehen im engeren Sinne gehören immer auch die Aktualisierung eines ideologisch-programmatischen Rahmens und der Aufbau eines strategischen Entscheidungszentrums dazu, also die Organisation und Rollenzuschreibung der zentralen Akteure. Betrachten wir in aller Kürze, in welchen ideologisch-programmatischen und organisatorischen Rahmen die am Ende so offenkundig fehlgeschlagene Kampagne bei der Bundestagswahl 2017 eingebettet war.
Abkehr vom traditionellen Politikmodell
Zunächst zum ideologisch-programmatischen Rahmen. Der Befund ist eindeutig: Auch der Wahlkampf 2017 fand für die SPD im Schatten der „Agenda 2010“ statt, wie schon die Bundestagswahlkämpfe 2005, 2009 und 2013. Gemeint ist die Abkehr vom traditionellen sozialdemokratischen Politikmodell, die Gerhard Schröder und Franz Müntefering ab dem Frühjahr 2003 vollzogen hatten. Ergänzt wurde diese Abkehr durch die „Schuldenbremse“ im Grundgesetz. An die Stelle der vormaligen Maxime politics against markets trat das Leitmotiv politics within markets. Damit war das traditionelle Politikmodell der SPD weitgehend außer Kraft gesetzt. Es hatte den Bürgerinnen und Bürgern neben staatlicher Strukturpolitik in vielen Politikfeldern Schutz vor den Risiken des Marktgeschehens auf der Grundlage staatlicher Wohlfahrtspolitik garantiert. Der dänische Wohlfahrtsstaatsforscher Gösta Esping-Andersen hat diese sozio-ökonomische und sozialpsychologische Schutzfunktion als „Dekommodifizierung“ bezeichnet, also als eine gezielte Ausgliederung der Bürger aus den Anpassungszwängen kapitalistischer Marktdynamik. Gerade im Wahlkampf 2017 waren die oft als bedrohlich empfundenen Anpassungszwänge etwa auf dem Wohnungs- und Arbeitsmarkt oder im Hinblick auf die Pflege im Alter immer wieder ein Thema.
Mit dem Schwenk zur politics within markets haben sich zentrale Parameter für die Entwicklung sozialdemokratischer politischer Strategien verändert. Zunächst konnte sich die bereits für tot gehaltene PDS seit 2005 in eine stabile Zehn-Prozent-Partei mit einem für manche SPD-Anhänger durchaus attraktiven Personalangebot verwandeln. Seit 2005 hat die Linkspartei bei jeder Bundestagswahl einen Stimmenanteil zwischen drei und sieben Prozent aus dem weiteren Wähler-Potenzial der SPD abgesaugt. Mindestens ebenso groß ist das „prekäre“ Wählersegment, das sich auch wegen der sozialdemokratischen Wende zur politics within markets längerfristig in die Wahlenthaltung zurückgezogen hat, wie jüngere Studien zur Wahlbeteiligung zeigen. Somit steht der SPD bei Bundestagswahlen mittlerweile ein Wählersegment von acht bis fünfzehn Prozent nicht mehr oder nur sehr eingeschränkt zur Verfügung.
Zudem steht die SPD seit 2003 vor einem dauerhaften Argumentationsdilemma. Einerseits positioniert sie sich aufgrund ihrer Parteigeschichte in allen Wahlkämpfen – so auch 2017 – als Hüterin der sozialen Gerechtigkeit; auf diesem Themenfeld erzielt sie noch immer die relativ höchsten Kompetenzwerte. Andererseits kann sie wegen ihrer neuen Maxime politics within markets und wegen der Schuldenbremse ihr wirksamstes Geschütz gegen soziale Schieflagen, nämlich massive Staatsinterventionen, nicht mehr oder nur noch sehr eingeschränkt zum Einsatz bringen. Erschwerend kam gerade 2017 hinzu, dass sich die besonders bedrückend erscheinenden sozialen Missstände – wie die wachsende Wohnungsknappheit, Alters- und Kinderarmut, der drohende Pflegenotstand oder der stark angewachsene Niedriglohnsektor – in beträchtlichem Maße auf die vergangenen Jahre sozialdemokratischer Regierungsmitverantwortung zurückführen ließen. Deshalb führten die SPD und Martin Schulz in weiten Passagen der Kampagne einen Wahlkampf gegen sich selbst – ein Umstand, der immer wieder zu Glaubwürdigkeitsdefiziten führte.
Festhalten an der marktkonformen Sozialdemokratie?
Die Chance, diesem Argumentationsdilemma auf dem Schleichpfad der Koalitionsoptionen zu entkommen, wurde durch den de facto-Ausschluss eines rot-rot-grünen Bündnisses bereits im Ansatz vereitelt. Zwar hatte Schulz unmittelbar nach seiner Ernennung zum Kanzlerkandidaten einige Male, so auf einer Arbeitnehmerkonferenz in Bielefeld, unter großem Beifall die „Agenda- Politik“ und die wachsende soziale Ungleichheit in der Bunderepublik attackiert. Aber er wurde nach dieser kurzen, rhetorischen Distanzierung von der Schröder-Ära sogleich von anderen führenden Sozialdemokraten zur Rückkehr auf die Parteilinie gemahnt. Auch das Ergebnis der Landtagswahl im Saarland wurde sofort als Mobilisierung der Wählerschaft gegen Rot-Rot-Grün interpretiert, obschon diese Koalitionsvariante im Wesentlichen dadurch vereitelt wurde, dass die schwachen Saar-Grünen an der Fünf-Prozent-Hürde scheiterten. Spätestens mit dem großen Auftritt Gerhard Schröders auf dem Dortmunder Parteitag wurde endgültig offenkundig, dass auch in diesem Wahlkampf ein Abrücken der SPD von der Logik der politics within markets nicht infrage kam.
Damit konnte die SPD auch diesmal nicht den breiten, über alle sozialen und Generationsgrenzen hinweg reichenden Konsens zum Wohlfahrtsstaat beschwören, wie sie das bei den Wahlen vor 2005 noch vermochte. Dabei belegen alle einschlägigen Studien: Nach wie vor sind die Deutschen mit Mehrheiten von 70 bis 90 Prozent Anhänger eines expansiven Wohlfahrtsstaats, und das trotz des polemischen Trommelfeuers wirtschaftsnaher Verbände und der Mehrzahl der so genannten Leitmedien gegen den Wohlfahrtsstaat. Dieses ultrastabile Einstellungsmuster könnte durchaus eine tragfähige Brücke in die unterschiedlichsten Segmente der Gesellschaft bilden, nicht zuletzt in die sagenumwobene Mitte der deutschen Wählerschaft. Jedoch ist auch diesmal die plausible Annäherung an eine breite Wählermehrheit von der SPD-Führung heroisch ausgeschlagen worden.
Seit nunmehr vier Bundestagswahlen entwickelt die SPD ihre Kampagnen in dem Kommunikations- und Interpretationsrahmen einer marktkonformen Sozialdemokratie, wie ihn der Schwenk unter Schröder und Müntefering hervorgebracht hat und wie er trotz aller Wahlniederlagen seither beibehalten wurde. Mit diesem fragwürdigen „Mega-Frame“ sind zahlreiche Kampagnenprobleme verbunden, mit denen die SPD bereits vor dem Beginn jeder „heißen“ Wahlkampf-Phase belastet ist. Man kann es auch so sagen: Spätestens seit 2009 sind die Wahlen aufgrund des Framings bereits verloren, bevor sie überhaupt stattgefunden haben.
Der Wandel der Partei-Elite
Wenden wir uns nun den politischen Akteuren mit der Verantwortung für die politische Strategie und die Kampagnen zu: Verdichten sich die Spitzenakteure der SPD zu einem strategischen Zentrum? Unterstützen und flankieren sie es zumindest?
Die ideologisch-programmatische Ausrichtung einer Partei fällt nicht vom Himmel. Immer ist sie das Resultat innerparteilicher Konflikte und daraus resultierender Machtverhältnisse. Dies gilt ganz besonders für eine heterogene Volkspartei mit ihren Flügeln und Gruppen, wie die SPD es seit dem Zweiten Weltkrieg immer gewesen ist. Auch der Schwenk zur politics within markets war in komplizierte, teilweise erbitterte innerparteiliche Auseinandersetzungen und immer wieder aufflackernde Machtkämpfe eingelagert, die sich von der Mitte der neunziger Jahre bis etwa 2008 erstreckten. Seither wird die SPD von einer Führungsriege geprägt, die sich nach langen Jahren der „lose verkoppelten Anarchie“ durch eine in dreifacher Hinsicht erstaunliche Homogenität sowohl auf Bundes- als auch auf Landesebene auszeichnet.
Zunächst hat sich in den neunziger Jahren auf der Führungsebene ein Generationenwechsel vollzogen, der mit einem bemerkenswerten Wandel des Habitus, des öffentlich präsentierten Lebens- und Verhaltensstils und des politischen Rollenverständnisses der führenden Sozialdemokraten verbunden ist. Diesen Wechsel hat Max Reinhardt in seiner wichtigen Studie Aufstieg und Krise der SPD herausgearbeitet, in der er mit dem theoretischen Instrumentarium des französischen Soziologen Pierre Bourdieu Mitglieder der „alten“ und „neuen“ SPD-Elite in Tiefeninterviews befragt hat. Zu den Repräsentanten dieser „neuen“ Elite, die von Reinhardt interviewt wurden, zählen unter anderem Sigmar Gabriel, Frank-Walter Steinmeier sowie Brigitte Zypries und Andrea Nahles.
Bei allen individuellen Unterschieden zwischen diesen profilierten Sozialdemokraten und Sozialdemokratinnen arbeitet Reinhardt bei der neuen Führungsriege einen deutlich veränderten Habitus heraus. Dieser ist durch die Nähe zu einem modernisierten Arbeitermilieu und durch starke Elemente der neuen Manager- und Leistungsorientierung gekennzeichnet. Dieser Habitus erscheint wesentlich kompatibler mit den gesteigerten Leistungs- und Anpassungserfordernissen der politics within markets als der „defensive“ Habitus der „alten“, zumeist gewerkschaftsgeprägten SPD-Eliten. Eine spontane Nähe zu den traditionellen, aber auch modernen Arbeitnehmer-, Mittel- und Unterschichtenmilieus ist bei dieser „neuen“ Elite eher selten gegeben.
Dieser habituelle Wandel kommt übrigens auch in dem veränderten Gewicht der verschiedenen ideologischen Parteiflügel zum Vorschein. So signalisiert die starke Stellung der „Seeheimer“ und der „Netzwerker“ an der SPD-Spitze eine neue Annäherung der Parteiführung an politische Positionen aus der sozial-liberalen und progressiven Tradition. Die Distanz zu den Gewerkschafts- und klassischen Wohlfahrtsstaatstraditionen ist hier ebenfalls deutlich zu spüren.
Schließlich zeichnen sich in der SPD auch Anklänge eines veränderten Verständnisses von Parteien und Wahlkämpfen ab, wie sie etwa der irische Parteienforscher Peter Mair in dem neuen Typus der „Kartellpartei“ identifiziert hat. Die politischen Führer der Kartellparteien sehen sich nicht mehr in erster Linie als Repräsentanten bestimmter gesellschaftlicher Interessen und Milieus, sondern als Mitglieder eines Kartells von politischen professionals. Auch hat der Wahlkampf für sie nicht mehr die vorrangige Bedeutung als (Verteilungs-)Kampf zwischen sozialen Gruppen, sondern die Wahlkampagnen sichern in erster Linie die dauerhafte Zugehörigkeit der Partei und ihrer Eliten zum politischen Entscheidungs- und Verteilungskartell. Franz Münteferings immer wieder zitiertes Diktum „Opposition ist Mist“ erfährt in diesem Kontext einer vornehmlich auf Kartellzugehörigkeit orientierten Partei eine neue, durchaus auch befremdliche Bedeutung.
Martin Schulz als Vertreter der „alten“ Elite?
Vor diesem Hintergrund erscheinen einige Entscheidungen, die bei den letzten Wahlen im Kreis der engeren Parteiführung gefällt wurden, in einem etwas veränderten Licht. Hier ist zum einen die Kandidatenauswahl bemerkenswert. Sowohl 2009 als auch 2013 folgt sie deutlich der These vom Habituswandel. Frank-Walter Steinmeier und Peer Steinbrück entsprechen fast idealtypisch der „neuen“ Elite: der eine als Chefingenieur der „Agenda 2010“, der andere als „neuer Manager“. Aber auch die beiden anderen führenden Figuren der SPD in den vergangenen Jahren, der Parteivorsitzende Sigmar Gabriel und der Vorsitzende der Bundestagsfraktion Thomas Oppermann, personifizieren den gleichen veränderten Rollen- und Habitus-Typ in der Führungsriege. Insofern erscheint auch die im Großen und Ganzen mittelmäßige Popularität der Partei sowohl unter den beiden Kandidaten als auch unter dem Vorsitz Sigmar Gabriels nicht erstaunlich.
2017 betrat mit Martin Schulz ein Kandidat die politische Bühne, der zahlreiche Habituselemente eher aus der „alten“ SPD-Elite mitbringt. In gewisser Weise ist Kurt Beck, der SPD-Vorsitzende von 2006 bis 2008, ein Vorläufer von Martin Schulz gewesen. Entscheidend dürfte aber auf mittlere Sicht sein, ob und wie sehr sich politische Figuren wie Martin Schulz aus der recht homogenen Führungsgruppe abheben können. Dies gilt sowohl mit Blick auf die Akzeptanz in der Wählerschaft als auch auf die politische Manövrierfähigkeit des Spitzenkandidaten und Parteivorsitzenden innerhalb der sozialdemokratischen Führungsschicht. Welche „Beinfreiheit“ kann er sich erlauben?
Grundsätzlich erscheint die Homogenität der derzeitigen Führungsschicht der SPD als ambivalent. Auf der einen Seite ist eine weitgehende Übereinstimmung innerhalb des Führungspersonals zu identifizieren, damit sind offene Flügel- und Richtungskämpfe nicht zu erwarten. Auf der anderen Seite ist derzeit keine Teil- oder Gegenelite in der SPD auszumachen, die Kritik oder gar einen Ausbruch aus der Logik der politics within markets bewerkstelligen wollte oder könnte. Dies ist übrigens der zentrale Unterschied der innerparteilichen Situation der SPD im Vergleich zur britischen Labour Party: Der jetzige Parteichef Jeremy Corbyn konnte eine Reihe von Gegeneliten gegen die Gefolgschaft der früheren Parteiführer Tony Blair, Gordon Brown und Ed Miliband mobilisieren und dadurch einen erneuten ideologisch-programmatischen Schwenk erreichen. Bei den deutschen Sozialdemokraten liegen die Dinge anders; hier wird sich die Führungsriege vornehmlich in die Richtung sozial-liberaler und progressiver politischer Optionen bewegen. Eine deutliche Abkehr von der politics within markets wie bei Labour ist eher unwahrscheinlich.
Kandidat & Kampagne: zu spät und kaum vorbereitet
Wenden wir uns abschließend dem Kampagnenverlauf zu. In mehrfacher Hinsicht rätselhaft bleibt der Umstand, dass Martin Schulz als Spitzenkandidat erst so spät präsentiert wurde. Dies ist umso unverständlicher, da die ja ebenfalls relativ späte Kür der vorherigen Spitzenkandidaten Steinmeier und Steinbrück 2009 und 2013 mit sehr schlechten Wahlergebnissen für die SPD endete. Auf die fatalen Folgen dieser Verzögerung für die Organisation der Kampagne, ihren Verlauf und natürlich für den individuellen Spielraum des Spitzenkandidaten hat Peter Carstens in seiner FAZ-Analyse hingewiesen. Eine präzise Ausrichtung der Kampagne auf den Spitzenkandidaten wurde erschwert, wenn nicht gar verhindert. Die entsprechende Verankerung eines „Schulz-Teams“ im Willy-Brandt-Haus stieß ebenfalls an enge Grenzen.
Ganz offensichtlich hat sich in der Führungsriege der SPD seit dem Sommer 2016 ein komplizierter Paralleldiskurs über die politischen Prioritäten hinsichtlich der Abfolge und des wechselseitigen Zusammenhangs der Wahlen auf Bundes- und Länderebene entwickelt. In seinem Verlauf konnten die verschiedenen Interessen und Wünsche nicht im Sinne einer sinnvollen Strategieplanung zur Deckung gebracht werden. Dies ist allein deshalb bemerkenswert, weil der Parteivorsitzende und damalige Bundeswirtschaftsminister Sigmar Gabriel während dieser Zeit mit seinem Staatssekretär Matthias Machnig, bekannt als operativer Chef der vielgerühmten „Kampa“ von 1998, einen im wahren Wortsinne unüberhörbaren Fachmann an seiner Seite hatte. Trotzdem ist es 2017 nicht zu einem strategischen Zentrum von der Qualität der 1998er-„Kampa“ gekommen. Allerdings hatte sich dieses Defizit schon vorher abgezeichnet.
Neben den Abstimmungsproblemen wurde der gesamte Wahlkampf der SPD von Problemen beim Umgang mit den Medien und deren Sprache überlagert. Schon bald nach der Inthronisierung von Martin Schulz und der Festlegung auf das Leitmotiv der sozialen Gerechtigkeit zeigte sich, dass Kandidat und Partei immer wieder große Schwierigkeiten hatten, ihre politischen Ziele im größeren Zusammenhang darzustellen und in einem eingängigen Frame zu artikulieren. Vor allem in den öffentlich-rechtlichen Medien prallten die programmatischen Versatzstücke der SPD auf eine Sprachwelt, die in einer ökonomistischen Terminologie fast jede Anspielung von Martin Schulz auf die Bedeutung der Gerechtigkeit für den sozialen Frieden in „ewiggestrige“, „rückwärtsgewandte“, von „Pessimismus und Neid getragene“, den „Exportweltmeister“ gefährdende Skeptizismen verwandelte. Dabei wurde erschreckend deutlich, dass der Sozialdemokratie in beträchtlichem Maße ihre Sprache abhanden gekommen war. Gerade auf diesem Feld hätten langfristig eine konsistente Kommunikationsstrategie und ein Angriffsszenario gegen die mediale Übermacht erarbeitet werden müssen. Aber auch hier war keine Vorbereitung zu erkennen.
Schließlich offenbarte der Wahlkampf einmal mehr die „Ostschwäche“ der SPD, zu der sich im Übrigen seit einiger Zeit eine „Südschwäche“ in Bayern, aber auch in Baden-Württemberg gesellt hat. Ganz abgesehen von den zahlreichen, fast chronisch schlechten Wahlergebnissen in den neuen Ländern hat die Kampagne auch diesmal darunter gelitten, dass die SPD in weiten Teilen Ostdeutschlands organisatorisch kaum präsent ist. Damit fehlt so etwas wie eine stimmungsmäßige oder politisch-kulturelle Grundierung der Öffentlichkeit, die einer Wahlkampagne erst zur richtigen Ausstrahlung verhelfen kann. Die Mitgliederzahlen der SPD im Osten liegen seit langem auf sehr niedrigem Niveau und sind zudem seit Jahren rückläufig. Hier zeichnet sich sehr deutlich die Notwendigkeit ab, die punktuellen Wahlkampagnen der Partei durch eine langfristige Mitglieder- und Organisationskampagne zu unterfüttern, um auf diese Weise der politischen Leere im Osten entgegenzuwirken und überhaupt eine sichtbare Rolle im zivilgesellschaftlichen Alltag zu spielen. Ganz offensichtlich wurde auch diese politische Kultivierung als eine strategische Aufgabe jahrelang vernachlässigt.
Wiederholungsschleifen seit 2005
Welche Lehren sind aus dem Wahlkampf der SPD zu ziehen? Schon die ersten journalistischen Analysen haben erhebliche Schwächen der Kampagne aufgezeigt. Allerdings hängen diese wesentlich mit einer Reihe von Vorbedingungen zusammen, allen voran mit der späten Ernennung des Spitzenkandidaten, die dann mehr oder minder unvermeidliche Folgen nach sich zog. Wenn wir zudem die Beobachtung auf die mittel- oder längerfristige Vorgeschichte der Bundestagswahl 2017 ausdehnen, dann werden ideologisch-programmatische Verwerfungen und Entwicklungen auf der Führungsebene der SPD sichtbar, die mit einer Sequenz von Wiederholungsschleifen seit 2005 immer wieder gravierende Probleme bei der Strategieentwicklung produzieren und auch diesmal schlüssige Kampagnenkonzepte blockiert haben. Auf eine kurze Formel gebracht: Auch die aktuelle Kampagne der SPD mit Martin Schulz hat sich in einem falschen Rahmen bewegt, der die hinlänglich bekannten Glaubwürdigkeits- und Mobilisierungsprobleme einmal mehr zum Vorschein brachte.
In Zukunft wird deshalb einerseits die Überwindung des Agenda-Traumas durch die Öffnung und Hinwendung der SPD zu einer wohlfahrtsstaatlichen Fortentwicklung des klassischen Leitmotivs politics against markets in einem europäischen Rahmen ein vorrangiges Ziel sein müssen. Andererseits wird die SPD nicht um eine Öffnung ihrer derzeit so wenig anschlussfähigen „neuen“ Elite herumkommen. Diese Öffnung hin zur Gesellschaft kann durch zahlreiche Maßnahmen erleichtert werden: Quoten für zivilgesellschaftliche Akteure und Zugewanderte, Bonus-Delegierte für erfolgreiche Parteieinheiten auf Parteitagen, Kultivierung der Partei in Ostdeutschland etwa durch das Symbol monatlicher oder quartalsweiser Vorstands- und Präsidiumssitzungen in ostdeutschen Städten. Aber auch hier gilt: Eine Erfolgsgarantie wird die SPD bei diesem Rekonstruktions-, Öffnungs- und Erneuerungsprojekt ohne langfristige strategische Planung nicht haben.
(Dieser Text ist am 16. November 2017 als Online-Spezial-Beitrag der Berliner Republik erschienen.)