»Es braut sich etwas Neues zusammen«
Der Neoliberalismus überstand die größte Wirtschaftskrise seit mehr als 80 Jahren, weil seine Befürworter, allen voran die großen international operierenden Banken, die Weltwirtschaft nach wie vor dominieren. Während der Krise haben es die Regierungen in aller Welt als unbedingt notwendig erachtet, genau diese Banken mit exorbitant hohen öffentlichen Mitteln zu retten und zu unterstützen. Sinnbildlich steht die Redewendung „too big to fail“ für die Abhängigkeit der Politik von den Banken. Somit wurde also eben das neoliberale System wiederbelebt und aufrechterhalten, das die Krise ursprünglich verursacht hatte. Die Finanzkrise ab dem Jahr 2008 offenbarte zwei wichtige Aspekte des Neoliberalismus: seine Schwäche als ökonomisches System und zugleich seine ungeheure politische Stärke.
Weisen nicht geplante Maßnahmen der Regierungen wie höheren Eigenkapitalforderungen für Banken oder eine Finanzmarkttransaktionssteuer den zügellosen Neoliberalismus in die Schranken?
Zunächst liegt auf der Hand, dass nun Schritte unternommen werden, um das höchst unverantwortliche Handeln in den Finanzzentren zu regulieren. Genauso klar ist aber, dass die Banken ihre Lobbyarbeit fortsetzen werden. In Großbritannien beispielsweise wurden nun strengere Regeln zur Bankenfinanzierung verabschiedet. Diese müssen aber erst bis 2019 vollständig befolgt werden – dazwischen liegen eine oder sogar zwei Parlamentswahlen. Ausreichend Zeit also für die Lobby der Banken und Finanzdienstleister, die Politik zu beeinflussen und Gesetze wieder zu lockern. Deshalb lautet meine Vermutung, dass nun strikte Regulierungen entstehen, die sich dann aber zusehends verflüchtigen. Unterschiede in der Tiefe der Regulierungen in den einzelnen Ländern sind dabei weniger die Folge voneinander abweichender Präferenzen der Parteien als das Ergebnis unterschiedlicher Strukturen der Volkswirtschaften. Die britische Wirtschaft basiert zum Großteil auf dem Finanzsektor, weshalb eine Finanzmarkttransaktionssteuer nicht durchgesetzt werden wird, ganz gleich welche Partei das Land regiert. Eine deutsche Regierung, ob christdemokratisch oder sozialdemokratisch dominiert, wird stärkere Regulierungen befürworten, weil hier Wirtschaftssektoren einflussreich sind, die nicht so stark vom Finanzsystem geprägt sind.
Innerhalb der liberal-konservativen Regierung in Deutschland wird mittlerweile sogar die Einführung eines Mindestlohns erwogen.
Dieses Verhalten einer konservativen Regierung stellt einen interessanten, bisher wenig beleuchteten Aspekt der aktuellen Lage dar. Die Krise schafft große Unsicherheit und Ungewissheit für die Arbeitnehmer, auf die Regierungen mit innovativen sozialpolitischen Maßnahmen reagieren müssen. Den Finanz- und Politikeliten ist klar, dass sie diese Krise ohne die „einfachen Menschen“ nicht überwinden können. Diese werden in dreifacher Weise benötigt: als Wähler, als Konsumenten und als Arbeiter. Darum können die Interessen der Arbeitnehmer nicht vollkommen missachtet werden. Die deutsche Mindestlohndebatte ist dafür ein gutes Beispiel.
Sie sprechen in Ihrem Buch davon, dass die Marktwirtschaft zunehmend unter der Verflechtung zwischen Großkonzernen und Politik leidet. Welche Rolle spielt dabei der Neoliberalismus?
Wenn wir über Neoliberalismus sprechen, dann meinen wir oft das Konzept eines freien Marktes, der individuelles Profitstreben ermögliche und somit das beste Mittel zur Befriedigung unserer Bedürfnisse sei. Tatsächlich aber begünstigte die neoliberale Politik die Entstehung transnationaler Großkonzerne. Diese üben heute enormen Einfluss aus und sind aufgrund ihrer marktbeherrschenden Stellung in der Lage, die Politik unter Druck zu setzen. Das Ergebnis ist eine Art politisierte Marktwirtschaft – grundverschieden von den klassischen wirtschaftlichen Modellen und Theorien. Das Problem liegt darin, dass bei enger Verflechtung von Geld und Politik das Auftreten von Korruption unvermeidlich ist. Bereits Adam Smith hat das festgestellt. Ein extremes Beispiel hierfür ist Italien, wo der reichste Mann gleichzeitig der politisch Mächtigste wurde.
Wie kommt es aber dazu, dass beispielsweise der Wohlfahrtsstaat seit den achtziger Jahren keinesfalls geschrumpft ist, sondern die Staatsausgaben sogar gestiegen sind? Das lag doch sicherlich nicht im Interesse der Unternehmerlobby.
Unsere Gesellschaft ist ja nicht ausschließlich von der Dominanz der Großkonzerne geprägt. Der Staat ist nach wie vor auf die Loyalität der Bürger angewiesen, die aber immer kritischer werden. Das zwingt die Regierungen, sich das Wohlwollen der Bürger zurückzukaufen, indem sie zum Beispiel die Sozialausgaben erhöhen. Der globale Kapitalismus hat diesen Druck der Gesellschaft auf die Politik nicht geschmälert. Außerdem ist ein wachsender Wohlfahrtsstaat für die Großkonzerne nicht notwendigerweise ein Problem. Ihnen geht es um die Sicherung ihrer Vormachtsstellung, um den Zugang zu den Märkten und um öffentliche Aufträge. In den nordeuropäischen Ländern hat sich eine neue Art des Sozialkompromisses entwickelt. Der Wohlfahrtsstaat bleibt weiter umfassend bestehen, jedoch werden öffentliche Sozialleistungen zunehmend von privater Hand ausgeführt. Das ist ideal für Großkonzerne, denn die Kunden kommen dann automatisch zu ihnen, eine Vermarktung ihrer Produkte im klassischen Sinne ist nicht mehr notwendig. Das einzige, was sie benötigen, sind gute Beziehungen zu den Regierenden. Auch Obamas Gesundheitsreform war nur möglich, weil er im Gegenzug einwilligte, einen Großteil der öffentlichen Leistungen im Gesundheitssystem den privaten Anbietern zu überlassen. Das zeigt, dass es keinen Widerspruch zwischen einem starken Wohlfahrtsstaat und einem starken, globalen Kapitalismus geben muss. Vielmehr dürfte diesem befremdlichen Sozialkompromiss die Zukunft gehören.
Würde eine solche Entwicklung nicht eine weitere Erhöhung der Staatsverschuldung bedeuten?
Die Länder, die in Folge ihrer hohen Staatsverschuldung in Schwierigkeiten gerieten, sind nicht diejenigen mit den umfangreichsten Sozialsystemen. Die nordeuropäischen Länder sind allesamt sehr ausgeprägte Wohlfahrtsstaaten, aber sie haben weniger mit der Schuldenproblematik zu kämpfen als die südeuropäischen. Die Schuldenkrise resultiert also nicht aus zu umfangreichen Sozialsystemen, sondern aus der Unfähigkeit, die Bevölkerung effektiv zugunsten der Bereitstellung öffentlicher Güter und Leistungen zu besteuern.
Kann man dem Neoliberalismus zumindest zugutehalten, dass wir alle von ihm profitieren?
Das Finanzsystem des Neoliberalismus bescherte unseren Gesellschaften einen nie da gewesenen Wohlstand. Allerdings spiegelte sich darin nicht die Realität wider. Jetzt zeigt sich: Auch wenn der Neoliberalismus bestimmte ökonomische Vorteile hervorbrachte, haben diese nun einen hohen moralischen und politischen Preis für die Gesellschaft.
Ihre Thesen über die politische Einflussnahme von Großkonzernen wirken ernüchternd. Sie hinterlassen beim Leser das Gefühl völliger Machtlosigkeit.
Der erste Schritt zu einem neuen gesellschaftlichen Ansatz ist, die Situation illusionslos zu bewerten. Nur wenn die Menschen anfangen, ihre Lage zu begreifen, werden sie kritisch. Dann stellen sie Fragen und demonstrieren öffentlich ihre Unzufriedenheit, was Veränderungen bewirken kann.
Diese Dynamik scheint derzeit die Occupy-Bewegung zu entwickeln. Ist das die Art von globaler Zivilgesellschaft, die sie als vierte Kraft neben Staat, Markt und Großkonzernen verorten?
Sie ist Teil dessen, was ich in meinem Buch als „vierte moralische Kraft“ bezeichne, die die Profiteure des Neoliberalismus unter Druck setzen soll. Natürlich spreche ich dabei nicht von einer einzigen Bewegung wie Occupy. Stattdessen geht es um eine große Vielfalt verschiedener Standpunkte, die das bestehende System herausfordern und Alternativen aufzeigen. Die Occupy-Bewegung ist derzeit nur der sichtbarste Teil einer viel breiteren, aber tiefsitzenden Unzufriedenheit. Und sie hat es geschafft, wichtige Inhalte auf die politische Agenda zu setzen, die zuvor aus dem Blickfeld der Politik verschwunden waren. Themen wie soziale Ungleichheit, die Macht der Konzerne, den Einfluss der Lobbyisten werden nun wieder in einer breiteren Öffentlichkeit diskutiert. Die Bewegung zeigt, dass sich etwas Neues zusammenbraut.
Oft wird der Occupy-Bewegung vorgeworfen, sie sei strukturlos. Ist das ihre Schwäche?
Nein, ihre Besonderheit. Wir begreifen Zivilgesellschaft als eine Initiative von Bürgern, die sich nicht der Kanäle politischer Parteien bedient und zugleich außerhalb der unternehmerischen Welt agiert. Da sie Ausdruck unregelmäßiger Protestäußerungen ist, besitzt die Zivilgesellschaft per Definition keine organisatorischen Strukturen. Sie kritisiert das bestehende System von außen, statt selbst zur Komponente des Systems zu werden.
Die Parteien des linken Spektrums begrüßen Occupy, gleichzeitig scheint eine Zusammenarbeit schwierig. Sollte das für die Parteien ein Ziel sein?
Moderne Parteien, besonders die Parteien der linken Mitte müssen erkennen, dass sie nicht mehr die „eine“, unterdrückte Klasse vertreten. Ihre gesellschaftliche Basis und ihre Interessen sind mittlerweile heterogener und damit schwerer zu fassen. Bei ihrem Versuch, möglichst breite Wählerschichten zu erreichen, handeln linke Parteien deshalb reaktiv. Neuen Themen, für die keine Lobby besteht, widmen sie sich nur, wenn sie eine positive Resonanz der Wähler unterstellen. Deshalb ist die Bevölkerung in der Pflicht, ihre Zustimmung oder Unzufriedenheit in der Öffentlichkeit zu artikulieren. Politische Parteien werden diese Themen dann aufgreifen und für sie eintreten. Gleichzeitig sind die Bürgerbewegungen auch auf Parteien angewiesen. Sie brauchen sie, um ihre Ansätze in die politischen Entscheidungsprozesse einzubinden. Die Zusammenarbeit ist nicht einfach, birgt aber große Potenziale für beide Seiten.
Volksentscheide werden häufig als adäquates Instrument einer modernen Demokratie gesehen. Können sie den hohen Erwartungen gerecht werden, die ihnen gelten?
Die Identifikation mit politischen Parteien hat in modernen Demokratien deutlich abgenommen. Für eine Bindung der Bürger an das politische System bedarf es deshalb geeigneter Institutionen und Mechanismen, die die repräsentative Demokratie ergänzen, sie aber keinesfalls ersetzen können. Volksentscheide als ein solches zusätzliches Mittel sind vor allem auf lokaler Ebene sinnvoll, weil die Abstimmenden in diesem Fall direkt vom Thema betroffen und nicht so stark von überregionalen Medien beeinflusst sind. Deren Berichterstattung ist – vor allem bei Themen von ökonomischer Bedeutung – tendenziell von den Interessen ihrer Eigentümer, oft große Firmen oder reiche Individuen, geprägt.
Sie kritisieren den von Labour und der SPD eingeschlagenen „Dritten Weg“. Worin lag Ihrer Meinung nach das Problem?
Die grobe Richtung des „Dritten Wegs“ war richtig, denn die alte Vorstellung einer Sozialdemokratie, die ihre politische Kraft aus einer organisierten Arbeiterschaft zehrt, war längst überholt. Reformen waren also notwendig. Jedoch erkannten die Befürworter des „Dritten Wegs“ nicht, dass sie eine neue soziale Basis für sich aufbauen mussten. Besonders in Großbritannien wurde deutlich, dass Labour rund um Tony Blair glaubte, man könne die Finanzierung einer Volkspartei von deren Mitgliedern lösen, indem man engere Beziehungen zu Großkonzernen pflegt. Und: Obwohl New Labour vielversprechend mit proeuropäischem Kurs begann, sonderte sich die Partei letztlich von Europa ab. Jetzt ist klar, dass dieses Konzept nicht funktioniert. Die Krise stellt eine Chance für ein Umdenken der Sozialdemokraten dar. Die schwierigste Aufgabe wird dabei sein, eine neue soziale Basis zu finden, die sie unterstützt. Deshalb plädiere ich für eine starke Zivilgesellschaft, um sozialen Druck und neue soziale Ansprüche zu erzeugen. Von Parteien kann man nicht erwarten, dass sie diesen Kraftakt alleine schaffen.
Müssen sich die Sozialdemokraten dabei vom Liberalismus verabschieden?
Nein, Sozialdemokratie und Liberalismus teilen in den Grundzügen viele Gemeinsamkeiten. Im weiteren Sinne ist die Sozialdemokratie sogar als eine Form des Liberalismus zu verstehen. Der liberale Gedanke eines vollkommenen Marktes bedeutet, dass alle Marktteilnehmer im ständigen Wettbewerb miteinander stehen und kein Akteur den Wettbewerb mit seinen Produkten dauerhaft dominieren kann. Jeder muss mit der Konkurrenz leben, und anders als im Neoliberalismus gibt es keine permanenten Gewinner. Das verringert, ähnlich wie es die sozialdemokratischen Parteien wollen, wirtschaftliche und damit soziale Ungleichheit. Die Sozialdemokratie sollte sich diesen egalitären Gedanken des Liberalismus zu Eigen machen und ihn als Schlüssel zur Lösung für das Problem der Ungerechtigkeit in einer Gesellschaft nutzen.
Ein Blick nach vorne: Was wünschen sie sich für die Sozialdemokratie in Europa?
Ein großes Problem in Europa ist, dass die Bürgerrechte, vor allem der Glaube an sie, sehr stark an den jeweiligen Nationalstaat gebunden ist. Um soziale Rechte gegen den global agierenden Kapitalismus durchzusetzen ist es aber wichtig, dass die Sozialdemokraten mithelfen, die sozialen Bürgerrechte auf ein gemeinsames europäisches Level zu heben. Das war bereits die Idee von Jacques Delors, die jedoch wieder verloren ging. Vor allem, wenn sich der europäische Gerichtshof gegen nationale soziale Bürgerrechte ausspricht, führt das dazu, dass sich die Bürger von Europa distanzieren. Es ist also eine dringende Aufgabe, ein soziales Europa zu schaffen. Daher wünsche ich mir für die Sozialdemokratie in Europa, dass sie eine wahrhaft europäische Sozialdemokratie wird.
Mit oder ohne Großbritannien?
Als Brite wünsche ich mir, dass Großbritannien zum Herzstück Europas wird. Auch als Europäer erkenne ich, dass dies ein Land ist, das mit seiner Wirtschaft einiges zu Europa beitragen kann. Bedauerlicherweise haben wir oft gesehen, dass sich Großbritannien nur in Europa einbringt, um es zu schwächen. Das Problem ist, dass sich Großbritannien sehr eng verknüpft mit den Vereinigten Staaten sieht, vor allem im Finanzwesen und auf militärischer Ebene. Die Briten erliegen der Illusion, ihr Empire bestehe noch, und gemeinsam mit den Amerikanern übten sie die Rolle einer Weltmacht aus. Solange britische Politiker und ihr Umfeld in dem Glauben verharren, die britisch-amerikanische Allianz mache sie zu etwas Besonderem, glaube ich nicht, dass wir gute Europäer werden.
Herzlichen Dank für das Gespräch. «