Adieu les enfants
Was soll, was kann Sozialdemokratie am Übergang zum 21. Jahrhundert in Deutschland bedeuten? Die Diskussion über diese Frage hat die Amtszeit von Gerhard Schröder als Bundeskanzler und später als Parteivorsitzender von Anfang an begleitet. Dabei hat sich die Tonlage im Laufe der Jahre bemerkenswert verändert. Der anfängliche Überschwang, quasi en passant die deutsche Fortschreibung des Dritten Weges zustande zu bringen, der noch das Schröder-Blair-Papier vom Sommer 1999 beseelte, ist längst Sorge und Zweifel über den künftigen Kurs der SPD gewichen. Eine jüngst bekannt gewordene Analyse des Planungsstabes im Willy-Brandt-Haus attestiert einen "beispiellosen Absturz" der SPD, der keineswegs "als Ausdruck momentaner Verärgerung" der Wähler abgetan werden könne. Stattdessen, so der Befund, "manifestiert sich eine tiefe Vertrauenskrise, die sich schon in den letzten Jahren andeutete und durch den knappen Wahlsieg (bei der Bundestagswahl) noch einmal verdeckt wurde".
Auch die von großen Erwartungen begleitete Regierungserklärung des Bundeskanzlers vom 14. März hat die Ungewissheiten im Blick auf eine Standortbestimmung der deutschen Sozialdemokratie nicht beseitigt. Zum einen hat die Schröder-Rede in ihrer Ausrichtung auf die zentralen Regierungsvorhaben eine ganze Reihe für die SPD zentraler gesellschaftspolitischer Grundsatzfragen nicht thematisieren können; zum anderen sind die dort intonierten politischen Botschaften zwiespältig. Einem partiellen Rückgriff auf traditionelle keynesianische Einsichten und Instrumente im Bereich öffentlicher Investitionen stehen erhebliche Eingriffe in das soziale Sicherungssystem gegenüber, die vor allem die untere Hälfte der sozialen Pyramide schon bald neuen Risiken aussetzen werden. Mithin: Die Frage nach der Zukunft der Sozialdemokratie und ihrer Positionierung im deutschen Parteiensystem bleibt auf der Tagesordnung.
Eine Standortbestimmung, die mehr als eine flüchtige Momentaufnahme sein will, sollte für die Partei ein systematisch betriebenes Projekt sein. Dabei sollte das zukünftige Profil der Sozialdemokratie über eine Analyse dreier Bezugsgrößen bestimmt werden: Was soll für wen wie erreicht - erkämpft oder ausgehandelt - werden? Mit anderen Worten: Die Inhalte sozialdemokratischer Regierungspolitik und ihr innerer Zusammenhang müssen den Bedürfnissen, Wert- und Erwartungshorizonten der Menschen entsprechen, an die sich die SPD mit halbwegs realistischen Erfolgsaussichten wenden will, und darüber hinaus müssen die Mitglieder und Mandatsträger der Partei diese Politik mit Überzeugung und in zeitgemäßen Formen im Ringen um öffentliche Deutungshoheit zur Gestaltung des Gemeinwesens vertreten.
Was die potenziellen Anhänger erwarten
Die Grundlage jeder sinnvollen strategischen Debatte der SPD ist eine halbwegs realistische Vorstellung von der sozialen und kulturellen Befindlichkeit ihrer potenziellen Anhängerschaft und den politischen Erwartungen, die sich aus diesen sozio-kulturellen Syndromen ergeben. Die Wahlforschung und ihre benachbarten sozialwissenschaftlichen Disziplinen können dabei wertvolle Fingerzeige liefern. Nun ist die Entwicklung der SPD auch während ihres Absackens in die Krise auf das Intensivste demoskopisch begleitet worden. Umfragebefunde zur Akzeptanz des Regierungshandelns, zur Popularität und zu den Persönlichkeitsprofilen von Spitzenpolitikern und zu den Schwankungen der Wahlabsicht gehen in wöchentlichen Intervallen bei den Planungsstäben ein, immer wieder ergänzt durch Untersuchungen zu Verschiebungen in der politischen Semantik oder zur Wirkung der Medien und ihrer Botschaften auf die Wahlbevölkerung. Die Verdienste all dieser Befunde für die Entwicklung politischer Kampagnen und Wahlkämpfe sind auch unbestritten.
Langfristige Faktoren gelten als irrelevant
Mit dieser Datenflut stellen sich jedoch eine Reihe von zunächst analytischen Problemen, die - so hat es den Anschein - im Umfeld der sozialdemokratischen Führung nicht oder nicht angemessen bearbeitet worden sind. Es gilt, die vielen Informationen nach ihrer Wichtigkeit zu ordnen und in einen sinnvollen Interpretationszusammenhang zu bringen. Facetten des Kandidatenprofils, Reaktionen auf einzelne Medienauftritte oder das kurzfristige Echo auf mediale Kampagnen entfalten ihre politische Wirkung immer nur vor dem Hintergrund anderer, längerfristiger Bestimmungsfaktoren des Wahlverhaltens. Eben diese aber werden üblicherweise als nicht unmittelbar kampagnenrelevant oder als medial schlecht vermittelbar in den Umfragen zumeist nicht berücksichtigt. Sie finden sich - oft mit jahrelanger Verzögerung - in abgelegenen wissenschaftlichen Publikationen und gehen nur selten oder überhaupt nicht in die Lageanalysen der Parteizentralen ein. Auf diese Weise ist in den letzten Jahren ein Wählerbild entstanden, dem die historische und analytische Tiefenschärfe fehlt und das für den Entwurf von politischen Leitlinien nur eine höchst unvollkommene Grundlage abgibt.
Die gängigen Umfragedaten suggerieren das Bild eines Wählers, der von fortwährender Bindungslosigkeit, weitgehenden Stimmungsschwankungen und von einer Ausrichtung auf kurzfristige Reize getrieben wird. Dabei übersieht man jedoch, dass nach wie vor gut 60 Prozent der Wähler sehr wohl über eine langfristig wirksame Parteiidentifikation verfügen und dass diese gebundenen Wähler unter denjenigen, die dann auch wirklich wählen gehen, sogar einen noch größeren Anteil abgeben. Vor allem aber wird hartnäckig der Umstand verdrängt, dass die Deutschen auf der Wertebene mit großer Mehrheit und größter Beharrlichkeit an den Maßstäben sozialer Gerechtigkeit und wohlfahrtsstaatlicher Intervention und Versorgung festhalten.
Diese unerschütterliche Gerechtigkeits- und Wohlfahrtsstaatsorientierung ist umso bemerkenswerter, als die Medien und eine erdrückende Mehrheit der wirtschaftlichen und politischen Eliten seit Jahren in einer Art Dauerberieselung einen gegenteiligen Eindruck zu erwecken versuchen. In endlosen Variationen singen sie das hohe Lied des freien Leistungswettbewerbs unter ökonomisch kalkulierenden Individuen. Sie werden nicht müde, den Sozialstaat als Leistungs- und Wachstumshindernis zu diffamieren. Die deutschen Wähler sehen sich einem umfassenden Programm der reeducation ausgesetzt, das ihnen endlich ihren Gerechtigkeitssinn und ihre Erwartungen an eine ausgleichende Sozialstaatspolitik austreiben will. Bislang freilich haben diese vermeintlich so unzeitgemäßen Werte und Orientierungen alle Bekehrungsversuche weitgehend unbeschadet überstanden.
Der Wunsch nach Gerechtigkeit bleibt aktuell
Neben der unzureichenden Berücksichtigung dieser tief verwurzelten Wert- und Orientierungsmuster zeichnen sich die sozialdemokratischen Interpretationen der deutschen Wählerlandschaft durch die fälschliche Gleichsetzung von Gerechtigkeits- und Sozialstaatsorientierung einerseits und Traditionalismus andererseits aus. Nach dieser Sichtweise sind die wohlfahrtsstaatlichen Politikerwartungen an das im Zuge des sozialen Wandels abschmelzende Segment der klassischen Industriearbeiterschaft mit seiner starken gewerkschaftlichen Durchdringung gebunden und somit ein tendenziell absterbendes Phänomen. Dies ist gleich in doppelter Hinsicht fahrlässiger Unfug. Zum einen stellt die - in der Tat rückläufige - Arbeiterschaft nach wie vor ein für die SPD bedeutsames Wählersegment dar; die verheerenden Auswirkungen einer hier stark abgesunkenen Wahlbeteiligung bei den jüngsten Landtagswahlen belegen dies. Zum anderen - und wichtiger noch - ist die politische Bedeutung des Gerechtigkeitsmotivs und der Sozialstaatsorientierung eben nicht auf die klassischen "Arbeiter im blauen Anton" beschränkt. Sie schließt vielmehr ein stetig wachsendes, breites Spektrum anderer sozialer Gruppen bis weit in die Mittelschichten ein.
Das auch hierzulande unter dem Eindruck der ökonomischen Krise bekannt gewordene Schlagwort von der declining middle, einer mit Risiken und Abstiegsängsten beladenen Mittelklasse aus kleinen und mittleren Angestellten und Selbstständigen, auch im Dienstleistungssektor, verweist auf die Verbreiterung der Sozialstaatsorientierung. Mit anderen Worten: Nichts an der Struktur und an den Werthaltungen in der Wählerschaft begründet die Annahme, die Ausrichtung der SPD am Grundsatz der sozialen Gerechtigkeit und die Erhaltung eines leistungsstarken Sozialstaates seien altmodische Relikte. Sie sind im Gegenteil höchst dringliche Zukunftsaufgaben in den Augen einer breiten gesellschaftlichen Mehrheit.
Warum Parteibindung gepflegt werden muss
Man sollte in diesem Zusammenhang auch von der populären Geschichtsklitterung Abschied nehmen, die hohe Zeit der traditionellen Industriearbeiterschaft sei das goldene Zeitalter der Sozialdemokratie gewesen und die gesellschaftliche Modernisierung habe diesem goldenen Zeitalter ein Ende bereitet. Ein Blick auf die Wahlgeschichte der Weimarer Republik und der frühen Bundesrepublik belegt das Gegenteil. Erst mit dem Ausbruch aus dem sozial-moralischen Milieu des Industrieproletariats ist die SPD mehrheitsfähig geworden. Der ursprünglich in der industriellen Revolution angelegte Konflikt zwischen Kapital und Arbeit hat sich seither in Schüben verändert, und er hat dabei zugleich weitere gesellschaftliche Gruppen erfasst.
Die Industriearbeiterschaft als Kerngruppe sozialdemokratischer Politik ging seit den fünfziger Jahren in ein breites Spektrum aus gewerkschaftlich orientierten Arbeitnehmern über, und dies ist seit den neunziger Jahren zu einem Bündel aus sozialen Gruppen mit wohlfahrtsstaatlicher Orientierung mutiert. Mit jedem Schub hat sich die sozialstrukturelle Basis der Sozialdemokratie verändert, aber auch zugleich tendenziell verbreitert.
Gleichgeblieben ist jedoch von Beginn an die politische Aufgabe für die SPD, das jeweilige Potenzial mit einer überzeugenden, die sozialstrukturell angelegten Interessen und Bedürfnisse zuspitzenden Politik zu einer Handlungs- und Bewusstseinseinheit zu aggregieren. Selbst die vermeintlich so geschlossene Industriearbeiterschaft ist in Wirklichkeit keineswegs ein natürlicher Selbstläufer mit sozialistischen Neigungen gewesen. Sie entstand vielmehr im Zuge eines politischen Gestaltungsprozesses; sie wurde, wie der englische Historiker E.P. Thompson lakonisch formuliert, "gemacht". Grundlegende politische Konflikte und ein mit ihnen verknüpftes Bewusstsein müssen von Zeit zu Zeit durch aktuelle Streitfragen aufgefrischt und in der Erfahrungswelt der Wähler verankert werden; dann bleiben auch die entsprechenden Parteibindungen lebendig. Das Hochwasser im Osten bot eine derartige Aktualisierung, indem das Regierungshandeln in greifbarer Weise dem Bedürfnis nach Solidarität und staatlicher Intervention entsprach.
Kurzfristige Ausschläge bedeuten nicht viel
Bei der sozialdemokratischen Diskussion um Zukunfts- und Mehrheitschancen hat sich also eine verkürzte Sicht der Wählerschaft in den Köpfen der Parteielite festgesetzt. Kurzfristige Oszillationen im Einstellungsbereich und die erratischen, politisch noch nicht interpretierten Grenzverläufe zwischen Lebensstilgruppen verstellen den Blick auf die von breiten Mehrheiten geteilten Wert- und Grundüberzeugungen. Immer wieder wird irrtümlich das Ende der politisierten Sozialstruktur ausgerufen. Dadurch wird die strategische politische Diskussion in der SPD im Wesentlichen mit Daten unterlegt, die allenfalls für taktische Zwecke - also für Kampagnen und Wahlkämpfe - taugen. Für eine langfristige Ausrichtung der Partei bieten diese Momentaufnahmen wenig Aufschlussreiches. Ja, sie übersehen in ihrer Fixierung auf die kleinen Unterschiede den elementaren Sachverhalt der strukturellen Mehrheitsfähigkeit sozialdemokratischer Politik und tragen nicht unwesentlich zu einer eigenartigen Mischung aus Fehleinschätzungen und Mutlosigkeit in strategischen Fragen bei.
Die Unklarheit über die langfristig stabilen Werthaltungen und Interessen des sozialdemokratischen Wählerpotenzials korrespondiert mit einem gleich in mehrfacher Hinsicht fragwürdigen Politikverständnis und Politikangebot, dem die Führungsriege um Gerhard Schröder gleichwohl mit Inbrunst anhängt. Dabei lassen sich eher formale und eher sachlich-inhaltliche Probleme des sozialdemokratischen Politikangebotes der letzten Jahre unterscheiden.
In formaler Hinsicht erscheint das Gros der Schröderschen Politikvorstellungen als eine Kompilation einzelner Problemlösungsvorschläge auf den verschiedenen Politikfeldern, von der Zuwanderungs- bis zur Gesundheitspolitik. Dabei gibt das fragwürdige Bonmot Gerhard Schröders, es gebe keine sozialdemokratische, sondern nur richtige oder falsche Wirtschaftspolitik, die Tonlage und den Duktus all dieser Problemlösungsvorschläge vor. In von externen Experten und Bürokraten erstellten "policy"-Analysen und -Modellen werden allenthalben mit verwirrender Behändigkeit Optionen durchgespielt, deren innere Logik durch das allen gemeinsame Streben nach betriebswirtschaftlicher Rentabilität gekennzeichnet ist. Es ist nicht auszuschließen, dass die auf den verschiedenen Politikfeldern tätigen Expertenzirkel miteinander kommunizieren können und wissen, was sie tun.
Modellbastelei ohne politische Erdung
Freilich, in dem Augenblick, in dem dieser quirlige gesellschaftspolitische Reparaturbetrieb in das Scheinwerferlicht einer breiten politischen Öffentlichkeit gerät, werden die verheerenden Auswirkungen einer sozialtechnokratischen Modellbastelei ohne politische Erdung auf die sozialdemokratischen Anhänger offenkundig. Dabei ist der Umstand, dass kaum ein Bürger die Expertendebatten nachvollziehen und überprüfen kann, noch als das geringste Übel anzusehen; denn es gibt in allen Lagern einen historisch gewachsenen Vertrauensvorschuss, der den Parteien zunächst einmal unterstellt, im Sinne ihrer Klientel zu handeln. Mit der Auslagerung der Problemlösung auf anonyme Expertenkommissionen und der gleichzeitigen Ankündigung, auf allen Gebieten müsse gründlich umgedacht werden, wird jedoch die Möglichkeit, die Politikansätze in historisch gewachsene belief systems einzubauen, radikal eingeschränkt.
Dieser im schlechten Sinne spielerische Umgang der Bundesregierung mit Politikbereichen, die ganz wesentlich die Legitimität des politischen Systems und das politische Vertrauen der Bevölkerung in die Politik begründen, verkennt, dass die Bevölkerung politische Maßnahmen nicht in erster Linie als schlüssige Optimierungsstrategien in diesem oder jenem Politikbereich empfindet. In den Augen der Wähler erscheinen sie als Geschichten, die in ein kollektives Gedächtnis eingeordnet und vor dem Hintergrund ihrer ideologisch-politischen Stimmigkeit interpretiert werden.
Neuen politischen Lösungen zustimmen, politischen Wegweisern überhaupt folgen zu können, setzt zunächst einen Akt des Wiedererkennens und das Anknüpfen an Bewährtes und Vertrautes voraus. Eine jede Wählerschaft, und natürlich auch jene der vermeintlichen Situationswähler in Deutschland, verfügt über ein reichhaltiges Arsenal an ideologischen und ethischen Maßstäben, um das aktuelle politische Geschehen in diesem auch normativ-historischen Sinne einordnen zu können. Die Regierung Schröder hat sich mit ihrem auf extern produzierte, hin und her ventilierte "policy"-Modelle ausgerichteten Stil über diese wahlsoziologische Binsenweisheit hinweggesetzt und die pädagogische Dimension des Regierens sträflich vernachlässigt. In der schwersten ökonomischen Krise Deutschlands hat sie allein durch die formale Struktur des von ihr betriebenen Diskurses maßgeblich zur Verwirrung beigetragen. Sie hat durch den Verzicht, das eklektische Bukett ihrer Politikangebote an den historisch gewachsenen Erwartungen ihrer Anhänger zu messen, in erheblichem Maße Verunsicherung und Zynismus befördert.
Fatale Anleihen im Arsenal des Gegners
Die formale Struktur des politischen Diskurses wäre jedoch zweifellos weniger ins Gewicht gefallen, hätte die Regierung nicht gleichzeitig auf wichtigen Gebieten Anleihen im politisch-ideologischen Arsenal des politischen Gegners gemacht und sich von den eigenen Traditionen abgekehrt. Dies erzeugt auf drei Feldern einen deutlichen Bruch mit dem traditionellen sozialdemokratischen Politikverständnis. Zum ersten hat die SPD unter Gerhard Schröder die systematische Ökonomisierung des Politischen nicht nur hingenommen, sondern zum Essential ihrer Politik für eine fiktive "Deutschland AG" gemacht. Damit hat sie sich zum Entzücken von Union und Liberalen auf ein Gefechtsfeld locken lassen, auf dem sie dem wirtschafts- und gesellschaftspolitischen Trommelfeuer der Oppositionsparteien und den diesen nahestehenden Verbänden und Medien weitgehend hilflos ausgeliefert ist. Von FAZ bis FDP, von Merz bis Miegel, aber eben auch in wesentlichen Bereichen der SPD-Führung ist die Ausrichtung der Politik auf möglichst günstige Bedingungen für das Unternehmertum das grundlegende Axiom der Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik geworden.
So ruhen die Hoffnungen der SPD-Regierung auf der Dynamik der Unternehmerschaft. Sozialstaat, Gewerkschaften und Arbeitnehmer gelten in diesem Politikmodell als dysfunktionale, fossile Relikte, die es auf die Erfordernisse der Unternehmen zu trimmen gilt. Dass freilich die solchermaßen in eine Schlüsselrolle beförderten Unternehmer die verbesserten Bedingungen eventuell nicht zum Wohle aller einsetzen könnten, weil sie mit ihren Kapitalien in spekulativen Bereichen höhere Renditen erzielen, weil sie selbst die günstige Lage zu einem strategischen roll back gegen die Gewerkschaften nützen wollen oder weil sie sich gar - wie es Martin Wiener für England festgestellt hat - in einem "sozio-kulturellen Formtief" befinden und selbst als soziale Gruppe den Anforderungen einer veränderten Wirtschaftslage nicht gewachsen sind - all diese für eine sozialdemokratische Partei ja nicht so abwegigen Fragen fallen dem Axiom von der Schlüsselrolle der Unternehmerschaft zum Opfer.
Der Sozialstaat muss Markenkern bleiben
Zweitens bedeutet der Rückbau des Sozialstaats einen Bruch mit den sozialdemokratischen Traditionen, der in seiner lähmenden Wirkung auf die Anhängerschaft der Sozialdemokratie nicht zu überschätzen ist und den auch die euphemistische Rhetorik der Bundesregierung und der SPD-Spitze von einer neuen Etappe sozialdemokratischer Politik nicht übertönen kann. Der Aufbau eines leistungsstarken Staates, der ausgleichend und fördernd in die gesellschaftliche und wirtschaftliche Entwicklung eingreift, deren Risiken abmildert und Ungleichheiten korrigiert, ist der historisch gewachsene Markenkern der Sozialdemokratie. Dieser Markenkern wird seit einigen Jahren auf breiter Front attackiert. Auf den Feldern der Alters-, Kranken- und Arbeitslosenversorgung stehen nicht nur Leistungskürzungen an, die zu Lasten vor allem der einkommens- und vermögensschwachen Gruppen in der Bevölkerung gehen werden. Diese Kürzungen werden auch wesentlich durch das Ziel wachsender unternehmerischer Freiräume legitimiert. Der zum Teil erhebliche Beifall aus Wirtschaftskreisen und den Reihen der Opposition hätte noch vor kurzem einen jeden Sozialdemokraten stutzig gemacht.
Hinzu kommt, dass unter den mittlerweile gegebenen Mehrheitsverhältnissen im Bundesrat die politischen Vorhaben des Kanzlers mit ehernen Ketten an die Kooperationsbereitschaft der Union geschmiedet sind. Aus der Sicht der CDU bedeutet dies aber: Man hat die Regierung nunmehr auf zentralen Politikfeldern im Schwitzkasten und wird alles daran setzten, dies auch öffentlich vorzuführen. Vieles spricht also für die jüngst veröffentlichte These des Politologen Martin Seeleib-Kaiser, nach der anstelle einer neuen sozialdemokratischen Reformära eine spürbare Christdemokratisierung sowohl in der gesellschaftspolitischen Sache als auch hinsichtlich der medialen Begleitmusik auf die Bundesrepublik zukommt.
Warum nicht Bildung als Offensivprojekt?
Drittens schließlich belegt das Fehlen eines gesellschaftspolitischen Offensivprojekts, das den Rückbau des Wohlfahrtsstaats gewissermaßen an einem anderen Frontabschnitt kompensieren und als glaubhafte Inszenierung einer zeitgemäßen sozialen Gerechtigkeit dienen könnte, den problematischen Zuschnitt des gegenwärtigen sozialdemokratischen Politikangebots. Dabei verweisen eine ganze Reihe von Untersuchungen, die Shell-Studie von 2002, die PISA-Studie und der von der Bundesregierung selbst veröffentlichte Armuts- und Reichtumsbericht gleichermaßen auf ein gesellschaftliches Skandalon, das jede sozialdemokratische Regierung unverzüglich auf den Plan rufen müsste: Die stetige Ausweitung einer Kluft zwischen Oben und Unten, zwischen sozialen Gruppen mit guten Lebensperspektiven und solchen mit schlechten oder gar keinen. Der amerikanische Soziologe Richard Sennett hat es treffend auf eine knappe Formel gebracht: "Das wirklich Überraschende an den neuen Formen des Kapitalismus ist die Art, wie er ... Ungleichheit erzeugt".
Dieser Riss durch die deutsche Gesellschaft manifestiert sich am sichtbarsten im Bildungswesen; er führt zu politischer Entfremdung und Apathie bei den Jüngeren in den unteren sozialen Gruppen; und er wird sich auf andere Lebens- und Gesellschaftsfelder ausbreiten. Die wachsende Kluft mit ihren vielfältigen Auswirkungen in alle gesellschaftlichen Bereiche hinein zu thematisieren und durch einen auf Gerechtigkeit ausgelegten Bildungsdiskurs politisch anzugehen, eröffnet für die SPD die Chance, ein genuin sozialdemokratisches Projekt jenseits der Klischees des 19. und 20. Jahrhunderts auf den Weg zu bringen. Dabei werden interessante gesellschaftliche Bündnisse entstehen können, etwa mit Teilen der Wirtschaft, mit den Kirchen und den hier zunehmend sensibilisierten Gewerkschaften, die allen Bündnispartnern zugleich auch die Möglichkeit eröffnen, ihre eigenen, historisch gewachsenen Rollenmuster zu überwinden. Dass bildungspolitische Initiativen die Eigentümlichkeiten des deutschen Föderalismus im Auge behalten müssen, mag bisweilen mühsam sein, bietet aber auch Möglichkeiten zum beispielhaften Experimentieren. Die SPD hat sich auf diesem Zukunftsfeld ängstlich zurückgehalten und vor allem die gesellschaftspolitische Dimension von Bildung allenfalls sporadisch angesprochen. Damit ist bislang eine große Chance ungenutzt geblieben.
Wenn der Aufbruch zum Kulturbruch wird
Bezieht man nun das hier skizzierte Politikangebot der SPD auf die sozialdemokratischen Potenziale in der Wählerschaft, so tritt ein hohes Maß an Inkongruenz zu Tage. Mit seiner formalen Struktur einer Vielzahl immer wieder neu drapierter "policy"-Modelle, der axiomatischen Ausrichtung an ökonomischen Prioritäten, dem Rückbau des wohlfahrtsstaatlichen Markenkerns und dem Fehlen eines zukunftsweisenden sozialdemokratischen Projekts werden inmitten einer schweren ökonomischen Krise die Erwartungen und Deutungsmuster sowohl der traditionellen Anhänger der Sozialdemokratie als auch das breite Spektrum neuer Befürworter wohlfahrtsstaatlicher Politik verfehlt. In ihrer Summe vermitteln die Politikangebote somit weit eher den Eindruck eines gouvernemental verfügten "Kulturbruchs" im Sinne der Max Weberschen Kategorie der "Kulturbedeutung" als das Bild eines zukunfts-trächtigen Aufbruchs.
Die Sozialdemokratie trocknet von unten aus
Damit rückt als dritte bedeutsame Größe für die Standortbestimmung die SPD als Partei mit ihren Mitgliedern und Organisationsstrukturen in den Mittelpunkt; denn politische Kurswechsel sind immer zugleich auch Herausforderungen an die Identifikationsbereitschaft und Kampfkraft der Partei als sozialer Organismus. Die SPD als immer noch große Mitgliederpartei ist in keiner guten Verfassung. Ein anhaltender Mitgliederrückgang, eine immer stärkere Überalterung und dramatische Rekrutierungsprobleme in Ostdeutschland zehren an der Kampagnenfähigkeit der Partei - ein Schicksal, mit dem übrigens nicht nur die Sozialdemokraten zu kämpfen haben.
Die Klagen über die Auszehrung der Partei und ihre nachlassenden Kräfte sind nicht neu. Seit gut zwanzig Jahren zeichnen sich die Krisensymptome ab, freilich ohne dass in diesem Zeitraum nennenswerte Anstrengungen zu ihrer Überwindung unternommen worden wären. Oder, um es etwas zugespitzt zu bilanzieren: Im Blick auf die Modernisierung der Partei waren die sogenannten "Enkel" eine ziemliche Katastrophe. Allein das unter Björn Engholm begonnene Projekt "SPD 2000" und der von Bundesgeschäftsführer Matthias Machnig propagierte Versuch einer "Netzwerkpartei" verdienen Erwähnung. Das Projekt "SPD 2000" versickerte mit dem Ende von Engholms Parteivorsitz; auf die "Netzwerkpartei" wird noch einzugehen sein.
Die in den meisten Wahlen der letzten Jahre erkennbaren Schwierigkeiten der SPD, kraftvolle Kampagnen durchzuführen, gehen im wesentlichen auf drei Ursachen zurück. Zunächst ist durch das Festhalten an dem überkommenen Konzept einer möglichst lebenslangen, formalisierten Mitgliedschaft die Einbeziehung anderer, neuer politischer Aktivitäts- und Teilhabepotenziale versäumt worden. Die SPD trocknet gewissermaßen von unten aus, obgleich daneben auf allen gesellschaftlichen Feldern ein überaus reges bürgerschaftliches Treiben herrscht. Ironischerweise hat Gerhard Schröder selbst in einem höchst lesenswerten Beitrag auf die strategische Bedeutung des bürgergesellschaftlichen Faktors hingewiesen. Und auch die einschlägige Enquetekommission liefert entsprechende, bislang jedoch nicht berücksichtigte Hinweise. Mit einer Erweiterung des Mitgliederbegriffs auf die eher kampagnenorientierten, zeitlich knapp kalkulierenden Aktivbürger und einer gleichzeitigen Erweiterung innerparteilicher Mitbestimmungsmöglichkeiten vor allem auch im Hinblick auf das Führungspersonal könnte man neue, motivierte Parteiaktivisten rekrutieren. Zugleich schlösse man die wachsende Kluft zwischen einer immer stärker von der schmalen Parteielite und ihren Machtinteressen geprägten innerparteilichen politischen Kultur und den Partizipationsmaßstäben und Aktivitätsmustern im gesellschaftlichen Umfeld.
Was mit Professionalisierung nicht gelingt
Eine zweite Ursache für die unzureichende gesellschaftliche und politische Wirkungskraft der Partei liegt in der vorrangigen Konzentration auf eine Professionalisierung zu Kampagnenzwecken an der Parteispitze. Mit dem Hinweis auf die neuen Zwänge der Berliner Mediendemokratie und auf Erfahrungen vorwiegend aus amerikanischen Präsidentschaftswahlkämpfen hat vor allem der kürzlich aus dem Amt ausgeschiedene Bundesgeschäftsführer Machnig eine Strategie rigoros dirigistischer und hochprofessionalisierter Kampagnenorientierung verfochten und auf wichtigen Feldern durchgesetzt. Sein Konzept der "Netzwerkpartei" setzte überdies auf ein System von SPD-nahen Experten und Multiplikatoren, die im Bedarfsfall die Partei mit ihrem Wissen und ihrer Popularität unterstützen sollten. Machnigs Verdienste um den Aufbau einer schlagkräftigen Kampagnenorganisation sollen hier nicht in Frage gestellt werden. Dennoch beruht die These von der Professionalisierungs- und Medienorientierung auf fragwürdigen Annahmen.
Der mediale Resonanzboden, den es danach zu bearbeiten gilt und von dem aus die politischen Botschaften in die Bevölkerung transportiert werden sollen, existiert nur auf der Bundesebene, und auch hier funktioniert er nur unvollkommen und unkontrollierbar. Die Darlegung politischer Leitlinien oder Korrekturen an unerwünschten medialen Botschaften sind mittels kommerzieller Kommunikation nur zu ruinösen Kosten zu erzielen. Schon auf der für die Bundesrepublik so bedeutsamen Länderebene funktioniert das Modell nicht mehr; denn die Medien spielen ihre Rolle als Verstärker nicht mit. Die Landespolitik wird stets nur stiefmütterlich und am Rande abgehandelt. Eine Kompensation durch gekaufte Kommunikation ist hier wegen chronisch knapper Kassen nicht möglich. Auf der Bundesebene, vor allem aber in den Ländern und Kommunen ist deshalb eine zahlenstarke und aktive Anhängerschaft für den Erfolg von Kampagnen unverzichtbar - auch in der Mediendemokratie.
Dies gilt im Übrigen auch für das Vorbild der Vereinigten Staaten, in denen Abertausende von freiwilligen Helfern und Aktivisten in jedem Wahlkampf als Multiplikatoren nach den klassischen Regeln des "two-step flow of communication" politische Botschaften in gesellschaftlichen Umfeldern verankern. Sie bilden, wie es der amerikanische Politologe Theodore Lowi einmal formuliert hat, die "Infanterie im Wahlkampf" und sind eine unverzichtbare Ergänzung zur professionellen schweren Artillerie der medialen Kampagnen. Eine Modernisierung der SPD als Organisation hätte so zuvörderst die Integration eines breiten Spektrums von Aktivisten in die Partei zu bewerkstelligen.
Eine dritte Ursache für die Formschwäche der SPD liegt schließlich in dem Umstand, dass es in der Partei seit der Vereinigung Deutschlands keinen Diskurs über die politische Substanz und die Perspektiven der Sozialdemokratie gegeben hat. Während in nahezu allen sozialdemokratischen Parteien des Westens während der vergangenen beiden Jahrzehnte eine intensive programmatische Standortbestimmung stattgefunden hat, ist es in Deutschland dazu nicht gekommen. Eine schnelle Abfolge von Wechseln an der Parteispitze, sowie die vermeintlichen Zwänge zu Geschlossenheit in der ewigen Sequenz von Landtagswahlen und - nach 1998 - die Appelle, die Regierung Gerhard Schröders nicht noch mehr ins Schleudern zu bringen, haben eine ernsthafte programmatische Debatte über die Eckpfeiler der sozialdemokratischen Identität verhindert. Die Folge ist eine gewissermaßen grundsätzliche Rat- und Sprachlosigkeit der Partei, die auch durch noch so professionell aufbereitete, bunte Themen und Sprechkärtchen im Wahlkampf nicht beseitigt werden kann. Gerade die Bekennerfreudigkeit, mit der sich viele, auch ältere Sozialdemokraten Seite an Seite mit Gewerkschaften und Jugendlichen in die Front der Gegner des Kriegs gegen den Irak eingereiht haben, belegt die Erleichterung der Genossinnen und Genossen, endlich wieder einmal auf vertrautem und sicherem Terrain operieren zu können. Diese Erleichterung steht in krassem Gegensatz zu der bedrückenden Sprachlosigkeit, mit der die Wirtschafts- und Sozialpolitik der Regierung während der vergangenen Wochen quittiert worden ist.
Die Verunsicherung der Aktivisten
Fassen wir zusammen: Zu der offenkundigen Diskrepanz von politischem Angebot und politischer Nachfrage gesellen sich Schwäche und Verunsicherung der Partei als soziale Organisation. Gerade aber die SPD und die Aktivisten aus ihrem Umfeld spielen als sozialmoralische Instanz bei dem Versuch, ein sozialdemokratisches Politikangebot in der Gesellschaft zu popularisieren, eine Schlüsselrolle.
Die Entwicklungen auf den hier knapp skizzierten Problemfeldern konkretisieren zunächst die Dramatik der Lage, in der sich die SPD befindet. Der Absturz seit der Bundestagswahl erscheint danach in der Tat nicht als kurzfristige Formschwäche, sondern als vorläufiger Endpunkt eines sich immer deutlicher ausprägenden Krisensyndroms, dessen lähmende Wirkung in der Vergangenheit nur durch einige unvorhersehbare Ausnahmesituationen wie den CDU-Spendenskandal oder das Hochwasser in Ostdeutschland suspendiert worden ist.
Die SPD vor der sozial-libertären Wende
Den harten Kern der Krise bildet die Inkompatibilität von Politikangebot der Regierung und Politiknachfrage des sozialdemokratischen Wählerpotenzials. Indem sie sich das Reformprogramm Gerhard Schröders zu eigen macht, verändert die SPD die Wettbewerbsstruktur, die über Jahrzehnte für das deutsche Parteiensystem gegolten hat. Die Sozialdemokraten verschieben ihr ideologisch-politisches Zentrum von einer gerechtigkeits- und kollektivorientierten Staatspolitik hin zu mehr Marktfreiheit, stärkerer individueller Risikobelastung und einer Rücknahme der Staatsinterventionen. Als sozial-libertäre Partei rückt die SPD damit von den sozialen Gruppen ab, die von der Partei in erster Linie sozialstaatliche Absicherung und Kompensation für mangelnde eigene sozio-ökonomische Ressourcen erwarteten. Mit diesem ideologischen Schwenk der SPD wird erstmals in der deutschen Parteigeschichte ein breit gefächertes, aber gleichwohl über die Jahre anwachsendes Segment der Gesellschaft nicht mehr parteipolitisch repräsentiert, sieht man von der auf den Osten beschränkten Senderrolle der PDS ab. Die SPD begibt sich gegenüber diesen Gruppen in die Rolle des - im Vergleich zur Union - geringeren Übels.
Die Konkurrenz zwischen den Parteien des Regierungslagers und den Oppositionsparteien nimmt auf diese Weise wesentliche Züge des amerikanischen Parteienwettbewerbs an. Auch in den Vereinigten Staaten stehen sich mit den Demokraten und Republikanern ein sozial-libertäres und ein neoliberal-autoritäres Lager gegenüber. Es gibt allerdings zwei wesentliche Unterschiede zwischen den amerikanischen Demokraten und der SPD. Während sich zum einen die Demokraten seit der Ära des New Deal in Schüben auf eine wohlfahrtsstaatliche Position hin bewegt haben und damit einer wachsenden Nachfrage in ihrem Wählerpotenzial entsprechen, verläuft die ideologische Entwicklung der deutschen SPD umgekehrt: Sie gibt die Orientierung am Sozialstaat in wichtigen Bereichen preis und entfernt sich damit von ihrer potenziellen Klientel. Ein zweiter Unterschied liegt in der gesellschaftlich verwurzelten Kampagnenfähigkeit. Hier gebieten die amerikanischen Demokratien über ein nach wie vor eng verwobenes und funktionstüchtiges Netzwerk von Anhängern, das sie bei halbwegs normalem Verlauf von Wahlkämpfen stets in die Nähe der Mehrheit bringt. Die SPD hingegen verfügt aufgrund der Versäumnisse der letzten Jahrzehnte über kein gesellschaftlich mobilisierbares Unterstützungspotenzial, das ihr mit pädagogischem Eifer bei der Werbung für die Schröder-Linie und der Mobilisierung ihrer vormaligen Anhängerschaft behilflich sein könnte.
Was ist, wenn das Wachstum ausbleibt?
Welche Erwartungen für die zukünftigen Entwicklungen des Parteienwettbewerbs lassen sich aus der gegenwärtigen Lage der SPD ableiten? Mit dem Reformprogramm der Schröder-Rede beschleunigt und intensiviert die SPD einen Kurs, der ihr seit 1999 eine Reihe schwerer Verluste eingebracht hat. Die Hoffnungen der SPD-Spitze bei dieser Flucht nach vorn ruhen auf einem baldigen Wachstumsschub, der sich nicht als jobless growth erweist und die staatlichen Finanzen konsolidiert. Dies werde dann auch wieder die Wähler hinter dem SPD-Banner versammeln. In diesem Kalkül stecken Unwägbarkeiten. Wird die deutsche Wirtschaft einen zügigen Aufschwung mit nennenswerten Entlastungen für den Arbeitsmarkt zu Wege bringen? Wird das Reformprogramm in der Öffentlichkeit dann als sozialdemokratisches oder christdemokratisches Projekt wahrgenommen werden? Und schließlich: Werden die vormaligen sozialdemokratischen Wähler bei einem wirtschaftlichen Umschwung ihre derzeitige Distanz zur SPD aufgeben? Die Aussichten, dass sich diese Fragen zu Gunsten der SPD auflösen werden, sind nicht gut. Vieles spricht dafür, dass die Serie der Niederlagen in den kommenden Landtagswahlen und das Tief in den Umfragen anhalten werden, weil das Politikangebot Gerhard Schröders dem sozialdemokratischen Wählerpotenzial nicht vermittelt werden kann. Dann wird man sehen, wie viele schwere Treffer der Tanker SPD noch aushält.
Die SPD vor ihrer größten Debatte
Freilich, die SPD sollte sich mit Blick auf ihre ehrwürdige Geschichte nicht in eine Lage treiben lassen, der die Legitimation durch sorgfältige Reflexion und einen darauf gründenden aktiven Konsens fehlt. Deshalb sollte die Partei während der kommenden Monate und im Lichte der politischen Entwicklung die hier umrissenen Themenfelder systematisch - gewissermaßen als nachholender oder begleitender Diskurs - diskutieren. Will sie nicht auf Dauer von der zitternden Hand im Mund leben, braucht die SPD eine Vorstellung von der Substanz und den Perspektiven sozialdemokratischer Politik, die über den Katalog der Schröderschen Reformrede hinaus reicht. Ob sich die SPD dann den von oben inszenierten "Kulturbruch" hin zu einer "neuen", sozial-libertären Linie zu eigen macht oder ob sie stattdessen ihre Traditionen als eine auf Korrekturen sozio-ökonomischer Ungleichheiten ausgerichteten Partei ins 21. Jahrhundert fortschreiben will, dies sollte sie auch in schwierigen Zeiten ihren zahlreichen alten und weniger zahlreichen neuen Anhängern deutlich machen. Wenigstens dies.