Alle Dämme sind gebrochen

Auf der einen Seite ein zum Aussitzen seiner Affäre fest entschlossener Präsident, auf der anderen ein machtbesessener Medienzirkus, der den Sturz des höchsten Verfassungsorgans als ultimativen Erfolgsausweis begreift - die politische Innenausstattung der Bundesrepublik befindet sich in keinem guten Zustand

Noch ist er da. Zumindest im Januar 2012 ist Christian Wulff nicht zurückgetreten. Und ob er es jemals tun wird, steht in den Sternen. Der schwer angeschlagene Präsident hat sich aufs Durchhalten verlegt. Insofern kann hier nur eine Zwischenbilanz gezogen werden. Eine Zwischenbilanz freilich, die täglich unappetitlicher wird angesichts immer neuer Enthüllungen und Pseudo-Enthüllungen über Amtsverständnis und Amtsführung des Bundespräsidenten.

Christian Wulff wurde in den vergangenen Wochen gewogen und als zu leicht für sein Amt befunden. Dass er als höchster Repräsentant unseres Staates überfordert sein würde, hatten manche schon vor seiner Nominierung vermutet. In den langen Monaten seit Juni 2010, in denen er im Amt war, ohne wie ein Amtsinhaber zu agieren, wurde dies auch einer breiteren Öffentlichkeit deutlich. Sein katastrophal ungeschicktes Agieren in jener Krise, die der Bundespräsident ohne äußere Not von einer Kredit- zu einer Medien- und schließlich zu einer Niedersachsen-Affäre ausweitete, hat ihn schließlich auch die Unterstützung weiter Teile des eigenen Lagers gekostet.

Was Stück für Stück nach außen dringt, wirft kein gutes Licht auf den Hausherrn von Schloss Bellevue und seine Entourage. Es entsteht das Sittengemälde einer intellektuell und politisch vollkommen anspruchslosen Bussi-Bussi-Kultur, in der es um Gefälligkeiten vom Bobby-Car bis zum Kochbuch geht, die zwar bereits jede für sich genommen dem Amt eines Minister- oder gar Bundespräsidenten unangemessen wirken, aber erst in der Gesamtschau das Bild eines Abhängigkeitsnetzwerks entstehen lassen. Gleichzeitig werfen diese Verstrickungen ein Schlaglicht auf die innere Verfasstheit eines Teils des politischen Personals: Christian Wulff ist der Prototyp des an Selbstbewusststein armen und devot agierenden Politikers, der sogar als Inhaber höchster Staatsämter auf Anerkennung durch und Kumpelei mit undurchsichtigen Unternehmertypen und lobhudelnden Boulevardmedien angewiesen ist. Inhalte werden in einem solchen Setting komplett von Stilfragen überlagert. Selbst Sätze, die dem Bundespräsidenten einst Sympathie eingebracht haben – wie jener, dass auch der Islam zu Deutschland gehört – verblassen vor diesem Hintergrund, weil man plötzlich ahnt, sie könnten bloß als banale Allgemeinplätze gemeint gewesen sein.

Genervtheit macht sich breit

Zur devoten Grundhaltung, Politik letztlich nur als Vernetzungsinstanz zwischen anderen Machteliten zu begreifen, passt Wulffs neue Verteidigungsstrategie. Seit einigen Wochen spielt der Bundespräsident die verfolgte Unschuld, der das vielfältige Netzwerken außer Kontrolle geraten ist. Er versucht sich als jemand darzustellen, der ein wenig trottelig und weltfremd in all die kleinen und großen Versuchungen hineingerutscht ist, die sich links und rechts der Wegstrecke boten. „Naivität mit menschlichem Antlitz“ hat Lorenz Maroldt diese Verteidigungslinie des Präsidenten im Tagesspiegel treffend genannt. Ob sie halten wird, ist offen. Nicht unbedingt deswegen, weil noch substanziell neue Enthüllungen aus der Schnäppchenjägerwelt der oberen Zehntausend zu erwarten sind, sondern eher, weil sich allgemeine Genervtheit breit macht angesichts immer neuer Hotelzimmer und Galadinners des Präsidenten.

Zum Überdruss satt hat man Wulffs verdruckste Larifari-Entschuldigungen und die Salami-Taktik, immer gerade das zuzugeben und zu bedauern, was sich ohnehin nicht mehr von der Hand weisen lässt. Larmoyanz und beinahe grenzenlose Nachsicht mit sich selbst – so lässt sich Wulffs Haltung beschreiben. Wo es konkret wird, gibt es plötzlich keinen handelnden und Entscheidungen treffenden Menschen Christian Wulff mehr – zumindest nicht aus Sicht des amtierenden Bundespräsidenten, der sich dann stets in ein überpersönliches „man“ flüchtet, wo er doch „ich“ sagen müsste. Wulff ist der oberste Inhaber des Gnadenrechts in Deutschland und begnadigt sich täglich selbst aufs Neue. Das ist besonders schmerzhaft, weil er, wenn es um andere ging, stets den unerbittlichen Saubermann gegeben hat. Zum Beispiel als Johannes Rau wegen seiner Flüge in die Kritik geriet. Oder als Wulff tatkräftig dazu beitrug, den niedersächsischen Kurzzeit-MP Gerhard Glogowski aus dem Amt zu drängen, der schließlich wegen ein paar gesponserter Kästen Bier zurücktreten musste.

Das ist die eine Seite der Geschichte: ein Bundespräsident, der sich starrsinnig weigert, seine Fehler anzuerkennen und fest zum Aussitzen der Affäre entschlossen ist. Wulff hofft dabei – ähnlich wie Horst Köhler – auf eine Öffentlichkeit, die seine Fehler als „allzumenschliche Schwächen“ verzeiht und ihm Rückhalt gegen die politische Klasse und die Medien gibt, die darauf drängen, dass sich auch (und gerade) der Bundespräsident an die Regeln hält. Geht es nach Wulff, geht die Geschichte weiter wie folgt: Der Bundespräsident hält den „Stahlgewittern“ wacker stand, nach einem Jahr ist „alles vergessen“, und am Ende der Amtszeit „wird Bilanz gezogen“. Diese lautet dann, dass der zehnte Bundespräsident das Land „offener und moderner“ gemacht hat.

Ob dieses Szenario eintritt, ist ungewiss. Denn zur anderen Seite der Geschichte gehören die Medien. Und die attackieren Wulff mit einer Aggressivität, wie man sie in der Geschichte der Bundesrepublik selten und mit Blick auf das höchste Staatsamt noch nie erlebt hat. Zu besichtigen ist eine gänzlich neue Gefechtsformation: Große Teile der Medien halten Wulff schon seit Wochen für sturmreif – doch der erwartete Rücktritt bleibt aus. Der Bundespräsident verharrt in seinem Schloss und hofft, dass das Gewitter doch noch abzieht.

Abbruch wegen allseitiger Erschöpfung

So entsteht eine vorerst unauflösbare Pattsituation, nicht nur in der Bevölkerung (im Januar waren 46 Prozent der Deutschen für einen Rücktritt Wulffs, 45 Prozent dagegen), sondern auch in der Beziehung des Bundespräsidenten zur Presse. Immer neue Enthüllungen beschädigen zwar täglich das Image des Präsidenten, doch inzwischen verweist die Kampagne auch auf die Medien selbst zurück. Die verbissene Kritik am Bundespräsidenten quer durch alle Lager der Medienlandschaft will auch dann nicht nachlassen, wenn wirklich bis zum Überdruss alles gesagt ist. Wulffs anfängliche Unfähigkeit, Transparenz herzustellen, schlägt langsam in eine unbeantwortbare Generalkritik um: Der Präsident kann gar keine sachdienlichen Antworten mehr geben, weil mittlerweile so ziemlich jeder Aspekt seiner Amtsführung als Ministerpräsident in Frage gestellt ist. So werden aus Recherchen Kampagnen. In dem Maße, in dem Wulff einfach auf seinem Stuhl sitzen bleibt, reizt er die Medien immer mehr. Vergleichbar ist die Situation mit dem erstmaligen Einsatz moderner Panzerschiffe im amerikanischen Bürgerkrieg: Dort lieferten sich die beiden Kreuzer USS Monitor und CSS Virginia ein stundenlanges Passiergefecht mit etlichen Treffern auf beiden Seiten, ohne dass eines der Schiffe in der Lage gewesen wäre, den Sieg zu erringen. Irgendwann musste der Kampf ergebnislos abgebrochen werden.

Die Frage ist, ob auch der Kampf zwischen den Medien und Wulff irgendwann ergebnislos abgebrochen wird. Denn die Intention von großen Teilen der Medien ist eindeutig: Als Preis für ihre unzweifelhaft beachtenswerten Recherchen fordern sie den Kopf des Bundespräsidenten. Am Ende einer so beispiellosen Enthüllungsserie kann nach normaler bundesrepublikanischer Logik nur ein Rücktritt des Amtsinhabers stehen. Genau hierin liegt der kardinale Fehler des Medienhandelns in der ansonsten ja legitimen Auseinandersetzung mit dem bizarren privaten Gebaren des Bundespräsidenten: Der Rücktritt ist unausgesprochen das ultimative Ziel, die finale Belohnung und Bestätigung für die Effizienz und Legitimität des eigenen Handelns. Er wird damit zum Gradmesser ihres Erfolges. Entsprechend geht es nicht mehr notwendig um Wahrheit, sondern primär um Macht. Und genau hier wird die Sache demokratietheoretisch höchst problematisch.

Es darf nicht das Ziel der Medien sein, einen Rücktritt zu erzwingen, denn diese Frage muss von der Politik selbst oder vom Volk entschieden werden, nicht von Journalisten, die sich zu Richtern aufschwingen. Der Politiker-Rücktritt als wichtigster Erfolgsausweis einer kritisch und unabhängig arbeitenden Presse ist das problematische Erbe der Spiegel-Affäre von 1962, die ja so etwas wie die Geburtsstunde der bundesdeutschen Pressefreiheit war, und an deren Ende der Rücktritt des gesamten Kabinetts stand. Auch wenn alle Kabinettsmitglieder mit Ausnahme von Minister Franz Josef Strauß gleich darauf wiederernannt wurden, war dieser kollektive Rücktritt das höchste Maß an Macht, das der deutsche Journalismus je ausgeübt hat.

Man darf das gegenwärtige Medienhandeln gegenüber dem Bundespräsidenten mit Fug und Recht als Kampagne bezeichnen, denn es ist eine klare Kampfansage, die einflussreiche Teile der Medien dem höchsten Verfassungsorgan des Landes gemacht haben. Die Bild-Zeitung hat schon deswegen Macht über den Bundespräsidenten, weil die Chefredaktion der Zeitung genau weiß, was Wulff in welcher Tonlage auf die Mailbox von Kai Diekmann gesprochen hat, während Wulff sich auf seine Erinnerung verlassen muss. Passiv muss der Bundespräsident zusehen, wie immer neue Details ans Licht gezerrt werden. Der – teilweise mehr als respektlose – Umgang vieler Medien mit dem Amtsinhaber fügt sich dabei in den Generalkontext einer Medienkultur, die immer mehr von Entkontextualisierung, Kleinteiligkeit und spontanen Stimmungswogen geleitet wird. Erregungszustände ohne wirklichen Rückbezug zum eigentlichen Geschehen werden zum Normalfall, Klatsch und Gerüchte stellen eine ernstzunehmende journalistische Ware da. Konsistenz wird immer unwichtiger, der Skandal selbst zur Erfolgsbedingung.

Warum es jetzt langsam brenzlig wird

Das aber bedeutet: Die nur vermeintlich zutreffende Vereinfachung, die kühn vorgenommene Vereindeutigung, die Popularisierung und Personalisierung eines Themas unter Ausblendung der dahinter stehenden komplexen Strukturen und Akteurskonstellationen funktionieren auch im Fall Wulff als leitende Parameter der Berichterstattung. Die Konkurrenz um Aufmerksamkeit verschärft sich unter den Bedingungen der digitalen Revolution zusehends.

Die Schärfe der Berichterstattung ist auch darauf zurückzuführen, dass sich in Blogs und Foren des Internets der ungehemmte Volkszorn über den Bundespräsidenten ergießt, der dann wiederum den gedruckten Medien und dem Fernsehen (wenn auch in abgemilderter Form) den Ton vorgibt. Vieles, was der niedersächsischen Landesregierung unter Wulff heute zur Last gelegt wird und die Schlagzeilen bestimmt, hat nur den Charakter mittelgroßer Regelabweichungen, die normalerweise ohne große mediale Aufmerksamkeit im Parlament moniert und anschließend bereinigt werden.

Im Fall Wulff aber sind alle Dämme gebrochen. Da mittlerweile alles zur Schlagzeile taugt, wird es auch weiter Schlagzeilen geben – bis die Affäre irgendwann aufgrund der völligen Erschöpfung aller Akteure endet. Zurückbleiben werden Frustration beim Publikum und ein weiterer Ansehensverlust der Politik, aber auch eine strukturelle Veränderung der Medien, deren Berichterstattung einen erneuten Quantensprung im sich neu justierenden Machtverhältnis von Presse und Politik markiert.

Auf der Strecke bleibt aber vor allen eines: das tiefere Verständnis für Wesen und Funktion des Bundespräsidentenamtes. Claus Leggewie schrieb in der Financial Times Deutschland, dass die letzten Bundespräsidenten aufgrund der herrschenden Umstände in ihrer öffentlichen Inszenierung nicht mehr vor-, sondern postdemokratisch gewirkt hätten. In einer Gesellschaft, in der Prominenz und Elite verschwimmen und in der es vor Ämtern keine Achtung mehr gibt, kann ein Bundespräsident nicht auf natürliche Autorität hoffen, sondern diese nur noch durch persönliche Wirkung entfalten. Nun haben wir einen Präsidenten, der öffentlich so nackt dasteht wie kein Kaiser in neuen Kleidern jemals zuvor. Wenn sogar der Präsident selbst nicht mehr begründen kann, wozu man das Amt eigentlich braucht und auf welche Art er zukünftig noch Autorität entfalten möchte, wird es brenzlig. Für das diffizile Verfassungsgefüge der Bundesrepublik, in der das Bundespräsidentenamt als ausgleichende und vermittelnde Institution gebraucht wird, sind das keine guten Aussichten.

Von Thymian Bussemer erschien im Herbst 2011 bei Klett-Cotta das Buch „Die erregte Republik: Wutbürger und die Macht der Medien“.


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