Am Ende der Dankbarkeit
Wie Lassalle sagt, ist und bleibt die revolutionärste Tat, immer das laut zu sagen, was ist. (Rosa Luxemburg)
Wer in den letzten Wochen die von den Thierse-Thesen ausgelöste Debatte über die Ost-Förderung aufmerksam verfolgte, konnte den Eindruck gewinnen, daß die ostdeutschen Sozialdemokraten auf dem besten Wege seien, sich über die Zukunft des Ostens heillos zu zerstreiten. In ihrem Kern scheint diese Diskussion um die Frage zu kreisen, ob das Glas als halbvoll oder als halbleer zu bezeichnen ist . Daß ein halbvolles Glas auch halbleer ist, liegt in der Natur der Sache. Der Unterschied ergibt sich aus der eingenommenen Perspektive, ist Ergebnis subjektiver Wahrnehmung beziehungsweise absichtsvoller Deutung. Soll man stolz auf das bereits Erreichte verweisen oder lieber die Defizite schonungslos offenlegen? Antwort: Man muß das eine tun, ohne das andere zu lassen.
Über das Ziel besteht unter den ostdeutschen Sozialdemokraten Einigkeit: Das Glas soll bis zum Rand gefüllt, der Weg erfolgreich zu Ende beschritten werden. Der von den Medien aufgegriffene Schein-Konflikt unter den Ostdeutschen verdeckt die eigentliche Auseinandersetzung, der wir uns zu stellen haben.
Entscheidend für die Zukunft des Ostens ist, ob das Ziel in Sichtweite bleibt und von der bundesdeutschen Gesellschaft in ihrer Gesamtheit, West und Ost, entschlossen verfolgt wird. Entscheidend ist, ob die deutsche Einheit weiterhin als eine nationale Aufgabe begriffen wird, als ein Prozeß, der noch längst nicht abgeschlossen ist und der nur dann gelingen kann, wenn er nicht ständig grundsätzlich in Frage gestellt wird. Längst aber gibt es mehr als nur alarmierende Signale, längst ist Ostdeutschland Kombattant im bundesrepublikanischen Verteilungskampf geworden. Es geht um sehr viel Geld. Kaum etwas macht diesen Sachverhalt deutlicher als Thierses vieldiskutierter und -kritisierter Begriff vom "Osten auf der Kippe". Dabei beschreibt dieser Begriff lediglich eine simple Tatsache: Wenn der Aufbau Ost nicht konsequent und unter Einsatz aller dazu notwendigen finanziellen Mittel fortgesetzt wird, hat Ostdeutschland keine Chance. Diese Binsenweisheit gilt es ins bundesrepublikanische Bewußtsein zu hämmern. Das und nichts anderes ist die Debatte, die die Ostdeutschen zu führen haben, und in der die SPD um ihrer selbst willen nicht nur eindeutig Position beziehen, sondern auch die Meinungsführerschaft übernehmen muß.
Der Bundeskanzler und Parteivorsitzende hat in dieser Hinsicht nicht erst auf seiner Sommerreise im vergangenen Jahr klare Zeichen gesetzt. Eine besonders glückliche Hand bewies Schröder dabei insofern, als er - mit Recht - nicht nur auf das bereits Erreichte hinwies, sondern zugleich einfühlsam betonte, daß diese Leistungen von den Ostdeutschen selbst erbracht worden seien. Damit gab er ihnen ein Stück bereits verlorengegangenen Stolzes zurück. Das war wichtig und gut.
Ungeachtet dessen gibt es im Westen leider immer noch Leute, auch einige Sozialdemokraten, die offenbar glauben, daß wir uns mit der Ostförderung die Klodeckel vergolden. Diesen selbsternannten Experten muß unmißverständlich klar gemacht werden, daß es um existenzielle Fragen geht. Das meint nicht nur den Aufbau der Wirtschaft, sondern auch das Lebensgefühl der Menschen, von denen allzu viele ihre unter den schwierigen Bedingungen des realen Sozialismus erbrachte Lebensleistung nicht anerkannt sehen und damit sich selbst in der Gegenwart der Republik nicht wiederfinden. Sie leben wie Fremde im eigenen Land. Dies einer westdeutschen Mehrheit begreiflich zu machen, und sei es zunächst auch nur einer Mehrheit der westdeutschen Sozialdemokratie, das steht nach wie vor auf der gesamtdeutschen Agenda. Wir bitten nicht um Verständnis. Wir fordern Respekt.
Die Ostdeutschen erwarten keineswegs, daß alle Probleme auf einmal gelöst werden. Aber sie wollen sehen, daß es voran geht. Sie erwarten von der Bundesregierung, daß diese konsequent dafür sorgt, daß es bei der Angleichung der Lebensverhältnisse sichtbare Fortschritte gibt. Daß die Bundesregierung sich ganz erheblich für den Osten engagiert, daran kann überhaupt kein Zweifel bestehen. Erinnert sei nur an den wirklich innovativen Innoregio-Wettbewerb, an das JUMP-Programm, an die Reform des Altschuldenhilfegesetzes sowie an den im Investitionsprogramm dokumentierten Vorrang beim Ausbau der Verkehrswege. Im beschleunigten Ausbau der Infrastruktur liegt der Schlüssel für die Wettbewerbsfähigkeit des Ostens. Damit sind nicht nur Verkehrswege, sondern auch Bildung und Ausbildung gemeint. Diese Infrastruktur muß demnächst nicht nur genauso gut sein wie die im Westen, sondern sie muß deutlich besser sein, wenn sich mittel- und langfristig eine Wirtschaftslandschaft entwickeln soll, die nicht mehr siech am Tropf öffentlicher Förderung hängt.
Selbstverständlich ist es in diesem Zusammenhang sinnvoll, über Einzelstrategien zu diskutieren und die Effizienz der Förderinstrumente immer wieder genauestens zu überprüfen. Zähe und beharrliche Detailarbeit bleibt notwendig. Aber bisweilen vernebelt die Auseinandersetzung mit all den wichtigen Einzelfragen den Blick auf das Ganze. Man sieht den Wald vor lauter Bäumen nicht.
Die ostdeutschen SPD-Abgeordneten stehen hinter ihrer Bundesregierung, und das ist ja auch richtig. Aber seien wir doch ehrlich: Wer immer nur hinter jemandem steht, kann keinen sonderlich dynamischen Eindruck vermitteln. Wir müssen uns mehr bewegen, wir müssen die Richtung mitbestimmen. Und das gilt nicht nur für Bundestagsabgeordnete, sondern für die ganze ostdeutsche SPD. Anders formuliert: In der Vergangenheit sind wir vielleicht bisweilen etwas zu leise und zu bescheiden aufgetreten. Dabei können wir Bundeskanzler Schröder und seinen Staatsminister Rolf Schwanitz noch viel wirkungsvoller als bisher unterstützen, wenn wir auch öffentlich von uns aus die berechtigten Interessen der Ostdeutschen energisch vortragen - wenn es nötig ist, auch mit der entsprechenden Lautstärke. Schlage die Trommel und fürchte Dich nicht!
Wir dürfen als Sozialdemokraten auf keinen Fall den Eindruck aufkommen lassen, daß wir im Osten irgend etwas schön reden wollten. Das sind wir unserer Glaubwürdigkeit schuldig, alles andere wäre politischer Selbstmord aus Angst vor dem Tode. Denn Schönreden, das haben Helmut Kohl und seine Truppen jahrelang probiert, und sie haben bei der letzten Wahl die Quittung dafür bekommen.
Weder Schönfärberei noch Schwarzmalerei. Beides wäre verkehrt und würde unserer Sache schaden. Wenn sich zum Beispiel bei der Jugendarbeitslosigkeit zeigt, daß die Schere weiter auseinander geht, anstatt sich zu schließen, dann haben wir das zu thematisieren. Wenn jemand wie der stellvertretende Parteivorsitzende Wolfgang Thierse provozierende Thesen vorlegt, dann müssen wir uns damit auseinandersetzen, auch in der Öffentlichkeit. Immer das laut sagen, was ist. In unserer Partei offen zu diskutieren, Entscheidungen transparent zu treffen: Das ist unsere Stärke, das macht uns zu sozialen Demokraten.
Auch wenn das manch einer vergessen zu haben scheint: Die Wahl 1998 ist im Osten gewonnen worden. Darauf dürfen wir ostdeutschen Sozialdemokraten stolz sein. Wir haben das gute Wahlergebnis mit zahlreichen Direktmandaten (und die parlamentarische Mehrheit sichernden Überhangmandaten!) auch deshalb errungen, weil wir nicht das Blaue vom Himmel versprochen, sondern den Leuten die Wahrheit gesagt haben. Ein Versprechen haben wir allerdings gegeben: Die ostdeutschen Interessen deutlich zu artikulieren.
Der Osten ist kein Bittsteller, wir wollen keine Almosen oder Geschenke. Wir sitzen nicht mehr hinter der Mauer und machen mit glänzenden Augen die Westpakete auf. Dieses unsägliche, dieses unerträgliche Geschwätz und Geseiber, als hätte Helmut Kohl oder sonst jemand uns Ostdeutschen die Einheit oder die D-Mark geschenkt! Eroberer mögen Glasperlen verteilen - Partner teilen. Es geht um legitime Rechte.
So ganz neu ist das im übrigen nicht: Lange vor der Wende sind im Westen strukturschwache Gebiete wie Bayern jahrzehntelang intensiv gefördert worden, mit großem Erfolg. Ostdeutschland ist ein besonders großes strukturschwaches Gebiet, in dem bestimmte soziale Probleme besonders massiv auftreten. Mit der Ostförderung ist es deshalb ganz einfach: Wir brauchen sie so lange, wie der Osten Förderung braucht. Keinen Tag länger. Aber bis dahin bestehen wir darauf und fordern wir sie ein.
Niemand mehr soll von den Ostdeutschen Dankbarkeit erwarten. Wir sind schon lange am Ende der Dankbarkeit.