Apartheid und Sozialrevolte
Von der algerischen Hafenstadt Oran sind es nur rund hundert Kilometer bis zur gegenüberliegenden spanischen Küste. Alle paar Tage brechen junge Leute von dort zur Überfahrt nach Spanien auf – aber nicht mit der regulären großen Auto-Fähre, sondern auf Fischer- und schnellen Schlauchbooten. Sie haben die Angst vor einem lebensgefährlichen Schiffbruch abgeschüttelt. Sie nennen sich „harraga“: die, die [ihre Vergangenheit] verbrennen. Dieselbe Entschlossenheit ist seit Jahresanfang auch bei den algerischen Sozialrevolten anzutreffen. Die meisten Harraga dieser Tage dürften an dem Aufstand in Nordalgerien Anfang Januar 2011 teilgenommen haben, der mithilfe von Räumungspanzern und sozialen Zugeständnissen niedergeworfen wurde. Fünf Jugendliche hat die Polizei dabei erschossen.
An der Universität von Oran, an der ich bis vor kurzem als DAAD-Dozent beschäftigt war, haben meine Studierenden gerne und heftig darüber diskutiert, welches Leben vorzuziehen sei: Wenn sie in Algerien bleiben, werden sie „keine Zukunft“ haben; die staatlichen Schikanen und die Arbeitslosigkeit werden ihnen das Leben zur Hölle machen. Wenn sie über das Meer fliehen, erwartet sie die unmenschliche Maloche in der plastiküberdachten Landwirtschaft um Almería und Huelva, die Rainer Gollmer in seiner Fotoreportage für die Berliner Republik 1/2011 eindrücklich festgehalten hat. Von dort kommen Gemüse und Erdbeeren für Europas Supermärkte. Viele „Papierlose“ schaffen es erst nach Jahren, aus den Plastik-Plantagen aufzubrechen und bis nach Barcelona, Paris oder Frankfurt zu kommen.
Doch dieser Tage sprechen diejenigen, die als Bootsflüchtlinge nach Spanien übersetzen, mit leuchtenden Augen von neuen Perspektiven. Sie sind begeistert vom Kampf um soziale Rechte. Sie verlangen Würde und wollen eine neue Gesellschaft mit aufbauen. In Windeseile hat die junge Generation die Potentaten Tunesiens und Ägyptens verjagt. Die regionale Ordnung wankt, internationale Kriegseinsätze haben begonnen. Und Europa, das seine Nachbarschaftspolitik und seine Sicherheitsstrategie seit 2003 auf die forcierte Zusammenarbeit mit Diktaturen im Süden gegründet hat, gerät nun auch außenpolitisch in die Krise.
Wird die arabische Sozialrevolte auf Andalusien übergreifen? Werden die spanischen Plastikmeere, die die krudeste Massenausbeutung innerhalb der EU überdecken, davon hinweggefegt werden? Andalusien war im 20. Jahrhundert eines der Armenhäuser Europas. Noch im Jahr 1970 gab es in Andalusien 500.000 Tagelöhner („jornaleros“), die Jahr für Jahr gegen den Hunger ankämpften. Sie verdienten mehrere Monate des Jahres schlicht kein Geld und konnten angesichts der Großgrundbesitzstruktur kein eigenes Land zur Selbstversorgung bebauen. Zwischen 1950 und 1970 emigrierten mehr als 1,5 Millionen Andalusier. Mit der EU-Süderweiterung im Jahr 1986 befürchtete man in Deutschland und Frankreich eine „Masseneinwanderung“ vor allem aus Südspanien – allerdings unbegründet, wie sich herausstellte. Unter massivem Kreditzufluss entstand bei Almería und Huelva der agroindustrielle Wintergarten Europas. Heute handelt es sich um die weltweit größte Anbaufläche unter Folie. Eine Klasse von Neu-Unternehmern ist entstanden, die man angesichts ihrer Kreditabhängigkeit als Scheinselbständige bezeichnen kann. Sie arbeiten rund um die Uhr, und sie sind es, die die „clandestinos“ massenhaft anheuern und kontrollieren lassen.
Die Zahl der spanisch-andalusischen Jornaleros fiel im Laufe der letzten Jahrzehnte um die Hälfte auf schätzungsweise 250.000 Personen. Zu ihrem Mindestlohn in Höhe von 5,50 Euro pro Stunde erhalten sie eine Sozialversicherung und eine staatliche Aufstockungshilfe. Rund 10.000 andalusische Saisonarbeiter sind im Herbst 2010 wieder zur Ernte nach Frankreich aufgebrochen, wo sie einen Minimallohn von immerhin 8,86 Euro erhalten. Im Zuge der aktuellen Finanzkrise ist der ohnehin niedrige Sozialstatus der Jornaleros bedroht. Es droht die Streichung der staatlichen Zuschüsse.
Ungefähr 200.000 Immigranten verrichten die gesundheitsschädliche und dreckige Arbeit unter den Plastikplanen. Die meisten von ihnen haben keine Papiere. Die Fluktuation ist hoch. Zum größten Teil kommen sie aus dem Maghreb, aber auch aus Westafrika, Südamerika und aus der Ukraine. Ihr Stundenlohn liegt zwischen 2 Euro und 3,50 Euro. Die Fälle von Lohnbetrug sind zahlreich. Eine Sozialversicherung und staatliche Zuschüsse erhalten sie nicht.
Stattdessen regiert die Apartheid: Die Maghrebiner und Afrikaner leben und arbeiten auf den Feldern. Dort stehen auch ihre Hütten („chabolas“) oder ihre Hausruinen („cortijos“) – ohne Toiletten und ohne fließend Wasser. Ihre improvisierten Treffpunkte und notdürftigen Bars haben sie gleich nebenan eingerichtet. Den Spaniern gehört die Stadt. Die meisten andalusischen Boom-Städte sehen aus wie aus dem Boden gestampft: einförmige Neubauten, zentriert um Banken, Supermärkte und städtische Einrichtungen.
Eine der reichsten Städte Spaniens ist inzwischen übrigens El Ejido, das zu einem Zentrum der europäischen Agroindustrie aufgestiegen ist. Im Februar 2000 eskalierte in El Ejido die Situation. Die Marokkaner trauten sich erstmals in die Stadt. Sie verlangten, auch die Straßen, die Cafés und die Geschäfte der Stadt nutzen zu können. Das hatten Pöbeleien und Polizeikontrollen zuvor verhindert. Tobende Bürger von El Ejido brannten daraufhin die Treffpunkte und Hütten der Marokkaner nieder und jagten sie auf die Felder zurück. Zerstört wurde auch das Büro der Frauenorganisation Mujeres Progresistas, das die einzige Anlaufstelle der Papierlosen war. Die Polizei griff erst nach zwei Pogrom-Tagen ein.
Im März 2011 wurde vor allem aus der Kleinstadt Níjar bei Almería berichtet, dass die Spannungen zunehmen. Aufgrund der wachsenden Flächennutzung liegen dort die neuen „chabola“-Hütten der Immigranten nur noch 50 bis 100 Meter von den Wohlstandssiedlungen entfernt. Die traditionsreiche SOC-Gewerkschaft, in der sich spanische und migrantische Tagelöhner zusammengetan haben, das Sozialforum Almería und die Unterstützungsgruppe Almería Acoge sind präsent. Denkbar ist, dass der arabische Funke auch auf spanische Jornaleros und Arbeitslose überspringt, die wegen der Finanzkrise vor existenziellen Nöten stehen.
Eine Sozialrevolte im andalusisch-europäischen Wintergarten würde die Krise der südlichen EU-Nachbarschaftspolitik in eine Krise der EU-Abschottung verwandeln. Die dortige Apartheid wird früher oder später zusammenbrechen. Ihre Voraussetzung war und ist das EU-Visa-Regime. Wenn die Visapflicht für Maghrebiner fällt und damit das Sterben der Bootsflüchtlinge endet, weil sie auf reguläre Schiffe umsteigen können, werden sich die Löhne angleichen – in Andalusien und diesseits wie jenseits des Mittelmeers. So war es schließlich auch im Falle Polens oder Ungarns nach dem Fall der Berliner Mauer. Die mittelosteuropäische Angleichung hat sich allerdings über viele Jahre hingezogen.
Mit einem Regimesturz in Algerien würden die Leute aus Oran die Ausreisefreiheit erlangen. Anschließend ginge es um die Freiheit der Einreise in die EU. Die jungen Harraga, die derzeit aus Oran aufbrechen, stellen sich schon heute auf diesen Kampf ein. «