Irgendwann ist die Erde alle
Er ist mittendrin. Er hofft, er kämpft – und kann doch nicht deuten, was gerade passiert. Fabrizio del Dongo heißt der Held, Stendhal lässt ihn in dem Roman Kartause von Parma in den Krieg ziehen. Voller Begeisterung eilt der junge Adlige von Scharmützel zu Scharmützel, unwissend, an welchem geschichtsträchtigen Ereignis er gerade teilnimmt. Es ist die Schlacht von Waterloo, die den Kontinent dauerhaft verändern wird.
Wer würde behaupten, dass es uns heute besser ergeht als del Dongo? In immer schnellerem Tempo lösen sich unsere Schlachten ab, zum großen Glück sind sie nicht blutig und hierzulande meist noch nicht einmal direkt spürbar. Besorgniserregend und undurchschaubar sind sie trotzdem. Und sie kommen näher. Trieb uns vorgestern noch der Klimawandel um, so waren es gestern zudem die Weltfinanzmärkte, und heute ist es auch noch die Zukunft Europas. Schon stellen die Feuilletons den ganzen Kapitalismus infrage, spielerisch noch, aber die Zweifel werden immer grundsätzlicher: über unsere Art zu wirtschaften, über die Verteilung von Wohlstand und Gerechtigkeit, über die Nachhaltigkeit und den Fortschritt. Was ist in solchen Zeiten noch gute Politik?
Wenn alle werden wie wir, wird alles gut
Der klassische Reflex ist das Versprechen des Bewahrens, der Rückgriff auf alte Rezepte, die Entpolitisierung der Debatten. Die Bundesregierung betreibt dies bis zum Exzess, exemplarisch zeigt es sich in der Wirtschaftspolitik: Gebetsmühlenartig verkündet sie, Deutschland gehe es trotz der Krise wunderbar, schließlich wachse das Bruttoinlandsprodukt (BIP). Und wenn alle übrigen Länder nur so werden wie wir, wird alles wieder gut! Das Problem ist bloß: So funktioniert das nicht. Die Strategie geht schon in Europa nicht auf, weil nicht alle europäischen Länder Exportweltmeister werden können. Sie klappt ökologisch nicht, denn pflegten alle unseren Lebensstil, würde der Globus noch schneller zerstört. Und sie funktioniert nicht einmal, wenn man nur die Lebensqualität der Bürger erhalten wollte. Diese nämlich wird durch ein Weiter-so gefährdet, wie alle neueren Forschungen zeigen, die danach fragen, was das „gute Leben“ ausmacht.
Beispielhaft lässt sich das Problem am Umgang mit dem Wirtschaftswachstum zeigen. Wachstum ist das mit Abstand beliebteste und am wenigsten hinterfragte Mittel der Politik, um die großen gesellschaftlichen Herausforderungen zu meistern. Wachstum ist das Synonym für Fortschritt oder gilt zumindest als seine unabdingbare Voraussetzung, gerade auch in der SPD. Dahinter steht eine gewisse Logik: In wachsenden Volkswirtschaften ist nun einmal mehr zu verteilen als in stagnierenden, auch an die Geringverdiener – und somit lässt sich leichter Gerechtigkeit versprechen. Doch das Zaubermittel Wachstum soll noch mehr können. Es gilt als der Königsweg aus der Finanzkrise und der Staatsschuldenkrise, am besten angeheizt durch eine ordentliche Binnennachfrage. Und es wird uns, kombiniert mit dem beliebig interpretierbaren Adjektiv „nachhaltig“, vor der ökologischen Katastrophe retten. Wer diese Zusammenhänge infrage stellt, gilt schnell als Freak.
Das Märchen vom Wohle des Booms, an das wir ach so gerne glauben, geht so: Wenn die Wirtschaft wächst, können wir Bürger mehr kaufen. Dann entstehen Jobs. Dann bekommen die Unternehmen das nötige Kapital, um Innovationen zu finanzieren und Geld zu verdienen. Dann nimmt der Staat mehr Geld ein, kann seine Kredite bedienen und mehr umverteilen. Dann schaffen wir Wohlstand, ergo Lebensqualität und damit die Voraussetzung für Glück und Unbeschwertheit. Und dann verhindern wir mittels Innovationen ganz nebenbei auch noch die Klimakatastrophe. Zum Schluss gibt es ein Happy End.
Zumindest ein Aspekt dieser Argumentation stimmt: Spätesten seit Beginn der Finanzkrise wissen wir, dass staatliche Konjunkturprogramme tatsächlich die Ökonomie stabilisieren und das Weltwirtschaftssystem vor dem Kollaps retten können. Das Wachstumsprogramm der Bundesregierung war erfolgreich, sieht man einmal von den ökologischen Folgen der Abwrackprämie ab. Der Ökonom John Maynard Keynes hatte solche Wirkungsketten schon vor dem Zweiten Weltkrieg erforscht und in den Vereinigten Staaten auch beispielhaft erprobt. Seither wurde seine Empfehlung, in der Krise die Wirtschaft mittels öffentlicher Wachstumsprogramme anzukurbeln, immer wieder erfolgreich in die Tat umgesetzt. Allerdings hatten sie leider oft genug die unangenehme Nebenwirkung dauerhaft steigender Staatsverschuldung. In den guten Zeiten wurde häufig nicht ausreichend gespart, um im nächsten Abschwung den nötigen Puffer zu finanzieren. Die Folgen sieht man in Griechenland: Dessen Schulden lassen sich realistisch nie wieder abbauen und verbauen in der Krise so gut wie alle Spielräume.
Doch Konjunkturpolitik in einem dramatischen Abschwung ist die eine Sache. Wirklich entscheidend ist die Frage, ob Wachstum auf Dauer ein sinnvolles Ziel der Politik sein kann. Ob es den Menschen eher nützt oder schadet. Rechnen wir nach: Bei einem Zuwachs von zwei Prozent pro Jahr würde sich das BIP in 35 Jahren verdoppeln; die deutsche Wirtschaft würde also doppelt so viel herstellen wie heute. In 70 Jahren wäre es sogar viermal so viel. Wir könnten viermal mehr Dinge kaufen, verbrauchen, wegwerfen als heute. Noch mehr Müll?
Irgendwann ist die Erde alle
Immer mehr ist eben nicht genug. Schon Keynes hielt unbegrenztes Wirtschaftswachstum nicht für erstrebenswert. Er ging davon aus, dass Länder irgendwann in einen stabilen Zustand fallen, in denen es zwar Innovation und Mobilität geben werde, aber kein Wachstum mehr. Seine Logik: Der Zuwachs des Sozialproduktes sinke in entwickelten Volkswirtschaften von allein, auch weil die Produktivität nicht exponentiell steige. In Gesellschaften wie der deutschen, die immer älter werden oder gar schrumpfen, sind niedrigere Raten sogar noch wahrscheinlicher. Keynes fand das nicht einmal bedrohlich – wenn dieser Prozess denn richtig vorbereitet und organisiert werde.
„Jeder, der daran glaubt, dass es unbegrenztes Wachstum geben kann, muss verrückt sein oder ein Ökonom“, spottete der amerikanische Wirtschaftswissenschaftler Ken Boulding schon vor Jahrzehnten. Boulding gehörte allerdings zu der eher seltenen Spezies, die Wirtschaft als ein Subsystem der Welt betrachteten – und schon deswegen an ihre Grenzen glauben. Schließlich kann in einem endlichen System wie der Erde kein Subsystem unendlich zunehmen. Schon deswegen sei die Idee des grünen Wachstums global betrachtet eine Illusion. Selbst wenn alle Produkte immer grüner und immer effizienter werden, kann man die Menge in einer endlichen Welt nicht unendlich steigern. Irgendwann ist die Erde alle. Was übrigens nicht heißt, dass hierzulande grüne Teile der Wirtschaft nicht wachsen sollten, nur müssten zugleich andere schrumpfen. Und zwar massiv.
Warum Dänen zufriedener sind als Russen
Wir wissen das längst, und doch ignorieren wir die Dramatik der Situation. Täglich sterben 100 Arten aus, werden 20.000 Hektar Ackerland zerstört und 50.000 Hektar Wald abgeholzt. Wasser wird vielerorts knapp, die Meere sind überfischt, die Erde erwärmt sich mit wachsendem Tempo. Denn auch der Energiehunger wächst. Und damit die Gefahr für das Klima. In der Finanzkrise retteten wir Banken, die so groß waren, dass sie durch ihren Kollaps das Weltwirtschaftssystem zerstört hätten. Bei keinem anderen System besitze das Prinzip „too big to fail“ eine derartige Gültigkeit wie beim Klima, sagt der Umweltökonom William Rees aus Vancouver.
Von noch einer Illusion sollten wir uns lösen: von dem Glauben, dass Wachstum automatisch ein besseres Leben ermöglicht. Dieser Zusammenhang gilt zwar unbestritten für arme Länder: Wo ein Teil der Bevölkerung nicht genug zu essen hat, sorgt mehr materieller Wohlstand sehr wohl für mehr Zufriedenheit. Doch in Deutschland und anderen Industrieländern lässt sich diese Korrelation nicht mehr nachweisen. Zu diesem Ergebnis kommen zahlreiche Studien aus der Glücksforschung, die in den vergangenen Jahren weltweit immer wichtiger geworden ist, sich in Deutschland allerdings erst sehr langsam durchsetzt. In den vergangenen dreißig Jahren sind die Menschen im Westen zwar wohlhabender aber nicht glücklicher geworden. Ein gutes Leben hängt ab einem gewissen Lebensstandard nicht mehr davon ab, wie reich die Gesellschaft insgesamt ist. Wichtiger ist die Frage der gerechten Verteilung. Weil sie diese klug beantwortet haben, sind Dänen viel zufriedener als Russen.
Wichtig für ein gutes Leben sind Gesundheit, Bildungschancen und das Gefühl, dazuzugehören, mitbestimmen zu können. Das klingt banal, doch in Deutschland haben sich diese Faktoren in den vergangenen Jahren nicht verbessert, manche weisen sogar deutlich nach unten. So ist unser Land heute viel ungleicher als vor einem Jahrzehnt. Die Zahlen der Depressiven, der Alkoholabhängigen, der Kranken steigen. Das Burn-out-Syndrom ist längst ein gesellschaftliches Phänomen. Die Deutschen schlucken heute doppelt so viele Antidepressiva wie vor zehn Jahren. Würden die OECD und der Internationale Währungsfonds den Erfolg eines Landes also nicht am BIP, sondern an der Zahl der Kranken oder auch am Umgang mit den Ressourcen messen, dann lägen wir längst nicht mehr ganz oben.
So schließt sich der Kreis: Wenn materielles Wachstum nicht nur die Grundlagen unseres Seins zerstört, sondern uns nicht einmal zufriedener macht – sollten wir uns dann nicht besser schleunigst davon verabschieden oder es zumindest nicht mehr zum Ziel von Politik und zum Maßstab für Erfolg machen? Wenn Wachstum zwar hilft, die Schulden zu bedienen, wir aber neue Schulden machen, um zu wachsen – ist das nicht absurd? Wenn sogar grünes Wachstum irgendwann an die endlichen Grenzen einer endlichen Welt stoßen wird, sollten wir dann nicht Fortschritt anders messen?
Einfach wird das nicht. Im „Fortschrittsforum“ der Friedrich-Ebert-Stiftung brachte es die Direktorin von Microsoft Deutschland Angelika Gifford kürzlich auf den Punkt: Wenn einem Politiker eine Fee erschiene und ihn vor die Wahl stellte, sich entweder ein zufriedeneres Volk oder mehr Wirtschaftswachstum zu wünschen, würde er Wachstum wählen. Das ließe sich messen. Das würde als Erfolg gewertet. Mehr Lebensqualität wäre viel zu weich. Auch deshalb besteht für alle, die sich einen Politikwechsel und ein vorausschauendes Krisenmanagement wünschen, einer der wichtigsten politischen Schritte in der Suche nach alternativen Maßen für Fortschritt und – noch wichtiger – deren Implementierung.
Der Glaube an das Wachstum schwindet
Vielleicht hilft dabei die Enquete-Kommission des Bundestages, die seit einem guten Jahr unter Vorsitz der SPD-Bundestagsabgeordneten Daniela Kolbe zu diesem Thema tagt. Noch schwieriger, als sich auf neue Indikatoren zu einigen, wird es sein, die politischen Routinen zu ändern: Wer die Öko-Krise wirklich bekämpfen und die Lebensqualität sichern will, wird über Verteilung, Wachstum, Klimaschutz und gutes Regieren viel grundsätzlicher nachdenken müssen als bisher. In Kanada, in Australien und Neuseeland passiert das bereits. Doch auch in Deutschland könnte es sich für Politiker lohnen, denn auch hier vertrauen immer mehr Bürger immer weniger auf die alten Rezepte. Die meisten glauben beispielsweise nicht mehr, dass Wirtschaftswachstum ihr eigenes Leben verbessert. Das eröffnet Spielräume.
Und der Euro, die Finanzkrise, der Klimawandel? Selbst die gegenwärtige Bundesregierung spürt ja langsam, dass ein paar grundsätzliche Gedanken über die tiefer liegenden Ursachen nicht geschadet hätten, dass sie die Probleme nur durch das Bekämpfen der Symptome nicht in den Griff bekommt. Und dass sie den Bürgern langsam neue Beweise für politischen Erfolg vermitteln muss. Der Vorstoß der Meinungsfühlerin Angela Merkel ist genau so zu verstehen: Sie teilte den Deutschen erst kürzlich mit, dass der Euro möglicherweise den materiellen Wohlstand reduzieren könne. Das allein ist natürlich noch kein attraktives politisches Angebot. Aber es ist ein Zeichen dafür, dass auch in konservativen Kreisen nach neuen Kriterien für gute Politik gesucht wird. Wachstum, das wird immer klarer, kann und wird es nicht mehr sein. «