Auf der Baustelle der Berliner Republik
Es ist keine leichte Aufgabe, im gleichen Atemzug mit den politisch Handelnden eine zeitgeschichtliche Studie über eben dieses Handeln zu verfassen, die vor der Geschichte Bestand haben wird. Hans Jörg Hennecke ist sich den Gefahren seines Tuns bewusst, und dennoch beantwortet er Barbara Tuchmans Frage, ob man über die Geschichte schreiben solle, während sie noch qualme, mit einem eindeutigen Ja. Das inhaltlich wie stilistisch gleichermaßen beeindruckende Ergebnis, das er vorgelegt hat, ohne schon über die zeithistorischen Quellen verfügen zu können, gibt ihm recht. Sein Buch wird dazu beitragen, dass sich der Pulverdampf, der noch immer über den zahlreichen Kampfschauplätzen der ersten Regierung Schröder hängt, schneller verziehen wird.
Die Veränderungen, die das politische Handeln der ersten rot-grünen Koalition für das bundesrepublikanische Gemeinwesen mit sich gebracht hat, nehmen in Hans Jörg Henneckes dichter Erzählung erste Umrisse an. Schon an den mit poetischem Talent formulierten Überschriften vermag man sie zu erkennen: "Zwischen Cashmere und Keynes: das Kabinett Schröder/Lafontaine" heißt es da etwa oder "Die grüne Steuer und der Kaltstart in den Atomausstieg", "Zurückgepfiffen: ‚Doppel-Pass‘ und Hessen-Wahl", "Die Koalition im Kriegszustand", "Das Regieren ist eine Baustelle", "Ein Winter des Missvergnügens" und "Wahlkämpfer vor Flusslandschaft". Ob man die Veränderungen, die sich mit diesen Episoden der ersten Regierung Schröder assoziieren lassen, am Ende auch tatsächlich unter den Begriff der "Dritten Republik" fassen wird, wie ihn Hans Jörg Hennecke vorschlägt, kann jedoch bezweifelt werden. Realistischer erscheint die Erwartung, dass sich schließlich angesichts verblassender historischer Reminiszenzen doch die geographische Ortsbestimmung durchsetzen wird: Auch wenn der Autor sich mit nachvollziehbaren Argumenten dagegen sträubt - seine Dritte Republik wird für künftige Generationen aller Voraussicht nach "Berliner Republik" heißen.
Größere Instabilität, mehr Dynamik
Vier Charakterzüge sind es, die für Hans Jörg Hennecke das eigenständige Profil dieser neuen Republik markieren. An erster Stelle stechen die größere Instabilität und die Dynamik des wiedervereinigten Deutschlands hervor, die sich in scharfem Kontrast von der Ruhe und Behaglichkeit der Bonner Demokratie absetzen. Die noch längst nicht zufriedenstellend bewältigten Folgen der Wiedervereinigung haben das Konfliktpotential innerhalb Deutschlands beträchtlich steigen lassen. Die Sprunghaftigkeit des derzeitigen Kanzlers im Vergleich zur Gemütsruhe des letzten Regierungschefs der Bonner Republik, (so vielfältige andere Ursachen sie noch haben mag), ist auch dafür ein Symptom.
Zweitens legt die Berliner Republik im Vergleich zu ihrer Vorgängerin ein ganz anderes Selbstbewusstsein an den Tag, das sich durchaus mit dem umstrittenen Begriff der geschichtspolitischen "Normalisierung" kennzeichnen lässt. Mit den Kontroversen um das Holocaust-Mahnmal und die umstrittene Wehrmachtsausstellung, endgültig dann mit dem Nachhutgefecht zwischen Martin Walser und Ignatz Bubis ist der Nationalsozialismus in das kollektive Gedächtnis der Deutschen abgesunken und hat den Weg frei gemacht für aktuellere geschichtspolitische Debatten, die sich mit Themen der deutschen Nachkriegsgeschichte befassen.
Mit Macht: Europäisierung und Globalisierung
Ein dritter nicht zu verkennender Charakterzug der neuen Bundesrepublik ist der verringerte Handlungsspielraum für nationalstaatliche Politik, der sich im Zuge beschleunigter Europäisierung und Globalisierung eingestellt hat. Konnte sich die Bonner Republik noch weitgehend mit der wirtschaftlichen Einigung Europas begnügen, so drang in den neunziger Jahren die politische Integration mit Macht auf die europäische Tagesordnung und mündete in die laufende Verfassungsdiskussion. Auch der Globalisierung konnte man sich schließlich nicht mehr entziehen, wie besonders der tiefgreifende Wandel in der bundesdeutschen Außen- und Sicherheitspolitik verdeutlicht. Es war bezeichnenderweise die rot-grüne Koalition, die im Kosovo-Krieg, im Mazedonien-Einsatz und nach dem 11. September in der Operation Enduring Freedom die ersten deutschen Militäreinsätze nach dem Zweiten Weltkrieg befehligte. Manche meinen, dass überhaupt nur unter der Führung dieser Koalition die neue Bundesrepublik - dies ist ihr vierter veränderter Wesenszug - die (wenn auch noch nicht ganz geglückte) Abkehr von der "Machtvergessenheit" früherer Tage vollziehen konnte.
Neben diesen großen, vor allem durch die äußeren Umstände und den Gang der Zeit bewirkten Furchen hinterließ die erste Regierung Schröder manch kleinere Falte in der Physiognomie der Republik. So ernüchternd die politische Bilanz der Koalition für viele - und gerade die enthusiastischsten Anhänger des rot-grünen "Projekts" - ausfiel, eine "verlorene Zeit" (Jan Ross) waren die vier Jahre am Ende dann doch nicht, wie Hans Jörg Hennecke herausarbeitet. Der (zwar auf die lange Bank geschobene) Atomausstieg, die Profilierung der Umweltpolitik über Ökosteuer und Energiewende, die Anerkennung gleichgeschlechtlicher Lebenspartnerschaften, das neue Staatsangehörigkeitsrecht und die Strukturveränderungen in der Hochschulpolitik markierten durchaus inhaltliche Kurswechsel von Belang. Die Bundesrepublik war nach vier Jahren rot-grüner Koalition nicht mehr dieselbe. Vor allem auf den "weichen", den kultur- und gesellschaftspolitischen Feldern der Politik hatte die mit einiger Verspätung schließlich doch noch an die Macht gelangte Generation der Achtundsechziger, so erschöpft sie vielen Beobachtern auch erschien, der Republik ein neues Gesicht gegeben.
Selbst das so kläglich manipulierte und von Karlsruhe gestoppte Zuwanderungsgesetz bewertet Hans Jörg Hennecke in dieser Hinsicht als Erfolg: Es habe ein gesellschaftliches Bewusstsein für die Notwendigkeit von Einwanderung und Ausländerintegration geschaffen, wie es vor dem Hintergrund der deutschen Tradition alles andere als selbstverständlich war. Bemerkenswerterweise sind fast alle wichtigeren Reformimpulse von den viel gescholtenen, zwischendurch mancherorts gar für tot erklärten Grünen ausgegangen.
Stärker noch als inhaltlich wirkte die neue Regierung stilbildend. Schon kurz nach Amtsantritt hatte Gerhard Schröder erklärt: "Die neue Regierung steht für Aufbruch, steht für Erneuerung in allen Politikbereichen, vor allen Dingen aber auch im Stil, in dem wir Politik machen werden." Schröder wollte die "zivile Bürgergesellschaft" stärken, auf der Suche nach dem großen gesellschaftlichen Konsens initiierte er Bündnisse, Räte und Kommissionen, im Spätsommer 2000 setzte er sich an die Spitze des "Aufstands der Anständigen" im Kampf gegen den Rechtsextremismus. Das war alles gut gemeint, aber nicht ohne schwer wiegende Folgen für das traditionelle Institutionengefüge der Bundesrepublik. Die Politik wanderte aus Parlament, Fraktion und Kabinett aus auf die Straße, in die Räte und in die Fernsehstudios der Nation. Das Regierungsgeschäft wurde zur großen, unübersichtlichen Baustelle - und Schröder zum Vorarbeiter, der sich nur noch per Machtwort ("Basta") Gehör und Gehorsam verschaffen konnte. Der ursprünglich durchaus partizipationsfreundliche Impetus des neuen Regierungsstils verkam so infolge permanenter Überforderung zu einem unerquicklichen Autoritarismus. Gerhard Schröder, "der pontifex maximus der Mediendemokratie" (Hennecke), musste mit seinen Freunden in Partei und Fraktion oftmals weitaus rüder umspringen als es der sicher nicht weniger machtbewusste Helmut Kohl getan hatte, der den Parteienstaat Bonner Prägung wie kein anderer personifizierte.
Überforderung und Realitätsverweigerung
Das Durchkreuzen gut gemeinter Politikziele seitens der politischen Akteure, sei es infolge von Überforderung oder Realitätsverweigerung, ist ganz allgemein ein charakteristischer Wesenszug von Hans Jörg Henneckes Dritter Republik (wobei der Autor nicht alle Schuld bei den Akteuren sucht, sondern sich auch durchaus eingehend den hinlänglich bekannten institutionellen Politik-Blockaden widmet). Besonders gut lässt sich dies auf zwei zentralen Politikfeldern verfolgen: der Wirtschafts- und Sozialpolitik sowie der Außen- und Sicherheitspolitik. Nach 1989/90 gestaltete die Regierung Kohl die Wiedervereinigung "in anachronistischer Weise als großflächige Übertragung des westdeutschen Wohlfahrtsstaates nach Ostdeutschland". Die Regierung Schröder hat die Politik, den deutschen Wohlfahrtsstaat "vor Anpassungszwängen abzuschirmen", im Wesentlichen fortgesetzt. Nach Hans Jörg Henneckes Auffassung, der aus seinen liberalen ordnungspolitischen Grundüberzeugungen im Übrigen keinen Hehl macht, erzielte sie so aber ganz entgegen ihren Absichten nicht mehr, sondern weniger soziale Sicherheit.
Ähnlich verhielt es sich auf dem Feld der Außen- und Sicherheitspolitik: So sehr die rot-grüne Koalition auch ihren Wunsch nach ziviler Konfliktprävention und Stärkung der Vereinten Nationen in den Mittelpunkt ihrer außenpolitischen Legitimierungsbemühungen rückte: Die langfristig bedeutsamste außen- und sicherheitspolitische Weichenstellung nahm sie zweifellos dadurch vor, dass sie "zweimal die Schwelle zum Krieg überschritt". Mochte Schröder in der Irakfrage auch wieder zurück rudern, so führt doch kein Weg mehr an der Einsicht vorbei, dass jede verantwortliche Sicherheitspolitik heute nicht allein auf Konfliktprävention setzen kann, sondern auch militärisch handlungsfähig sein muss. Hans Jörg Hennecke hat Recht, darin den markantesten Wechsel von der Bonner zur Berliner Republik zu erblicken.