Bäume, Bräuche und Beitrittsbedingungen
Die SPD findet es gut, die CDU ist genauso dagegen wie die Mehrheit der Deutschen insgesamt. Die Frage nach dem Beitritt der Türkei zur Europäischen Union polarisiert. Dabei ist die Türkei schon mitten in Europa, genauer: mitten in Berlin. Und wenn sie schon mal da ist, dann kann man sie ja auch gleich selber fragen. Ein subjektiver Survey in Kreuzberg und Neukölln.
Unsere Reise beginnt am Hermannplatz. Wir müssen zunächst feststellen, dass die meisten vermeintlichen Türken auf der Straße Araber sind. Die wollen sich zu dem Thema gar nicht äußern. Nur der freundliche Herr hinter dem Tresen von City Chicken, einer Hühnerbude gleich neben dem Eingang in die Berliner Unterwelt, bezieht klar Position: „Ich bin dagegen.“ Seine Begründung: Die Türkei habe den EU-Beitritt nicht verdient, weil die Gesundheitsversorgung katastrophal sei und die Sozialsysteme erst noch reformiert werden müssten. Wenn wir mehr Meinungen hören wollten, sollten wir das Restaurant Hasir am Kottbusser Tor besuchen.
Dankend folgen wir dem Hinweis, kehren aber auf der Suche nach einem ersten Bier zunächst im Türkiyemgrill ein. Drinnen herrschen Gedränge und eine auffällige Vollbartdichte. Bier gibt es nicht. Draußen essen Ali und sein Sohn zu Abend. Sie sitzen in Spuckweite entfernt vom Kottbusser Damm – dieser vierspurigen Teststrecke tiefer gelegter Testosteron-Transporter. Auch Ali ist der Meinung, dass die Türkei nicht in die EU gehört. Allerdings liefert er für seinen Standpunkt völlig andere Gründe als der Hühnermann vom Hermannplatz: Wer denn die „alte Dame Europa“ sei, die da glaube, der Türkei die Beitrittsbedingungen diktieren zu können? Warum es ein Problem sei, wenn türkische Polizisten zu den Knüppeln greifen – aber keines, wenn deutsche Sicherheitskräfte am 1. Mai dasselbe täten? Warum Premierminister Erdogan als Radikaler diffamiert werde, nur weil seine Tochter ein Kopftuch trage? Kurz, Ali vermisst Ernsthaftigkeit und Respekt im Umgang mit der Türkei.
„Schön sein, Gel in die Haare und so“
Nach seinem ausführlichen Vortrag über die Instrumentalisierung seines Heimatlandes durch imperialistische westliche Mächte möchten wir wissen: Was sagt denn Sohnemann zu all dem? Hilfsbereit springt Ali auch bei dieser Frage ein: „Der kümmert sich um andere Dinge. Schön sein, Gel in die Haare und so.“ Mehr ist leider nicht herauszubekommen. Ali fasst noch einmal zusammen: „Wir sitzen rum, trinken Tee, rauchen Pfeife, gehen schlafen – aber der CIA und der Mossad, die schlafen nie! Der Meinung bin ich, und die bekommt man auch nicht aus meinem Kopf raus. Auch nicht mit dem Baseballschläger.“
Ein Freund klarer Worte? Verschwörungstheorie? Clash of Civilizations? Wir fragen Betül („Berta-Emil-Theodor-Übermut und dann L“), die wir später im Kreuzburger an der Oranienstraße treffen: „Viele Türken in Deutschland leiden unter Minderwertigkeitskomplexen und klammern sich dann an die Tradition, die Religion, den Stolz. Diese Faschisten trifft man vor allem in den Kaffeehäusern.“ Betül sitzt eigentlich in diesem empfehlenswerten Burger-Restaurant, um mit der Bedienung Probleme in Liebesdingen zu besprechen. Beim Thema EU-Beitritt der Türkei ist sie jedoch Feuer und Flamme: „Die Türkei ist heuchlerisch und wird selbst in 20 Jahren nicht bereit für einen Beitritt sein.“ Betül ist zur Hälfte Kurdin. Auch sie spricht von den Problemen im Gesundheitswesen, doch vor allem von der Unterdrückung der Minderheiten in der Türkei. „Vor ein paar Jahren durfte man dort noch nicht mal einen kurdischen Namen tragen und heute reden wir davon, ob die in die EU dürfen“, sagt sie. Der Islam dagegen sei kein Hinderungsgrund auf dem Weg in die EU. Im Gegensatz zu den Muslimen in Berlin seien die Menschen in den türkischen Städten aufgeschlossen und modern. In Istanbul werde man als junges Mädchen zumindest nicht blöd angequatscht, wenn man auf der Straße ein Bier trinke – das passiere einem nur in Kreuzberg.
„I drank gallons of Raki with Turkish guys“
Zwischenergebnis der unrepräsentativen Umfrage: Die Türkei wird nicht Mitglied der EU. Nur scheint noch nicht entschieden, warum es so kommt. Liegt es nun daran, dass die Türkei sich vom „kranken Mann am Bosporus“ (Ali) zum selbstbewussten Akteur im internationalen System entwickelt hat? Oder daran, dass sie die Aufnahme aufgrund politischer, rechtlicher und sozialer Defizite schlicht nicht verdient?
Wir ergänzen die Stichprobenauswahl: Was sagt der nichttürkische Mensch in Kreuzberg dazu? Dazu entern wir das Franken. Zugegeben sei, dass wir uns davon nicht nur markige Statements, sondern auch die Steigerung der Gerstensaftgüte erhoffen: Das Gespräch mit Ali wurde mit Ayran geerdet, das Becks im Kreuzburger hatte immerhin verlässliche Flaschenbierqualität. Zwischendurch frequentierten wir – wie uns geheißen – das Hasir, wo das Bier unglücklicherweise ohne Kohlensäure gereicht wird. Das Franken nun verspricht neben frisch gezapftem Guinness die längsten Öffnungszeiten in der Gegend – also ein Muss für die Nachtleben-Recherche. Aus den Boxen springt uns Punk an, zusammengehauen von einer Band, deren Belegschaft vollzählig am Tresen sitzt. The Crosstops haben ihre Heimatstadt San Fransisco verlassen, um Europa zu rocken. Auf die Türkei-Frage antworten sie mit einer guten Portion Pragmatismus: „I mean, Turkey knocks on your door for 20 years. So, just let them in, right?!“ Auch auf die Frage nach potenziellen Konflikten zwischen Muslimen und Christen gibt es eine Antwort: „I drank gallons of Raki with turkish guys, and I didn’t care whether they were muslims or not.“
„Zum Beispiel: Warum wachsen die Bäume?“
Schnell drehen sich die Gespräche um flammenwerfende Ostberliner Punks, um den unterschiedlichen Schmelzpunkt von Baseballkappen und Cowboyhüten sowie um verschiedene Möglichkeiten, mit Musik reich und berühmt zu werden. Auf kommunikativen Serpentinen kommen wir schließlich wieder auf Ali zurück. Der hatte uns eine Denksportaufgabe auf den Weg gegeben: „Wenn man sich im Leben nicht mit dem Jenseits beschäftigt, dann wird es da drüben unter Umständen höllisch ernst. Also kümmert Euch mal um die wirklich wichtigen Fragen. Zum Beispiel: Warum wachsen die Bäume?“ Darüber lässt sich beim Bier umso trefflicher räsonnieren – zweifellos der Höhepunkt eines gelungenen Umfrageabends.
CITY CHICKEN – fabrikfrischer Spinat-Käse-Börek für 1,- Euro – Hermannplatz, direkt an der U-Bahn Haltestelle
TÜRKIYEMGRILL – Dönerbude mit hausgemachtem Ayran und Ülker-Cola Turka für je 0,90 Euro – Kottbusser Damm 31
HASIR OCAKBASI – türkisches Restaurant mit offenem Holzkohlegrill und Warsteiner vom Fass – Adalbertstraße 12
KREUZBURGER – hochwertige hausgemachte Burger ab 2,40 Euro auf Wunsch mit Neulandfleisch – Oranienstraße 190
FRANKEN – Punk’s not dead, Schnäpse ab 1,60 Euro, Atmosphäre kostenlos – Oranienstraße 19