Berlin will nicht mehr Bonn sein: Was wird aus der deutschen Parteiendemokratie?



Bonn ist nicht Weimar“, so fasste Fritz René Allemann 1956 erleichtert seine Analyse der noch jungen Bundesrepublik zusammen. Und wie verhält sich nun die Berliner Republik zur Bonner Republik? Ist Berlin – immer noch – Bonn? Und wenn nicht, worin bestehen Unterschiede? Fünf Jahre Berliner Republik legen eine Zwischenbilanz nahe, die auch dadurch ihren Reiz erhält, dass die Jahre der Berliner Republik auch die Jahre einer sozialdemokratisch geführten Bundesregierung sind. Welche Züge – so also die Leitfrage dieser kleinen Fingerübung – weist der jüngste Abschnitt bundesrepublikanischer Parteienherrschaft in der Berliner Republik auf, und wie unterscheiden sich diese von den Grundmustern aus den Bonner Jahren?

Die Stabilität der Bonner Parteiendemokratie beruhte im Wesentlichen auf drei Säulen: einer verfassungstheoretisch und praktisch schlüssigen Variante der parlamentarischen Demokratie, der Tabuisierung extremistischer Politik und der weitgehenden „Sozialdemokratisierung“ des Parteienwesens. Auf die ersten beiden Elemente dieser Stabilitätstrias soll hier nicht näher eingegangen werden. Die Regierungsform der parlamentarischen Demokratie besteht auch in der Berliner Republik fort; sie hat ihre Funktionstüchtigkeit auf Bundes- und Länderebene auch nach der Vereinigung eindrucksvoll unter Beweis gestellt.

Die Tabuisierung der politischen Extreme ist mit der wachsenden Distanz zum Dritten Reich und den kommunistischen Regimen der Sowjetära brüchig geworden. Gerade die Erfolge der Rechtsparteien bei den Landtagswahlen in Brandenburg und Sachsen zeigen, dass ein beträchtlicher Teil der immer schon vorhandenen Wähler mit rechtsextremistischen Einstellungen nun auch entsprechende Parteien wählt. Damit hat sich Deutschland einer Reihe europäischer Nachbarn angeglichen; und dies geht mit Ausbrüchen von Hass und Gewalt vor allem im lokalen Kontext einher. Gleichwohl ist dieser sich neu manifestierende Extremismus – bislang – nicht in der Lage, eine systemische Alternative zur Demokratie zu formulieren.

Komplizierter verhält es sich mit der frühen „Sozialdemokratisierung“ der bundesrepublikanischen Parteien, der dritten und wichtigsten Säule demokratischer Stabilität. Sie bestand im Wesentlichen aus der breiten Hinwendung zum Sozialstaat und der ebenfalls die Parteigrenzen überschreitenden Akzeptanz der Verteilungsgerechtigkeit als Grundlage und auch Verheißung der demokratischen Ordnung. Dass sich diese „Sozialdemokratisierung“ der Bonner Parteien lange vor dem Eintritt der Sozialdemokraten in die Regierungsverantwortung vollzog, ja, diesen dann auch noch weiter hinauszögerte, ist schon fast eine ironische Pointe. Natürlich ging die „Sozialdemokratisierung“ der bürgerlichen Parteien auf andere philosophische Wurzeln zurück als bei der SPD selbst; und vielleicht würde ein Historiker dafür auch einen anderen Begriff wählen. Sie prägte gleichwohl die politische Programmatik und Praxis der deutschen Parteien mit je unterschiedlicher Intensität.

Die Sozialdemokratisierung der Bonner Republik

So leiteten sich die Sozialstaats- und Gerechtigkeitsvorstellungen bei den Christdemokraten und Liberalen aus der christlichen Soziallehre und den in Deutschland eher randständigen Traditionen eines auf sozialen Ausgleich und Chancengleichheit bedachten Liberalismus ab und wurden zumeist erst in den späten sechziger Jahren als Teil eines umfassenden sozialdemokratischen Mainstream begriffen. Sie standen auch stets in Konkurrenz zu anderen Leitwerten wie etwa der „formierten Gesellschaft“ mit einem klaren Oben und Unten bei den Konservativen oder den Ideen individueller Leistung und Marktfreiheit als ordnungspolitische Vorgaben. Und man mag darüber spekulieren, ob die Annäherung der Union und der Liberalen an die Sozialstaats- und Gerechtigkeitsvorstellungen im ersten Nachkriegsjahrzehnt nicht auch in taktischer „Furchtvernunft“ darauf abzielte, in Deutschland linke Mehrheiten nach französischem oder britischem Vorbild zu verhindern. Wie auch immer, die zumindest partielle „Sozialdemokratisierung“ der Union und der Liberalen beeinflusste die politische Entwicklung der Bundesrepublik in mehrfacher Hinsicht.

Es kam nicht nur zu einem breiten Anwachsen des privaten Wohlstands, das Zutrauen in die Demokratie stärkte und sozialen Frieden sicherte. Die „soziale Marktwirtschaft“ war als wirtschaftpolitisches Leitmotiv auch eine wesentliche Ursache für die Transformation der CDU in eine erfolgreiche Volkspartei ab 1953, die ihre Anhänger nicht nur wegen ihres überkonfessionellen christlichen Ansatzes, sondern auch wegen ihrer sozialen Integrationskraft in der unteren Mittelschicht und in erheblichen Bereichen der Arbeiterschaft rekrutieren konnte. Darüber hinaus bereitete die grundsätzliche Akzeptanz von Sozialstaat und Gerechtigkeit durch das bürgerliche Lager den Boden für die Mehrheitsfähigkeit der SPD, sobald sich diese von dem Odium einer Milieupartei für die Industriearbeiterschaft befreit und nach Godesberg dem „Bürger Trend“ geöffnet hatte.

Vor allem jedoch führte der Allparteienkonsens im Blick auf Sozialstaat und Gerechtigkeit zu jener eigentümlichen Entwicklung der bundesrepublikanischen politischen Kultur, die durch die Entstehung und Verfestigung sozialstaatlicher Orientierungen und Gerechtigkeitserwartungen bis weit in die Mittelschichten hinein gekennzeichnet war. Die breit verankerte Sozialstaats- und Gerechtigkeitsorientierung begünstigte seit den 60er Jahren nicht nur einen kontinuierlichen Aufstieg der SPD in die Regierungsver- antwortung zunächst in der Großen Koalition und dann in dem sozialliberalen Reformbündnis. Sie verhinderte auch, dass es in der Bundesrepublik selbst nach dem Wechsel zu Helmut Kohls Kanzlerschaft bis weit in die neunziger Jahre zu neoliberalen Rosskuren à la Reagan und Thatcher kam.

Eine Kluft zwischen Bevölkerung und Eliten

Erst in den neunziger Jahren bahnt sich eine Kluft im Blick auf den sozialstaatlichen Konsens zwischen der großen Mehrheit der Bevölkerung und den Eliten in den Parteien an. Mit den neuen Wählern im Osten wächst zunächst noch im Gefolge der Vereinigung erwartungsgemäß der Anteil derjenigen an, die sich an dem Modell eines gerechten Wohlfahrtsstaates orientieren. Aber zugleich gerät Deutschland auf der Ebene der politischen, aber vor allem auch wirtschaftlichen und medialen Eliten in den Bann des ideologischen Konfliktes zwischen den Apologeten des Sozialstaates und ihren scharfen neoliberalen Kritikern, der im angelsächsischen Bereich seit den späten siebziger Jahren die innenpolitischen Auseinandersetzungen beherrscht hatte. Auf dem Wirtschaftsflügel der Union, vor allem aber in der FDP findet grundlegende Kritik am Sozialstaat schnellen Zuspruch.

Die Bundestagswahl 1998, der eigentliche Übergang zur Berliner Republik, schuf hinsichtlich der ideologischen Positionierung der deutschen Parteien eine verwirrende und teilweise absurde Gemengelage. Zwar belegt eine ganze Reihe von Analysen, dass vor allem die Hoffnungen der Wähler auf eine kraftvolle Neubelebung des Sozialstaats der SPD zum glanzvollen Sieg und der Union zu einer bitteren Niederlage verholfen hatten. Aber die Führungen beider Parteien setzten sich mit finsterer Entschlossenheit über diesen Sachverhalt hinweg und entwickelten in den folgenden Jahren politische Ansätze, die bei allen Unterschieden im Detail einzelner Vorhaben konsequent gegen das mehrheitsstiftende ideologische Syndrom vom gerechten Sozialstaat zielten.

Die Sozialdemokraten unter Gerhard Schröder und Franz Müntefering widmeten sich seit 1999 und nochmals verstärkt ab März 2003 mit der Agenda 2010 einem Um- und Rückbau des Sozialstaats. Unter Verweis auf allerlei Gründe – Globalisierung, demografischer Wandel, Generationengerechtigkeit, Haushaltsengpässe – rückte die SPD von ihren klassischen wohlfahrtsstaatlichen Traditionen ab und näherte sich einer ideologischen Position an, in der unternehmerische Dynamik, individuelle Leistungs- und Risikobereitschaft und ein Abrücken vom traditionellen Postulat der Verteilungsgerechtigkeit die zentralen Eckpfeiler bilden. Die Folgen dieser ideologischen Neubestimmung sind bekannt; die SPD hat seit 1999 eine beispiellose Serie von Wahlniederlagen erlitten.

Die Union konnte lange Zeit von diesem unerwarteten Paradigmenwechsel der SPD profitieren und eilte von einem Wahlsieg zum anderen. Zum einen stützte sie sich dabei auf eine Anhängerschaft, die wegen ihres höheren sozialen Status eher ideologische Distanz zum Sozialstaat mit vollziehen kann; zum anderen vermieden CDU und CSU lange Zeit genauere programmatische Festlegungen und konnten dadurch ihre noch wesentlich radikaleren Reformabsichten gegen die sozialstaatlichen Sicherheitsmechanismen kaschieren. Die Stimmenverluste der CDU bei den letzten Wahlen im Gefolge des innerparteilichen Streits um die Gesundheitspolitik erwecken freilich den Anschein, als sei diese Schonfrist vorbei.

Aber nicht die Stimmenverluste der beiden großen Parteien an sich sollen hier im Zentrum stehen, sondern die von beiden in den ersten Jahren der Berliner Republik inszenierte Abkehr von dem Bonner Konsens hinsichtlich des Models des gerechten Sozialstaats. Dass die SPD unter Gerhard Schröder bei der Abkehr von der „Sozialdemokratisierung“ eine prominente Rolle gespielt hat, mag als ironische Revanche für die frühe Hinwendung der Union zur „Sozialdemokratisierung“ in den fünfziger Jahren gelten.

Die Parteien haben viele Wähler freigesetzt

Damit entsteht in der Berliner Republik eine ideologische Distanz zwischen Bevölkerung und Parteien, die es in dieser Form bislang in der Nachkriegsgeschichte nicht gegeben hat. Zum einen wirkt sie als Repräsentationsdefizit. Ein erheblicher Teil der Wähler, und hier vornehmlich die auf Sozialstaat und Verteilungsgerechtigkeit ausgerichteten Gruppen aus der unteren Hälfte der sozialen Pyramide, ist gewissermaßen aus dem klassischen bundesdeutschen Parteiensystem freigesetzt worden. Welche Auswirkungen diese Freisetzung auf die Entwicklung der Wahlbeteiligung und für die Erfolgschancen neuer, rechter und linker (Protest-)Parteien hat, bleibt abzuwarten. Zum anderen hat die gemeinschaftliche Abkehr der beiden großen Parteien vom vormaligen bundesrepublikanischen Ideal des Sozialstaats und seiner Gerechtigkeit auch weit reichende Folgen für die Formulierung politischer Entwürfe und Optionen. Zugespitzt könnte man sagen: Die Parteien sind das lästige Problem los, Gleichheit und Gerechtigkeit mit strengen Maßstäben messen und nachweisen zu müssen. Den Anschein von Chancengleichheit und Generationengerechtigkeit wird man im Zweifelsfalle leichter erzeugen können.

Damit aber werden die gesellschaftspolitischen Parameter in Deutschland neu definiert: Berlin will nicht mehr Bonn sein. Die bislang in der Bonner Republik – und erst recht in der DDR – vorherrschenden Wohlfahrts- und Gerechtigkeitsnormen geraten in den Hintergrund und werden in der Berliner Republik – so hat es den Anschein – zukünftig von einem Gesellschaftsbild überlagert, in dem schärfere Gegensätze zwischen Arm und Reich, Oben und Unten, in dem die Randständigkeit bestimmter Gruppen und der Überfluss bei anderen leichter zu begründen und zu tolerieren sind. Ob eine so gewandelte Auffassung von Gesellschaft dann am Ende dasselbe Maß an demokratischer Stabilität, an politischer Identifikation und an sozialem Frieden dauerhaft hervorbringen und bewahren kann, wird wohl über den Erfolg der Berliner Republik und der Rolle der Sozialdemokratie in ihr entscheiden.

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