Berliner Blockade
Der Ausbruch der europäischen Finanz- und Schuldenkrise hat die Bundesrepublik Deutschland in den Fahrersitz der EU katapultiert: Die Geschicke der Union werden ebenso in Berlin bestimmt wie das Schicksal der Regierungen krisengeschüttelter Mitgliedsstaaten. Ob Griechenland, Spanien, Portugal oder jüngst Zypern: Euro-Rettungsschirme werden nicht länger in Brüssel vorverhandelt, sondern in der deutschen Hauptstadt. Zudem kann keine europäische Regierung mit Garantien bei der Aufnahme von Krediten rechnen, wenn sie nicht dem deutschen Spardiktat huldigt. Die Wirtschafts- und Finanzkraft des Landes hat Deutschland in der EU zur unabdingbaren Nation gemacht. Dabei fällt es vielen deutschen Politikverantwortlichen schwer, diese Position der Stärke positiv zu besetzen.
In Anbetracht der Eurokrise und mit Blick auf die Vergangenheit des Landes scheinen sich die Außen- und Europaexperten in Berlin in einem Punkt einig: In sicherheits- und verteidigungspolitischen Fragen muss diese deutsche Dominanz durch eine übermäßige Zurückhaltung kompensiert werden. Doch das ist ein Fehler. Denn seit geraumer Zeit mangelt es an einer Fortentwicklung der Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik (GSVP) der EU. Weder im Kanzleramt, welches das Auswärtige Amt bei der Ausgestaltung europäischer Politik überholt hat, noch im Verteidigungsministerium, dem mit Thomas de Maizière ein dezidierter Europa-Skeptiker vorsteht, scheint es dafür Ambitionen zu geben. Mehr noch: Je stärker die unmittelbare Nachbarschaft der EU mit den Umbrüchen in der arabischen Welt in Bewegung gerät, desto eiserner schweigt Berlin. Beispielsweise bezogen auf Libyen, Mali oder Syrien findet europäisches Handeln statt – doch Deutschland schert aus dem Konzert aus.
Nach deutschen Taten sucht man vergeblich
Bei aller wohlfeilen Zurückhaltung übersieht die Regierung in Berlin, dass ihr Verhalten eines der bedeutendsten Integrationsprojekte der kommenden Jahre zu Fall bringt: die Zusammenführung der Sicherheits- und Verteidigungspolitiken aller EU-Mitgliedsstaaten. Parteiübergreifend spricht man sich hierzulande zwar für eine Aufwertung der GSVP aus, Taten sucht man aber vergeblich. Dabei finden sich sowohl im Koalitionsvertrag der jetzigen schwarz-gelben Regierung als auch in den Programmen und Programmentwürfen der Oppositionsparteien für die Bundestagswahl 2013 ausdrückliche Bekenntnisse zur Stärkung der außen- und sicherheitspolitischen Handlungsfähigkeit der EU. Zuletzt appellierten sieben Abgeordnete aller im Bundestag vertretenen Parteien in einem FAZ-Beitrag dafür, „mehr europäische Außenpolitik zu denken“. Doch damit diese nicht nur gedacht, sondern tatsächlich verwirklicht wird, bedarf es mehr als bloßer Rhetorik.
Seit 1999 verfolgen die Mitgliedsstaaten der EU das Ziel, der Union eine auf zivile und militärische Mittel gestützte Operationsfähigkeit zu verleihen. Nur so können Missionen außerhalb der EU zur Friedenssicherung, Konfliktverhütung und Verbesserung der internationalen Sicherheit überhaupt durchgeführt werden. Die im EU-Vertrag festgehaltene Perspektive einer gemeinsamen Verteidigung unterstreicht darüber hinaus das Bestreben, die nationalen sicherheits-, verteidigungs- und rüstungspolitischen Sichtweisen zunehmend anzugleichen. Dies stellt die Grundlage für gemeinsames Handeln dar.
Das Engagement hat abgenommen
Anfänglich entwickelte sich die GSVP zu einem dynamischen Politikbereich der EU. Innerhalb weniger Jahre wurden militärische und zivile Fähigkeitskataloge erarbeitet und eine Europäische Sicherheitsstrategie verabschiedet. Allein zwischen 2003 und 2008 konnte die EU im Durchschnitt jährlich drei bis vier neue Missionen oder Operationen auf den Weg bringen. Die Tatkraft der EU-Mitgliedsstaaten geriet jedoch alsbald ins Stocken. Im Dezember 2008 wurde die von einigen Mitgliedsstaaten angeregte Neufassung der Europäischen Sicherheitsstrategie auf unbestimmte Zeit vertagt. Es stellte sich heraus, dass die EU-Partner große Schwierigkeiten haben, Einvernehmen über die Frage herzustellen, in welchen Krisen die Union tätig werden soll und welche Ziele sie mit ihrem operativen Engagement erreichen will.
In der Folge dieser Auseinandersetzung hat das operative Engagement der Mitgliedsstaaten spürbar abgenommen. Nur fünf der bislang insgesamt 29 EU-Operationen wurden nach 2008 aufgenommen. Momentan ist die EU allenfalls noch in der Lage, Ausbildungs- und Trainingsmissionen bescheidenen Umfangs auszuführen. Bis heute bleiben zudem die vereinbarten Fähigkeitsziele unerreicht, die die EU dazu befördern sollten, sich auch ohne amerikanische Unterstützung aktiv im Krisenmanagement engagieren zu können.
Um die nationale Souveränität nicht zu verletzen und allen Mitgliedsstaaten die Teilnahme an der Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik der EU zu ermöglichen, basiert die Umsetzung der Fähigkeitskataloge auf dem Prinzip der Freiwilligkeit. Doch nur eine Minderheit der Mitgliedsstaaten bringt die Bereitschaft auf, zusätzliche Mittel für die notwendigen Investitionen bereitzustellen. Entsprechend konnten qualitative Defizite bis heute nur unzureichend behoben werden. Im Gegenteil, die Kürzungen der nationalen Verteidigungshaushalte, die bislang nicht im europäischen Rahmen koordiniert werden, haben die Unzulänglichkeiten weiter verstärkt. Im Bedarfsfall stehen formal gemeldete Ressourcen nur selten zur Verfügung. Aus Enttäuschung über die mangelnden Fortschritte bei der Verbesserung der operativen Kapazitäten der EU wendet sich eine wachsende Zahl von Mitgliedsstaaten von der gemeinsamen Strategie ab. Sie setzen stattdessen auf eine bi- oder multilaterale Zusammenarbeit außerhalb des gemeinsamen Rahmens.
Für den Niedergang der europäischen Ambitionen trägt die Bundesrepublik Deutschland eine entscheidende Verantwortung. Denn seit mehreren Jahren sperren sich die politischen Verantwortlichen in Berlin gegen Fortschritte bei der sicherheits- und verteidigungspolitischen Integration. Ende 2008 etwa scheiterten die Neufassung der Europäischen Sicherheitsstrategie und die Weiterentwicklung militärischer Fähigkeiten an der deutschen Zurückhaltung. In der Folge hat sich die deutsche Regierung zwar durch öffentliche Erklärungen stärker um Fortschritte bemüht, doch wirklich passiert ist nichts.
Fragwürdige »Kultur der Zurückhaltung«
So lancierte Deutschland im November 2010 gemeinsam mit Schweden ein „Food for Thought“-Papier zur „Intensivierung der militärischen Zusammenarbeit in Europa“. Die deutsch-schwedischen Vorschläge zum Pooling und Sharing von Fähigkeiten blieben jedoch hinter den Ambitionen einer Mehrheit von Mitgliedsstaaten zurück. Sie zielten vorrangig auf Training, Logistik und Kommandostrukturen ab. Ausgespart blieben die dringend benötigten Fähigkeiten für militärische Einsätze mittlerer bis hoher Intensität. Es verwundert daher nicht, dass nur elf Projekte aus dieser Initiative hervorgingen, von denen neun mit mäßigem Erfolg weiter verfolgt werden.
Besonders symbolisch für die Berliner Blockadehaltung steht die Enthaltung Deutschlands im März 2011, als der UN-Sicherheitsrat die Resolution 1973 verabschiedete und den Weg ebnete, „alle notwendigen Maßnahmen“ zum Schutze der libyschen Bevölkerung zu ergreifen. Die war zu diesem Zeitpunkt seit Wochen Gewaltanwendungen und blutigen Angriffen ihres Machthabers ausgesetzt. Mit ihrer Enthaltung versagte die Regierung Merkel ihren europäischen Partnern Frankreich und Großbritannien die Unterstützung bei der nachfolgenden Luft- und Seeblockade sowie den Luftangriffen auf libysche Regierungstruppen und Militäreinrichtungen.
Die „Kultur der militärischen Zurückhaltung“ übte Berlin auch zu Beginn des Jahres 2013 aus, als es Frankreich bei seinem militärischen Vorgehen gegen radikale islamistische Gruppen in Afrika nur widerstrebend zur Seite stand. Die Islamisten hatten den Norden Malis eingenommen und gegen die Regierung des Landes geputscht. Mit vielen warmen Worten und der mageren Zusage, auf zwei deutsche Transportflugzeuge zurückgreifen zu können, sandte die Bundesregierung den französischen Staatspräsidenten nach den Feierlichkeiten zum 50. Jahrestag des Deutsch-Französischen Freundschaftsvertrages wieder nach Paris. Erst auf massiven Druck seiner EU-Partner sicherte Deutschland die Entsendung von je 40 Ausbildern und Sanitätern zu, die in Mali im Rahmen einer EU-Mission zum Einsatz kommen sollen.
Im März 2013 schließlich stellte sich Berlin erneut gegen die Mehrheitsmeinung in der EU, welche Waffenlieferungen an syrische Oppositionelle befürwortet. „Es ist wichtig, dass wir in Europa an einem Strang ziehen“, war dazu aus dem Auswärtigen Amt zu vernehmen. Dabei wird vollkommen verkannt, dass gerade Deutschland ein gemeinsames europäisches Vorgehen unmöglich macht.
Klar ist: Um der fortschreitenden Erosion der Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungsstrategie Einhalt zu gebieten, bedarf es einer Kursänderung in Berlin. Deutschland kann den Integrationsprozess in diesem Politikfeld nur durch entscheidende Impulse wieder beleben. Zwei aufeinanderfolgende Schritte sind hierfür erforderlich:
Erstens muss die deutsche Regierung sich zur Europäischen Sicherheitsstrategie bekennen und erneut die Verbesserung militärischer Fähigkeiten in den Blick nehmen. Der Europäische Rat widmet sich im Dezember 2013 dem Thema der gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik, bei dem die Fähigkeitsentwicklung einen zentralen Platz auf der Agenda einnimmt. In dieses Treffen sollte Deutschland Überlegungen einspeisen, wie das Zusammenlegen und Teilen von strategischen Kernfähigkeiten gelingen kann. Auf ein entschiedenes Voranschreiten beim Pooling und Sharing von Fähigkeiten warten vor allem jene EU-Staaten, die besonders hart von der europäischen Schulden- und Finanzkrise betroffen sind. Tschechien und die Slowakei, aber auch die Benelux-Staaten sind bereits jetzt kaum in der Lage, die Verteidigung ihrer Länder aufrecht zu erhalten.
Die Handlungsfähigkeit der EU steht auf dem Spiel
Ein entscheidender Durchbruch könnte erreicht werden, wenn Berlin die Einführung eines Europäischen Verteidigungssemesters vorschlägt und um Unterstützung für diese Idee wirbt. Analog zum Europäischen Semester für die Koordinierung der Wirtschaftspolitik könnte dieses Instrument die Haushaltsdisziplin im Verteidigungsbereich sicherstellen. Zudem könnte es frühzeitig Überschneidungen der Mitgliedsstaaten identifizieren und diese sinnvoll zusammenführen. Ein weiterer Meilenstein wäre es, einen EU-Kommissar für Verteidigungspolitik zu etablieren.
Zweitens muss sich Deutschland für die Erarbeitung strategischer Handreichungen für die GSVP stark machen. Damit würde es eine Entwicklung anstoßen, die in der Neufassung der Europäischen Sicherheitsstrategie münden könnte. Das strategische Umfeld der EU wandelt sich rapide. Darum bedarf es dringend einer gemeinsamen Analyse dieses Umfelds und einer Perspektive für künftige sicherheits- und verteidigungspolitische Prioritäten der EU und ihrer Mitgliedsstaaten. Angesichts der aktuellen Spaltung wegen der Libyenkrise birgt der hierfür notwendige strategische Dialog zwar die Gefahr, dass Differenzen zwischen den Mitgliedsstaaten offen zutage treten. Jedoch ist es im Interesse einer dauerhaft handlungsfähigen EU, dass die strategischen Meinungsverschiedenheiten zwischen den Mitgliedsstaaten auf oberster politischer Ebene im Europäischen Rat eingehend behandelt werden. Vorbereitet von der Hohen Vertreterin der Union für Außen- und Sicherheitspolitik und in Kooperation mit den Mitgliedsstaaten, würde auch dieser Prozess die GSVP-Strukturen stärken.
Sowohl die Belebung des Fähigkeiten-Prozesses als auch ein offener strategischer Dialog verlangen von Deutschland erhebliche Anstrengungen und Zugeständnisse an seine EU-Partner. Diese sind jedoch zwingend geboten. Denn behält man in der deutschen Hauptstadt den Kurs der Zurückhaltung bei, so setzt man das Projekt einer handlungsfähigen Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik der EU unkalkulierbaren Risiken aus. Damit läuft man zugleich Gefahr, einen Meilenstein auf dem Weg zu einer Politischen Union in Europa sehenden Auges scheitern zu lassen.