Beschäftigungsbrücken
Zwischen 1000 und etwa 2000 Mark gibt es in Deutschland derzeit praktisch keine Haupterwerbsjobs. Oft wird die sogenannte "Sozialhilfefalle" oder auch die massenhafte Schwarzarbeit als Begründung für diese Beschäftigungslücke angeführt. Andere argumentieren, dass es ohnehin nicht möglich ist, ein einigermaßen erträgliches Leben mit einem derart niedrigen Einkommen zu führen. Die Gewerkschaften zeigen dementsprechend wenig Interesse an einer Ausweitung der Arbeitsmöglichkeiten in diesem Bereich. Die Einführung
eines Niedriglohnsektors ist weitgehend ein politisches Tabuthema. Dass damit jedoch ein wichtiges Mittel zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit aus der Hand gegeben wird, scheint denjenigen, die im wesentlichen auf die Interessensvertretung der noch im Berufsleben Befindlichen ausgerichtet sind, nicht so recht klar zu sein. Es geht vor allem um die Möglichkeit einer Reintegration von Langzeitarbeitslosen in den Arbeitsmarkt. Diese Gruppe umfasst nach den Novemberangaben der Bundesanstalt für Arbeit immerhin 35 Prozent der Arbeitslosen insgesamt, Tendenz steigend. Hinter dem Niedriglohn-Thema lauert jedoch auch eine grundsätzliche Frage: Welchen Einfluss hat die Lohnhöhe auf die Beschäftigung?
Prinzipiell sollte diese Frage längst geklärt sein. Auf dem Arbeitsmarkt stehen sich zunächst einmal, wie auf anderen Märkten auch, Angebot und Nachfrage gegenüber. Das ökonomische Korrektiv, also der Preis, auf diesem Markt ist der Lohn. Damit ist nicht behauptet, dass freie Lohnbildung zum völligen Verschwinden der Arbeitslosigkeit führen würde, da Arbeitsangebot und -nachfrage in einem solchen Fall gerade in Übereinstimmung gebracht wären; dazu ist der Arbeitsmarkt durch stark asymmetrische Informationsverteilung, unterschiedliche Anpassungsgeschwindigkeiten und zahlreiche Regulierungen viel zu unvollkommen. Daraus folgt jedoch, dass dem Lohn bei jeder Diskussion über Strategien zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit eine Schlüsselrolle zufällt.
Die relevante Größe ist dabei nicht der Nettolohn, den die Beschäftigten nach allen Abzügen zum Ausgeben in der Tasche haben, sondern der für das Arbeitsangebot der Unternehmer relevante Bruttolohn, einschließlich aller vom Arbeitgeber zu erbringenden Sozialabgaben und Lohnzusatzkosten. Dass die Spreizung zwischen Brutto- und Nettolöhnen ein entscheidender Grund für die hohe Arbeitslosigkeit in Deutschland ist, war zu Beginn der jetzigen Legislaturperiode in weiten Teilen der Gesellschaft Konsens. Reformen des Gesundheits- und Rentensystems, der 630-Mark-Jobs und Scheinselbständigkeit sowie die Ökosteuer hatten alle die konzeptionelle Stoßrichtung, über eine Senkung der Lohnnebenkosten die Arbeitslosigkeit zu verringern. Dieser richtige Ansatz scheint jedoch bei den derzeitigen Gesprächen im Bündnis für Arbeit, dem zentralen Gremium zur Entwicklung von Strategien zum Abbau der Arbeitslosigkeit, völlig ins Hintertreffen geraten zu sein.
Insbesondere für den Bereich der sogenannten einfachen Arbeiten mit geringer Entlohnung spielt die Frage der Lohnnebenkosten eine entscheidende Rolle. Bei den derzeitigen Arbeitskosten kann es in einem solchen Niedriglohnsektor zu keiner Beschäftigung kommen. Und dies hat eine bittere Folge für Berufsanfänger mit geringer Bildung sowie Langzeitarbeitslose: Der Einstieg ins Arbeitsleben wird für sie nahezu unmöglich.
Je mehr Personen aber nicht mehr für ihren
eigenen Lebensunterhalt zu sorgen im Stande sind und Zuwendungen aus den Sozialkassen beziehen, desto stärker steigen die für die Arbeitsnachfrage der Unternehmen relevanten Bruttoeinkommen, aus denen diese Sozialleistungen finanziert werden müssen.
Daneben sind Dequalifizierungsprozesse zu beobachten, die eine Rückkehr ins Berufsleben um so schwerer machen, je länger die Arbeitslosigkeit andauert. Das Humankapital von Langzeitarbeitlosen wird abgewertet, weil Fertigkeiten und Fachwissen verlernt werden bzw. sich Berufsbilder angesichts des technologischen Wandels immer schneller verändern. Die Aussichten, einen Job zu finden, schwinden mit zunehmender Dauer der Arbeitslosigkeit.
Dadurch entsteht eine Gruppe innerhalb der Gesamtheit der Beschäftigungslosen, die nicht mehr mäßigend auf die Lohnbildung bei den Tarifverhandlungen wirkt, da die Arbeitgeber bei überhöhten Lohnforderungen die Option verlieren, auf gleich gut qualifizierte Arbeitskräfte auszuweichen, die aufgrund ihrer Arbeitslosigkeit eine geringere Entlohnung akzeptieren würden. Die Folge ist, dass sich das allgemeine Lohnniveau erhöht, was den Wiedereinstieg von Langzeitarbeitslosen zusätzlich erschwert. Mit jeder Entlassungswelle vergrößert sich der Anteil derjenigen, die nicht sofort einen neuen Job finden. Die beschriebenen Dequalifizierungsprozesse setzen ein. Das Heer der (Langzeit-)Arbeitslosen wächst weiter an.
Eine Strategie, die diesem Effekt Rechnung trägt, kommt um eine Auseinandersetzung mit Formen von Lohnzuschüssen nicht herum. Am subventionierten Niedriglohnsektor führt kein Weg vorbei, wenn der hohe Standard der Sozialleistungen beibehalten und gleichzeitig die Arbeitslosigkeit massiv verringert werden soll. Arbeitsbeschaffungs- und Fortbildungsmaßnahmen - das hat die Vergangenheit gezeigt - sind bei weitem nicht in der Lage, die Abwertung des Humankapitals bei Langzeitarbeitslosen zu stoppen.
Trotz zahlreicher Anläufe werden Vorstöße in diese Richtung jedoch immer wieder mit dem Hinweis auf Mitnahmeeffekte und die geringe Zielgenauigkeit der Maßnahmen abgewehrt: Unternehmen hätten bei einer generellen Subvention von niedrigen Einkommen zu starke Anreize, bisher besser entlohnte Arbeiten in diesen Bereich zu verlagern, um in den Genuss der staatlichen Gelder zu kommen, beziehungsweise Beschäftigte aus dem Niedriglohnbereich nicht über die Grenze zu den regulären Einkommen hinauskommen zu lassen. Daneben hätte ein subventionierter Niedriglohnsektor zur Folge, dass Teile der sogenannten stillen Reserve - das Arbeitskräftepotenzial außerhalb jeder Arbeitsmarktstatistik - plötzlich auf den Arbeitsmarkt drängen und mit den Langzeitarbeitslosen um die staatlich unterstützten Niedriglohnjobs konkurrieren würden.
Ansätze in Richtung größerer Zielgenauigkeit und Vermeidung von Mitnahmeeffekten könnten in einer Differenzierung der Dauer, des geförderten Personenkreises sowie der Bemessungsgrundlage der Lohnsubventionen liegen. Um einen Niedriglohnsektor zu einem Sprungbrett für Langzeitarbeitslose zur Wiedereingliederung in das normale Berufsleben zu machen, sollte die Möglichkeit geschaffen werden, einen Teil ihrer Sozialbezüge in Lohnsubventionen umzuwandeln. Diese Zuschüsse müssten zeitlich begrenzt gewährt werden, um den Anreiz zur Weiterqualifizierung für Arbeitnehmer und Unternehmen zu wahren. Die sich aus der Umwandlung von Zahlungen aus den Sozialkassen ergebenden Zuschüsse sollten an den Arbeitnehmer gezahlt beziehungsweise gleich mit seinen Sozialversicherungsbeiträgen verrechnet werden, um für die Arbeitgeber die Anreize zu Mitnahmeeffekten möglichst gering zu halten.
Vorschläge dieser Art sind bereits in ein Modell der Zukunftskommission der Friedrich-Ebert-Stiftung eingegangen, das für kurze Zeit Grundlage der Verhandlungen im Bündnis für Arbeit war. Dabei wurde eine degressiv gestaffelte Subvention der Sozialversicherungsbeiträge für alle Einkommen zwischen 300 und 2800 Mark vorgesehen. Da es sich hier um eine generelle Bezuschussung handelte, wurde der Vorschlag wegen zu hoher Kosten bei geringer Zielgenauigkeit zunächst zurückgestellt.
Zwei andere Modelle - das sogenannte Mainzer und das Saar-Modell, die beide regional begrenzt für drei Jahre erprobt werden - gehen hier einen Schritt weiter. Während das Saar-Modell wegen der vorgesehenen gleichmäßigen Unterstützung von Arbeitnehmern und Arbeitgebern Mängel aufweist, stellt das Mainzer Modell einen interessanten Ansatz dar. Hier ist die staatliche Subvention von Sozialbeiträgen wie beim FES-Modell degressiv gestaltet und bezieht sich nur auf den Arbeitnehmeranteil. Zusätzlich ist eine Staffelung in Abhängigkeit vom Familienstand vorgesehen.
Eine Weiterentwicklung des Mainzer Modells in Richtung Umwandlung von Ansprüchen aus Sozialtransfers in eine Bezuschussung der Sozialabgaben hätte unter Umständen eine größere Zielgruppengenauigkeit hinsichtlich der Reintegration von Langzeitarbeitslosen. Ein derartiger Ansatz, der eine zeitliche Begrenzung mit einer gestaffelten Subventionierung der Sozialabgaben verbindet, ist ein taugliches Instrument zur Bekämpfung der Langzeitarbeitslosigkeit. Wirtschaftliches Wachstum und technologische Innovationen, Flexibilisierung der Arbeitswelt sowie bessere schulische und berufliche Qualifikation sind zwar ebenso wichtige Mittel zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit. Sie reichen jedoch alleine nicht aus.
Das wichtigste Thema für das Bündnis für Arbeit bleiben die hohen Lohnnebenkosten in Deutschland, die trotz moderater Reallohnerhöhungen und teilweise sogar Reallohnverzichts der Arbeitnehmer weiterhin für die hohe Arbeitslosigkeit hauptverantwortlich sind.