Bessere Ökonomen braucht das Land

Deutschlands Wirtschaftswissenschaftler führen hitzige Debatten darüber, ob es besser ist, Ordnungspolitik zu predigen oder komplexe Modelle über die Wirtschaft zu entwickeln. Beides hilft in der Krise wenig. Die Zunft braucht dringend Praxisbezug

Die Weltwirtschaft steckt in ihrer schwersten Krise seit Jahrzehnten. Die Arbeitslosigkeit steigt, von Nulldefiziten in den Etats ist keine Rede mehr. Kürzlich noch solide wirkenden Unternehmen droht das Aus. Was tun? Wie lassen sich die Konjunkturprogramme noch verbessern? Wann ist es sinnvoll, Unternehmen zu retten? Wie soll das Weltfinanzsystem künftig funktionieren? Und was müsste passieren, um exzessive Handelsdefizite bei Amerikanern und Überschüsse bei Chinesen oder Deutschen abzubauen?

Selten gab es so viele Fragen, die von Fachleuten fürs Wirtschaften dringend beantwortet werden müssten wie 2009. Selten wäre die Chance so groß gewesen, die eigene Nützlichkeit zu beweisen. Doch stattdessen leisten sich Deutschlands Wirtschaftsprofessoren seit Wochen eine groteske Schlammschlacht, in der sie sich gegenseitig vorwerfen, der jeweils andere Teil der Zunft wende die falschen Methoden an. Das Schlimme ist, dass beide irgendwie Recht haben. Denn so richtig scheinen beide Seiten derzeit nicht helfen zu können. Hier liegt das eigentliche Problem: Die Branche braucht dringend wieder mehr Praxisbezug.

Was die anderen machen, sei "von begrenztem Nutzen", schimpfen seit Wochen altgediente Gralshüter deutscher Ordnungspolitik. Da werde Zeit mit der "Zurschaustellung logischer Virtuosität" verplempert. Gemeint sind vor allem Makroökonomen, die in mathematisch ausgefeilten Modellen die Welt der Wirtschaft zu erklären versuchen. Worauf die (selbst ernannten) "modernen" Professoren kontern, die Anderen wollten lediglich ihre "Reservate" behalten, seien international "nicht wichtig" und verkauften Binsenweisheiten. Da kämen bei allem ordnungspolitischen Eifer am Ende doch nur "vage mündliche Beschreibungen" heraus.

Beide Seiten haben nach und nach Appelle vorgelegt, die von wahlweise fast 90 oder 190 Kollegen unterschrieben wurden.* So zerstritten waren die deutschen Ökonomen selten. Das Kuriose ist, dass es in beiden Appellen nicht einmal ansatzweise darum geht, wie das eine oder andere akute Problem in der ersten Weltwirtschaftskrise seit den dreißiger Jahren zu lösen ist - sondern um eher grundsätzlich Methodisches. Im Jahr 2009 liegt das Problem ja nicht darin, dass sich die Deutschen über Formeln in ökonometrischen Modellen sorgen oder ob deutsche Ordnungshüter international renommiert sind. Sondern es geht darum, wie sich die Krise lösen lässt und ob die Experten etwas Sinnvolles dazu beizutragen haben.

Das Wort "Ordnungspolitik" gibt es nur bei uns

In der Tat stößt es international auf Verwunderung, wenn traditionsbewusste deutsche Wirtschaftsprofessoren ihre Aufgabe vor allem darin sehen, ordnungspolitische Grundsätze zu rezitieren und daraus möglichst reine wirtschaftspolitische Grundsatzempfehlungen abzuleiten - nach dem Muster: Staatliche Eingriffe in die Wirtschaft sind per se schlecht. Wenn eine möglichst hohe Zahl ordnungspolitischer Sonntagsreden Wohlstand brächte, wäre Deutschland ein wirtschaftlich blühendes Land - schon weil es nirgends auf der Welt den Begriff "Ordnungspolitik" gibt, geschweige denn Ökonomen, die daraus jedwede wirtschaftspolitische Empfehlung ableiten. Eigentlich dürfte Deutschland dann ja nicht eines der Länder sein, in denen es ordnungspolitisch am schlimmsten zugeht, wie die deutschen Ordnungshüter behaupten. Anscheinend taugt die Methode nicht so recht, zumindest fällt das Ergebnis nach jahrzehntelanger Praxis ganz offenbar dürftig aus.

Ein tieferes Problem der ordnungspolitischen Herangehensweise ist, dass es oft darum geht, selbst postulierte Annahmen als richtig zu deklarieren - ohne sie empirisch, anhand von Daten testen zu müssen. Wer postuliert, dass sinkende Steuern gut sind, kommt eben zu dem Ergebnis, dass es nicht gut ist, wenn die Steuern nicht sinken. Das beantwortet aber nicht die realpolitische Frage, wie viel Wachstum diese oder jene Steuersenkung bringt, und ob andere wirtschaftspolitische Maßnahmen in einem bestimmten Moment mehr brächten. Die Antwort, ob Steuern sinken sollten, hängt ja auch davon ab, wie viel Wachstum man sich in einer ganz bestimmten Situation davon erhofft. Sonst lohnt es nicht, dass der Staat das Geld dafür hergibt.

Am Ende sind ordnungspolitische Empfehlungen deshalb nicht von vornherein falsch, nur oftmals so abgehoben und abstrakt, dass es Politikern entsprechend einfach fällt, sie zu ignorieren
- oder entsprechend schwer, in einer akuten Krise daraus etwas Konkretes abzuleiten.

Nun bedeutet dies alles nicht unbedingt, dass die "modernen" Ökonomen bei der Bekämpfung der Krise viel mehr helfen. In den international publizierten Arbeiten, die unter Wirtschaftswissenschaftlern besonderes Ansehen genießen, wird bei näherer Betrachtung erschreckend viel Zeit mit dem Versuch verbracht, das Wirtschaften, also menschliches Verhalten, in möglichst ausgetüftelte mathematische Formeln zu pressen. Dahinter steckt der ewige Traum, irgendwie auch eine exakte Wissenschaft wie die Physik zu sein - eine Wissenschaft, die mit hoher Exaktheit Dinge bestimmen und vorhersagen kann. Dabei ist dieser Traum schon immer eine Illusion gewesen. Spätestens in der aktuellen Krise hat sich gezeigt, wie sehr menschliches Verhalten von irrationalen Reaktionen, von Herdentrieb und dem Wechsel zwischen Euphorie und Depression abhängt, manchmal auch von krimineller Energie.

Ergebnisse ohne Aussagekraft

Weder Ursachen noch Symptome der Krise passen zur lang gehegten Annahme, dass die Menschen am Ende immer ökonomisch und rational reagieren. Die besagten makroökonomischen Modelle wirken zwar mathematisch anspruchsvoll (zumindest für Laien, Physiker belächeln den Grad der mathematischen Komplexität volkswirtschaftlicher Modelle eher), bieten aber für viele Phänomene keine Erklärung. Die Erkenntnisse sind unverhältnismäßig oft ernüchternd und banal. Was hilft es, wenn der branchenintern hoch gelobte deutsche Makroökonom und Chicago-Professor Harald Uhlig (Eigeneinstufung: "modern") wie vor ein paar Monaten komplizierte Rechnungen darüber anstellt, ob die amerikanische Notenbank Fed und die Europäische Zentralbank ihre Zinsen wirklich so unterschiedlich setzen " wenn er am Ende einräumt, dass die Ergebnisse ziemlich stark davon abhängen, welches Modell man zur Berechnung wählt, und dass sie ohnehin nichts darüber aussagen, wer die bessere Politik gemacht hat. Ein solches Ergebnis ist für Praktiker einfach wenig hilfreich. Inmitten der schlimmsten Wirtschaftskrise seit langem müssen Notenbanker und Minister schnell wissen, welche Politik funktioniert.

Man hört jede Meinung - und ihr Gegenteil

Zur Vermeidung oder Linderung der größten Wirtschaftskrise seit Jahrzehnten haben weder die Anhänger deutscher Ordnungspolitik, noch die "modernen Ökonomen" beigetragen. Kein Wunder, dass das Ansehen der Zunft in der Öffentlichkeit auf einen Tiefpunkt gesackt ist. Zwar haben geübte Prognostiker ziemlich früh vor der Krise gewarnt. Dafür lagen andere wiederum heillos daneben. Selbst als die Aufträge deutscher Unternehmen vergangenen Herbst schon um zweistellige Raten fielen, zogen der Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW), Klaus Zimmermann, oder der Finanzwissenschaftler und Merkel-Berater Stefan Homburg noch mit dem Befund durch Talkshows und Kanzleramtsgipfel, es sei gar nicht ausgemacht, ob es tatsächlich zu einer Rezession komme. Selbst wenn es damals noch ernsthafte Gründe gegeben hätte, daran zu zweifeln, wäre es wirtschaftspolitisch hilfreich gewesen, vor der Krise und ihren Folgen zu warnen. Dann hätten Notenbanker und Bundesregierung schneller darauf reagieren können.

Im Spott über die Ökonomen schlägt sich in Deutschland nun auch der Unmut darüber nieder, dass Wirtschaftsprofessoren jahrelang mit großer Selbstsicherheit und im Brustton des Wahrheitstragenden die  (minderbemittelten) Nicht-Ökonomen belehrt haben, was ökonomische Vernunft ist, wie und wo die Deutschen Verzicht üben und sich reformieren sollen, damit endlich alles seinen ökonomisch rechten Weg gehen kann. Jetzt hat die Krise so manchen Professor auf dem falschen Fuß erwischt. Und das hat nichts damit zu tun, dass man einen Schock wie die Lehman-Pleite und ihre direkten Folgen einfach nicht erahnen konnte. Noch bis in den Herbst hinein beschwor manch einer, dass die Deutschen von der Krise gar nicht betroffen sein würden, da  die Wirtschaft dank der Agenda 2010 viel robuster geworden sei. Da wurden Konjunkturpakete erst verteufelt, dann empfohlen, und die Abwrackprämien als nutzlos beschimpft, die mittlerweile weltweit zum konjunkturpolitischen Renner des Jahres geworden sind. Kürzlich wurde noch gelobt, dass Firmen ihre Mitarbeiter nun schneller entlassen können; jetzt sorgt die Regierung via Kurzarbeitergeld für das Gegenteil. Auch gut.

Helfen Steuersenkungen oder schaden sie?

Dies ist wenig verwunderlich, haben sich doch viele führende Köpfe der deutschen Ökonomie über Jahre mit allem möglichen beschäftigt, nur nicht mit globalwirtschaftlichen Zusammenhängen, der Konjunktur und den Finanzmärkten. Da ging es um die x-te Variante eines ausgeweiteten Niedriglohn-Modells. Oder um Rentenformeln. Fast alle Präsidenten der führenden Forschungsinstitute sind Experten für Details des Arbeitsmarkts. Jetzt steuert die Arbeitslosigkeit wieder auf die 5-Millionen-Marke zu. Und der Verdacht drängt sich auf, dass die viel gelobten Strukturreformen und Kostenentlastungen doch nur einen Teil des Problems gelöst haben und die Zahl der Arbeitslosen im Land viel stärker von konjunkturellen und globalen Entwicklungen abhängt, über deren Beseitigung oder Linderung jahrzehntelang nicht mehr geforscht worden ist. Ein Beispiel dafür sind die Konjunkturpakete.

Was sollen Politiker in akuter Beratungsnot machen, wenn "moderne" Ökonomen nach allerlei mathematischen Verrenkungen zu dem Ergebnis kommen, dass Steuersenkungen der Konjunktur helfen, aber auch negative Auswirkungen haben können? Auch das ist in einem der jüngsten wissenschaftlichen Papiere von Harald Uhlig zu lesen. Was hilft es, wenn umgekehrt ordnungspolitische Gralshüter und Interessenvertreter schimpfen, man habe ja schon immer gewusst, dass Amerikas Geldpolitik zu expansiv war? Und jetzt? Erstens ist es relativ gewagt anzunehmen, dass Banken bei etwas höheren Zinsen nicht die Möglichkeiten genutzt hätten, die sich dank Deregulierung via Schattenbank-Aktivitäten boten. Oder dass sich in Amerika nicht dennoch eine Immobilienblase entwickelt hätte. Zweitens hilft die nachträgliche ordnungspolitische Rechthaberei auch nicht viel weiter bei der konkreten Frage, welche Zinshöhe denn richtig gewesen wäre -und heute richtig ist.

Logik, Intuition und Faktenwissen

John Maynard Keynes hat einmal zu resümieren versucht, was ein guter Ökonom braucht: Logik, Intuition und Faktenwissen. Vielleicht sollten die Ökonomen dahin wieder zurückkehren. Die besten Konjunkturprognosen machen auch heute noch diejenigen, die auf diesen Mix setzen -und weniger auf mathematische Formeln oder ordnungspolitische Deklarationen, wie es die Mehrheit heute tut. Es wäre wahrscheinlich hilfreich, wenn sich moderne Ökonomen wieder mehr von praktischen Kenntnissen und Intuition leiten ließen und ihre mathematischen Modellexzesse einstellen würden. Das ist dann zwar weniger exakt, dafür aber näher an der Realität. Man muss ja nicht ins andere Extrem zurückkehren und eine ordnungspolitische Religionslehre ohne Empirie predigen.

Auch in den Vereinigten Staaten gibt es unter den Ökonomen Theoretiker, Mathematik-Junkies und Grundsatzapostel. Auch dort stehen Wirtschaftswissenschaftler unter Legitimationsdruck. Der Unterschied ist, dass die Betroffenen damit sehr viel selbstkritischer und kreativer umgehen. Dort werden eigene Vorstellungen auch mal revidiert, wenn sie sich als unhaltbar erweisen (für deutsche Ökonomen eigentlich undenkbar). Und es gibt weniger Hemmungen, sich von der reinen Lehre zu verabschieden - da geht nicht gleich das ordnungspolitische Abendland unter. Selbst von der Marktwirtschaft überzeugte Denker wie der Nobelpreisträger Edmund Phelps räumen ein, dass die Krise auch ein Scheitern der Annahme ist, dass sich Märkte immer wunderbar selbst regulieren. In ihrem viel beachteten neuen Buch über die Animal Spirits schildern Nobelpreisträger George Akerlof und Crash-Prophet Robert Shiller auf fast 300 Seiten, warum die Wirtschaftswissenschaft von bisherigen Annahmen Abschied nehmen und dringend neue Wege gehen sollte.

In den USA mischt sich die Abgehobenheit eines Teils der Ökonomenschaft mit einem ausgeprägten Hang, Topökonomen direkt in die Politik einzubeziehen. Da beraten große Wissenschaftler den Präsidenten, und zwar nicht, indem sie einmal jährlich ein dickes Gutachten überreichen oder in einer Anhörung darlegen, wie sie die Welt sehen. Sondern als Angestellte auf Zeit im Weißen Haus. Das hilft, Lösungen zu entwickeln, die ökonomisch vielleicht nicht optimal sind, dafür aber in der Praxis umsetzbar.

Von beidem könnten die Deutschen lernen. Hierzulande spielen Ökonomen in der Politik so gut wie keine Rolle mehr, was die Ökonomen gern auf vermeintlich beratungsunwillige Politiker schieben. Dabei gilt es in der deutschen Zunft eher als Makel, wenn jemand in die Politik geht. Dort muss man Kompromisse machen, wie furchtbar. Das steht dem deutschen Hang zum Grundsätzlichen einfach entgegen. Entsprechend weltfremd klingen dann aber oft auch die akademischen Empfehlungen.

Was deutsche Ökonomen bräuchten, ist eine Wiedereingliederung in die Welt real zu lösender Wirtschaftsprobleme. Vielleicht sollte jeder Professor verpflichtet werden, regelmäßig Praxissemester in Ministerien, im Kanzleramt oder beim IWF zu absolvieren. Im Gegenzug müssten Universitäten dann gewährleisten, dass die Entsandten auch einfacher wieder in die Hochschulen zurückkommen.
Helfen könnte auch, wenn Wirtschaftsprofessoren alle, sagen wir, drei Jahre Demut üben und mindestens eine eigene Idee aufzählen müssten, die jetzt überholt scheint. Und wenn sie hin und wieder darlegten, was die eigene Forschung zum Wohl des Landes beiträgt. Oder dass sie richtig prognostiziert haben, wie sich die Wirtschaft entwickelt. Es würde vielleicht auch schon einiges bringen, wenn die eigene Lehre praxisnäher definiert würde und jeder Student am Ende des Studiums sagen könnte, wie hoch das Bruttoinlandsprodukt ist oder wie man Inflationsraten berechnet (kein Scherz, das wäre neu).

All das würden Wissenschaftler wahrscheinlich ganz furchtbar finden. Muss die Forschung nicht frei sein? Klar. Nur scheinen manche Vertreter der Ökonomie noch gar nicht realisiert zu haben, wie viel Glaubwürdigkeit ihre Zunft in der aktuellen Krise verloren hat. Und wie weit sich viele Ökonomen davon entfernt haben, die drängendsten realen Probleme lösen zu helfen. Da könnte das eine oder andere Praktikum die Chancen erhöhen, wieder Ernst genommen zu werden - eher jedenfalls als ein deutsch-deutscher Streit über Methoden, die der Welt derzeit wenig helfen.

Anmerkung
* Der Streit läuft vor allem auf Basis von zwei Aufrufen, die im Internet abgerufen werden können:
Die "Unzufriedenen":
http://www.faz.net/s/RubB8DFB31915A443D98590B0D538FC0BEC/Doc~EA1E6687105BC44399168BC77ADE64F8A~ATpl~Ecommon~S content.html
Die "Modernen":
http://www.handelsblatt.com/politik/nachrichten/deutsche-vwl-braucht-internationale-standards;2338804

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