Bildung nur durch den Staat?



Wer die Leitsätze für das neue Grundsatzprogramm der SPD durcharbeitet, erkennt schnell, dass die bildungs-, forschungs- und innovationspolitischen Abschnitte unterbelichtet sind. Auf konkrete Fragen geben die Leitsätze keine Antwort. Wird sich die SPD nach der erfolgreich gestarteten Exzellenzinitiative jetzt auch im Grundsatzprogramm für Elite-Universitäten aussprechen? Wird unter dem Eindruck der Pisa-Studie das Bekenntnis zur Gemeinschaftsschule offensiver ausfallen? Will die SPD die in CDU-Ländern eingeführten Studiengebühren wieder abschaffen, wenn sie die nötigen Mehrheiten zurückgewinnt? Ist es richtig, wenn der Bund im Grundgesetz auf Kooperationen mit den Ländern in der Schulpolitik weitgehend verzichtet?

Die Leitsätze sind in einer für normale Leser schwer verdaulichen Sprache verfasst, die schon im Berliner Programm nur wenigen gefiel. Viele glatt geschliffene, manchmal banale, manchmal pathetische Sätze verdecken die wenigen zutreffenden Analysen einer veränderten politischen Wirklichkeit sowie einige kreative Ansätze für eine erneuerte sozialdemokratische Programmatik. Diese Diktion wird das neue Grundsatzprogramm der SPD nicht populärer machen als seine Vorgänger.

Anschaulichkeit schadet nie

Natürlich hat ein Grundsatzprogramm andere Funktionen als ein Regierungsprogramm. Es bestimmt in der Regel keine Wahlauseinandersetzungen – wohl aber die Identität der Partei. Deshalb dürfen die Analysen der gesellschaftlichen Wirklichkeit und die Beschreibung der sozialdemokratischen Grundwerte und Zielvorstellungen durchaus so anschaulich ausfallen, dass Interessierte sie lesen und sich somit identifizieren können.

Diese Kritik trifft in besonderer Weise auf den Abschnitt zur Bildungspolitik zu. Zunächst definieren die Leitsätze Bildung zutreffend als Voraussetzung für die Freiheit zur eigenen Lebensgestaltung: „Nur wenn Menschen den Zugang zu öffentlichen Gütern wie Bildung und Information haben und wenn sie ausreichende materielle Absicherung genießen, sind sie in der Lage, ein freies Leben zu führen.“ Zugleich wird „Teilhabe an Bildung“ als Voraussetzung für „Chancengleichheit“ bezeichnet und aus dem Grundwert der Gerechtigkeit hergeleitet. Bildung solle kein Privileg weniger, sondern Mittel zur Emanzipation möglichst aller werden.

Um diesen Bildungsoptimismus zu verstärken, der aus der Zeit der Aufklärung in die sozialdemokratische Programmatik einfloss, wird Bildung erstmals als „öffentliches Gut“ definiert. Daran ist nichts auszusetzen, es darf jedoch nicht zu einer falschen Akzentsetzung verleiten. So heißt es nämlich an anderer Stelle: „Wenn wir in Zukunft einen hohen Wohlstand erhalten wollen, dann sind mehr öffentliche Investitionen in soziale Dienstleistungen, Bildung, Innovation und Infrastruktur notwendig.“ Und wieder anderswo: „Eine innovative und wettbewerbsfähige Wirtschaft setzt deutlich mehr Investitionen in Bildung, Forschung und Infrastruktur voraus. Notwendig ist eine stetig ansteigende öffentliche Investitionstätigkeit.“

Warum sollen nur die öffentlichen Investitionen und Ausgaben für die Bildung steigen? Was spricht angesichts des großen privaten Reichtums dagegen, dass deutlich mehr private Mittel in die Bildung fließen? Deutschland wendet im internationalen Vergleich deshalb zu wenig für Bildung auf, weil der private Sektor hierzulande weitgehend ausfällt. Um mehr privates Geld in den Bildungsbereich zu locken, müssen dort – ganz im Sinne der an anderer Stelle in den Leitsätzen zu Recht geforderten „freiheitlichen Bürgergesellschaft“ – mehr Angebote zur gesellschaftlichen Mitwirkung gemacht werden.

Kindergärten, Schulen und Hochschulen müssen staatlich gewährleistet und öffentlich auf Qualität kontrolliert werden; sie müssen aber nicht in jedem Fall auch vom Staat selbst betrieben werden. Viele freie Schulen von sehr guter Qualität beweisen das. Beispielsweise können Hochschulen als Stiftungen oder Schulen als eigenverantwortliche Einrichtungen betrieben werden, in denen Eltern, Sportvereine, Kultureinrichtungen oder Handwerksmeister mitwirken und Verantwortung übernehmen. Kurzum: Die Leitsätze sind zu sehr auf die Rolle des (starken) Staates fixiert und legen zu wenig Gewicht auf die Entfaltung gesellschaftlicher und bürgerschaftlicher Potenziale.

Die Kraftquellen des 21. Jahrhunderts

Auf Bildung und Innovation nehmen die Leitsätze an verschiedenen Stellen Bezug, zudem ist diesen Politikfeldern ein eigener, 12 Sätze umfassender Absatz gewidmet: „Bildung und Wissen“, heißt es dort, seien die „großen sozialen und gesellschaftlichen Kraftquellen des 21. Jahrhunderts“. Gute Bildung und Ausbildung entschieden nicht nur über die Innovationskraft und Wettbewerbsfähigkeit der Gesellschaft, sondern mehr denn je über die Zukunft des einzelnen Menschen, seine individuelle Freiheit, seine Lernfähigkeit und kulturelle Offenheit, seine Urteils- und Kritikfähigkeit und nicht zuletzt die Chancen der Selbstverwirklichung. Bildung und Ausbildung werden hier aber nicht nur in ihren emanzipatorischen Dimensionen gesehen, sie „bedeuten auch Erziehung. Junge Menschen müssen die Normen und Werte unserer Gesellschaft lernen“. Die Leitsätze fordern, dass der „Zugang zu Bildung, Ausbildung und Kultur [als] ein zentrales Element von Chancengleichheit und Teilhabegerechtigkeit“ nicht von der sozialen und ethnischen Herkunft oder dem Geschlecht der Menschen abhängig sein dürfe: „Der Zugang zum Studium muss Begabten aus allen Schichten breiter geöffnet werden. ... Es geht uns um die bestmögliche Bildung für alle vom Kindergarten über die Schule bis in die Hochschule sowie um die gleichzeitige Förderung der Breite und an der Spitze.“

Die lernende und innovative Gesellschaft

Alles, was da steht, ist richtig und dürfte nicht einmal von der politischen Konkurrenz in Frage gestellt werden. Um die SPD als Partei der Bildung, der Forschung und Innovation stärker zu profilieren, sollte der Entwurf einer lernenden und innovativen Gesellschaft im Programm eigenständiger und umfassender herausgestellt werden. Wir verfügen heute über genügend Erkenntnisse, um die gravierenden Probleme unseres Bildungs- und Innovationssystems zu lösen. So ist wissenschaftlich nachgewiesen, dass die ersten Lebensjahre für die Sprach- und Intelligenzentwicklung der Kinder und ihre damit verbundenen Bildungschancen von größter Bedeutung sind. Über die Chancenverteilung wird in dem Bereich am stärksten entschieden, in dem die öffentlichen Bildungseinrichtungen bisher am schwächsten entwickelt sind: bei der frühkindlichen und elementaren Bildung. Hier muss ansetzen, wer ausschließen will, dass auch in Zukunft 15 Prozent aller Jugendlichen – überwiegend aus unteren sozialen Einkommensgruppen und Migrantenfamilien – die Schule ohne Abschluss verlassen und daher ohne Chancen auf einen Arbeitsplatz sind.

Kinder aus nicht-deutschsprachigen Familien der Unterschicht bekommen nur dann eine faire Chance, wenn sie ab dem Alter von drei Jahren einen Kindergarten besuchen. Eine Kindergartenpflicht ab dem vierten Lebensjahr sollte deshalb nicht länger Tabu sein. Um die Möglichkeiten frühkindlicher Bildung zu nutzen, müssen Kindertagesstätten pädagogisch besser vorbereitet werden. Für Leitungsaufgaben in Kindergärten sollte künftig eine Fachhochschul-Ausbildung Voraussetzung sein. Einschulungen sollten als fließender Übergang von der vorschulischen Bildung in altersübergreifenden Eingangsgruppen erfolgen. Es ist hinlänglich bekannt, dass in Deutschland die Chancen längeren gemeinsamen Unterrichts immer noch zu wenig genutzt werden. Das von Konservativen bis heute bevorzugte dreigliedrige Schulsystem ist vor dem Hintergrund einer in den letzten Jahren erfreulich entideologisierten Bildungspolitik eine anachronistische Ideologiefixierung. Die Modernisierung der dualen Ausbildung, der Ausbau der Fachhochschulen, die Stärkung der Natur- und Technikwissenschaften gehören ebenso zum Leitbild einer lernenden und innovativen Gesellschaft wie die Vermittlung wirtschaftlicher Kenntnisse und die Entfaltung unternehmerischer Talente.

Kein anderes Politikfeld eignet sich besser für das, was der „vorsorgende Sozialstaat“ als neues Leitbild beabsichtigt: „Der vorsorgende und in die Menschen investierende Sozialstaat ... soll die Menschen aktivieren, ihr Leben in eigener Verantwortung zu gestalten.“ Dies funktioniert nur, wenn die Menschen durch Bildung und Ausbildung ihre Potenziale entfalten können. Dies erfordert gewaltige finanzielle Umschichtungen zugunsten des Bildungs- und Forschungssektors wie innerhalb des Bildungssektors. Klar ist: Man kann nicht gleichzeitig den vorsorgenden und den nachsorgenden (reparierenden) Sozialstaat auf höchstes Niveau bringen. Im Grundsatzprogramm muss sich die SPD deshalb entscheiden, ob sie an dieser Stelle das gefällige Sowohl-als-auch bevorzugt – oder ob sie durch klare Aussagen Profil gewinnt.

zurück zur Ausgabe