Bittere Erfahrungen im niederländischen Koalitionsparadies

zum Schwerpunkt "Fünf Freunde im Nebel", Berliner Republik 2/2008

Seit kurzem ähnelt die politische Landschaft der Bundesrepublik jener im kleinen Nachbarstaat Niederlande: Es ist ein Mehrparteiensystem entstanden, in dem zum Regieren Koalitionen aus mehr als zwei Parteien notwendig sind, welche unterschiedlichen, ja sogar gegensätzlichen ideologischen Familien und gesellschaftlichen Milieus angehören. Trotzdem müssen sich diese Parteien auf ein gemeinsames Regierungsprogramm einigen. Dies hat der niederländisch-amerikanische Politikwissenschaftler Arend Lijphart „konsensuale Demokratie“ genannt.

Wie funktioniert dieses System in den Niederlanden, das gelegentlich scherzhaft als siebzehntes Land der Bundesrepublik bezeichnet wird? Zunächst: Bis vor kurzem war unser System sehr stabil – hauptsächlich aufgrund der starken, zentralen Position der Christdemokraten: Sie konnten zwischen einer Mitte-Links- oder einer Mitte-Rechts-Koalition wählen. Fast ein Jahrhundert lang waren die niederländischen Christdemokraten an der Regierung. Die Ausnahme bildeten nur die „violetten“, sozial-liberalen Regierungskoalitionen in den neunziger Jahren unter Führung des sozialdemokratischen Premierministers Wim Kok.

Wir haben es in Holland jedoch nicht nur mit einem Mehrparteiensystem zu tun, sondern auch mit einem äußerst proportionalen repräsentativem System ohne Fünf-Prozent-Hürde und Wahlkreissystem. Deshalb kann jede kleine Partei Sitze im Parlament erobern, was eine ziemlich fragmentierte politische Landschaft zur Folge hat. Der niederländische Hang zu „calvinistischem“ Sektierertum glich jedoch eine politische Kultur der Konsenssuche und der friedlichen Verhandlung unter den Eliten aus, die mit dem so genannten Poldermodell in den industriellen Beziehungen des Landes vergleichbar ist.

Die Existenz eines Mehrparteiensystems und die Notwendigkeit, Koalitionsregierungen zu bilden, müssen allein noch nicht zu politischer Instabilität führen. Warum zeigen sich politische Beobachter dann in der letzten Zeit so besorgt über die Instabilität des Parteiensystems? Der Grund, so glauben wir, liegt nicht im Parteiensystem selbst, sondern in der turbulenten Natur des politischen Lebens seit Beginn des neuen Jahrhunderts. Diese Turbulenzen können sowohl mit Entwicklungen auf der Nachfrageseite (Wählerpräferenzen und neue gesellschaftliche Konfliktlinien oder cleavages) als auch auf der Angebotsseite (Parteien und Regierungseliten) erklärt werden.

Mehr Gemeinsamkeiten als bloß eine Grenze

Auf der Nachfrageseite haben Globalisierung, Einwanderung und wirtschaftlicher Strukturwandel zu einer Neuverteilung der Chancen von Menschen, Unternehmen und Regionen geführt. Das hat neue cleavages geschaffen. Auf der Angebotsseite haben sich die etablierten Parteien der Mitte – ob halbherzig oder aus voller Überzeugung – allesamt daran gemacht, die nationalen Wohlfahrtsstaaten an die neue Weltordnung anzupassen. Damit erzeugen sie Unsicherheit, Instabilität und ein Grundgefühl ständiger Bewegung („flux“). So entsteht rechts und links Raum für neue politische „Unternehmer“.

Mit Blick auf die Angebotsseite haben Deutschland und die Niederlande mehr gemeinsam als nur eine Grenze. Die politischen Nachkriegssysteme beider Länder waren dominiert von jeweils zwei großen Volksparteien, der Sozialdemokratie und der Christdemokratie. Dabei haben die Christdemokraten in beiden Ländern seit dem Zweiten Weltkrieg mit relativ kurzen Unterbrechungen regiert. Wie entscheidend der christdemokratische Einfluss für die spezifische Konstruktion der Wohlfahrtstaatlichkeit in beiden Gesellschaften gewesen ist, hat erst jüngst der niederländische Politologe Kees van Kersbergen in seinem Buch Social Capitalism: A Study of Christian Democracy and the Welfare State (2007) gezeigt und damit der Wohlfahrtsstaatentypologie von Gøsta Esping-Andersen ein weiteres Kapitel hinzugefügt.

Rheinische Modelle im Übergang

Aufgrund des Einflusses christdemokratischer Ideen und Politiken sind van Kersbergen zufolge sowohl in den Niederlanden als auch Deutschland sehr spezifische Typen von Wohlfahrtsstaaten entstanden, charakterisiert durch korporatistische Verhandlungssysteme sowie ein besonderes Verständnis von sozialer Sicherheit („sozialer Kapitalismus“). Damit verbunden sind zugleich spezifische Nachteile. Im Unterschied zum „sozialdemokratischen“ skandinavischen Modell, standen in unseren Wohlfahrtsstaaten passive Transferzahlungen mit starker Ausrichtung auf Familien im Vordergrund, während aktive Arbeitsmarktpolitik und die Beteiligung von Frauen am Erwerbsleben vernachlässigt wurden.

In den frühen neunziger Jahren begann die PvdA, diesen Typus von Wohlfahrtsstaat zu reformieren; die SPD schlug gegen Ende des Jahrzehnts und besonders ab 2003 denselben Kurs ein. Für die niederländischen Sozialdemokraten war unter diesem Gesichtspunkt die von Wim Kok angeführte sozial-liberale „lila“ Koalition der Wendepunkt; in Deutschland war es die Ära Schröder mit den Arbeitsmarkt- und Sozialreformen der „Agenda 2010“. In beiden Staaten sah es 1998 so aus, als gelänge den Sozialdemokraten – mit Vorstößen weit hinein in traditionell christdemokratisch besetztes Gebiet – die wahlpolitische Eroberung der gesellschaftlichen Mitte. In den Niederlanden war die Rede davon, dass die Christdemokratie nach und nach ganz verschwinden könnte. Und auch in Deutschland machte sich Bundeskanzler Schröder aus Anlass der CDU-Spendenaffäre 1999 öffentlich Sorgen um den Fortbestand der Christdemokraten als Volkspartei. Doch wie man weiß, sind Wiedergeburten im Fall der christdemokratischen Parteien umso wahrscheinlicher, je schwerer sie unter Feuer stehen.

Beide Länder lassen sich als rheinische Modelle im Übergang beschreiben. Als rheinische Modelle aufgrund ihrer gemäßigten Einkommensunterschiede und Umverteilungspolitiken, dem verbreiteten Gedanken der arbeitnehmerischen „Teilhabe“ an Unternehmen und Wirtschaft sowie der hervorgehobenen Rolle der Gewerkschaften – oder, kurz gesagt, aufgrund ihrer Ausprägung als soziale Marktwirtschaften. Im Übergang befinden sich beide Länder, weil der traditionelle, transferorientierte Wohlfahrtsstaat nicht allein aufgrund äußeren und inneren Drucks der Erneuerung bedarf, sondern auch aus politischen Gründen: Das alte Modell hat die Emanzipation von Frauen und Einwanderern behindert sowie jenen keine Leitern für den sozialen (Wieder-) Aufstieg bereitgestellt, die in die Abhängigkeit von sozialen Transferleistungen gerieten.

Den Preis entrichten die Sozialdemokraten

Auf den Weg der Erneuerung des rheinischen Sozialmodells haben sich in Deutschland wie in den Niederlanden sowohl Christdemokraten als auch Sozialdemokraten gemacht. Den wahlpolitischen Preis für die schmerzhaften Reformen und Anpassungen der vergangenen Jahre scheint aber in beiden Fällen die Sozialdemokratie weitaus mehr entrichten zu müssen als die Christdemokratie. Zugleich ist es den liberalen Parteien ungeachtet der liberalen Gesamtstimmung, die in den vergangenen Jahrzehnten in Politik und Gesellschaft herrschte, paradoxerweise nicht gelungen, deutliche wahlpolitische Fortschritte zu machen: Die deutsche FDP ist eine Partei der Zahnärzte und Apotheker geblieben; die niederländische VVD war drauf und dran, zur größten liberalkonservativen Partei Europas zu werden, reibt sich mittlerweile aber in internen Streitigkeiten zwischen Rechtspopulisten und Neoliberalen auf.

Die Sozialdemokraten in Deutschland und in den Niederlanden haben in den Wahlen der jüngsten Vergangenheit nicht nur in der gesellschaftlichen Mitte verloren, sondern bekamen es – wie die Erfolge der Linkspartei und der Socialistische Partij zeigen – zugleich mit heftigen Mitbewerbern und zunehmender Fragmentierung am linken Rand zu tun. Als Volksparteien sind beide Sozialdemokratien angewiesen auf Integration und leiden daher unter der weiter zunehmenden Individualisierung der Gesellschaft. Als Staats- und Regierungsparteien trifft sie die Erosion des öffentlichen Vertrauens in die politischen Institutionen. Als sozialdemokratische (oder sozialistische) Parteien erleben sie, wie ihre traditionelle Wählerschaft aufgrund von Prozessen der Postindustrialisierung und wissensbasierten Tertiarisierung, der Internationalisierung und Migration nach und nach aufgerieben wird.

Die nachreformatorische Situation

Vor diesem Hintergrund navigieren die PvdA und die SPD derzeit – bei allen größeren und kleineren Kontextunterschieden – unter sehr ähnlichen Bedingungen. Beide Parteien befinden sich in einer gleichsam „nachreformatorischen“ Situation. Beide sind Koalitionspartner der Christdemokraten, die jeweils den Regierungschef stellt. Beide sehen sich den Angriffen linkspopulistischer Oppositionsparteien ausgesetzt. In den Niederlanden kommt eine rechtspopulistische Opposition hinzu, die besonders in Einwanderungs- und Integrationsfragen auch traditionelle Stammwähler der Sozialdemokraten anspricht. (Vertreten wird diese Tendenz durch die Partei von Geert Wilders, die VVD sowie die Bewegung „Trots op Nederland“ der früheren Einwanderungsministerin Rita Verdonk). In Deutschland ist die rechtsextremistische, sozial- und nationalpopulistisch agitierende NPD in drei Landtagen vertreten. Angesichts des Auftauchens einer Linksoption im Parteiensystem, die gegenwärtig bereits im Bundestag vertreten ist, ist die Etablierung einer Rechtsoption jedenfalls nicht mehr ausschließen.

Aufgrund ihrer Reformstrategien sind SPD und PvdA beziehungsweise deren führende Politiker anfällig für die Kritik der populistischen Parteien bezogen auf die Qualität öffentlicher Dienstleistungen, soziale Sicherheit, die europäische Integration sowie die wachsende Kluft zwischen hohen und niedrigen Einkommen, gut Gebildeten und tendenziell Zurückfallenden ohne ausreichende Schulbildung – in der Gesellschaft insgesamt ebenso wie innerhalb der beiden sozialdemokratischen Parteien selbst.

Das Bild wird dadurch noch komplexer, dass die SP und die Linkspartei politische Wettbewerber, ja Feinde von PvdA und SPD sind, in der neuen Mehrparteienkonstellation zugleich aber auch potenzielle künftige Koalitionspartner. Dies bedeutet ein überaus schmerzhaftes strategisches, politisches und programmatisches Trilemma. Umso mehr, als diese Parteien „parasitäre Klone“ der klassischen sozialdemokratischen Parteien sind, die vorgeben, die authentische Sozialdemokratie vor ihren „Reformirrwegen“ zurückzubringen. Eine klassische Geschichte, die ein ehemals populärer SPD-Politiker sogar lebensgeschichtlich verkörpert: Oskar Lafontaine!

Wenn plötzlich nichts mehr ausgeschlossen ist

Was die Nachfrageseite angeht, waren die niederländische Verhältnisse in den vergangenen sechs Jahren politisch extrem turbulent. Dies gilt nicht nur für die Wahlergebnisse, sondern auch für das politische Klima im weiteren Sinne: Es war geprägt durch Drohungen und politischen Mord, instabile Regierungskoalitionen und Parteien. Seinen amerikanischen Kollegen Baumgarten und Jones folgend, beschreibt der niederländische Politologe Jouke de Vries diese extremen Turbulenzen als ein „gebrochenes Gleichgewicht“ der Politik: die plötzliche Unterbrechung der stabilen, evolutionären Entwicklung durch eine politische Revolte oder gar Revolution. „Es scheint, als sei in solch einer Phase nichts ausgeschlossen. Alte Führungspersonen und Symbole werden ausgetauscht, die vorherrschende politische Agenda wird radikal kritisiert, neue Konfliktlinien erhalten Aufmerksamkeit und eine wilde Politisierung setzt ein. In solch einer Situation sind drastische politische Entscheidungen möglich, die Handlungsspielräume erscheinen enorm vergrößert. Ein gebrochenes Gleichgewicht ist deshalb tatsächlich die turbogeladene Variante eines politischen Paradigmenwechsels, inklusive aller Bestandteile des Standardmodells.“(1)

Die gewohnten niederländischen politischen Beziehungen und die politische Kultur – konsensorientierte Entscheidungsfindung, stabile Regierungskoalitionen, vorsichtiger Umgang mit politischen Minderheiten – wurden unsanft gestört, als im Jahr 2002 die postmoderne populistische Bewegung Pim Fortuyns aufkam. Diese Bewegung lehnte nicht nur weitere Einwanderung ab und richtete die Aufmerksamkeit auf die mangelhafte Integration bestimmter Einwanderergruppen. Sie prangerte auch die schlechte Qualität öffentlicher Dienstleistungen wie Bildung oder Pflege an; sie wandte sich gegen den Islam, gegen das Establishment und vor allem gegen die Sozialdemokratie, also gegen die PvdA. Kurz vor den Wahlen im Jahr 2002 wurde Pim Fortuyn ermordet – anschließend gewann seine Partei List Pim Fortuyn (LPF) 26 von 150 Sitzen im niederländischen Abgeordnetenhaus und trat in die Regierung ein.

Neue Themen und Trennlinien

Der Modernisierungskurs, den Regierungen überall auf der Welt eingeschlagen haben, hat auf verschiedene Wählergruppen Druck ausgeübt. Deren Vertrauen wurde darüber hinaus von einigen langfristigen Trends untergraben. Dabei geht es gar nicht so sehr um eine Verschiebung von links nach rechts. Vielmehr werden neue Themen und Trennlinien in politische Präferenzen und ins Wahlverhalten übersetzt: Sicherheitsbedürfnis, Verlangen nach lokaler Identität, Unsicherheit über die soziale und wirtschaftliche Zukunft sowie abnehmendes Vertrauen in die etablierte Politik und die politischen Parteien. Die großen ökonomischen Umwälzungen der Globalisierung und der neuen Technologien wirken sich zwar nicht auf jeden Bürger gleich aus, doch sie resultieren in einer Neuverteilung der Chancen auf Teilhabe und Erfolg. Besonders das individuelle Bildungsniveau bestimmt die Lebenschancen und Zukunftserwartungen des Einzelnen, sein Vertrauen in die Politik und in die öffentlichen Institutionen. All diese Entwicklungen werden nicht immer direkt und sofort in ein bestimmtes Wahlverhalten übersetzt. Aber sie bilden den neuen Kontext, in dem politische Parteien heute agieren.

Die Transformation des politischen Spielfelds

In den Niederlanden und in anderen europäischen Ländern führt der wirtschaftliche und kulturelle Modernisierungsprozess zu einer neuen sozialen Polarisierung in Gewinner und Verlierer. Diese bildet die Basis der jüngsten populistischen Revolte. Wissenschaftler der Universitäten Zürich und München unter Leitung von Hans-Peter Kriesi haben eine vergleichende Analyse von sechs europäischen Ländern angefertigt. Sie kommen zu dem Ergebnis, dass der Prozess der Globalisierung in den westeuropäischen Ländern zu einem neuen strukturellen Konflikt geführt hat: Diejenigen, die von der Globalisierung profitieren, stehen denen gegenüber, die von ihr keinen Nutzen haben. Der strukturelle Gegensatz zwischen Gewinnern und Verlierern bringt eine neue politische Konfliktlinie hervor und transformiert so das politische Spielfeld. Als Haupttriebfeder der derzeitigen Transformation der westeuropäischen Parteiensysteme erachten die Wissenschaftler jene Parteien, die am erfolgreichsten die Interessen und Ängste der Verlierer ansprechen.(2)

Damit ist politische Instabilität die neue Grundbedingung der europäischen Parteiensysteme. Massenparteien verlieren ihre Massen, Volksparteien werden entvölkert. Die Wähler wiederum driften. Sie verlieren ihre natürlichen Bindungen zu Klasse, Religion, Lager oder Milieu. Auf neue politische Kräfte, neue Parteien oder populistische Bewegungen reagieren sie entweder aufgeschlossen oder mit zynischer Haltung. Damit ist die postmoderne Demokratie eine Zuschauerdemokratie geworden: Wähler und Bürger konsumieren die gerade angebotenen programmatischen Versprechen als politische Unterhaltung. Die dauerhafte Medienberichterstattung hat die Politik vollkommen personalisiert. Politiker sind Schauspieler in einem politischen Dauerdrama, stets mit dem Vorwurf angreifbar, sie seien „unauthentisch“ oder „unglaubwürdig“. Diese Entwicklung begünstigt einen härteren, populistischen, vermeintlich „ehrlichen“ politischen Diskurs – auf Kosten der Kunst des Kompromisses und der technokratisch-sachbezogenen Regierungspraxis.

Ein Albtraumszenario für ganz Europa

Ehemals stabile Parteienlandschaften zerfallen. Lange Zeit erfolgreiche und stabile kleine Staaten wie Österreich, die Schweiz, Belgien oder die Niederlande – allesamt konsensuale Demokratien, die auf Konsens, Kompromiss und Pazifizierung aufbauen – hat in den vergangenen zehn Jahren rechtspopulistischer Aufruhr aus dem Gleichgewicht gebracht. Das hat nicht nur ihre Parteiensysteme drastisch verändert, sondern auch das Klima des politischen Diskurses.3 Vier populistische Politikunternehmer brachen die Konsenskultur in diesen ehemals konsensualen Demokratien: Pim Fortuyn, Jörg Haider, Philip Dewinter und Christoph Blocher. Sie hinterlassen fragmentierte Parteiensysteme, in die Defensive geratene Parteien der Mitte und eine Atmosphäre von Politikverdrossenheit und politischem Zynismus.

Und jetzt erlebt auch Deutschland seinen existenziellen Schock politischer Instabilität: die „Ankunft im Vielparteienstaat“ (Frank Decker), das „Ende der symmetrischen Lager“ (Hubertus Heil). Die Autoren der Berliner Republik (2/2008) haben die neuen Entwicklungen anschaulich beschrieben. Deutschland mit seinem dramatischen historischen Erbe trifft das Schreckgespenst der politischen Instabilität sogar noch härter als die umliegenden Nachbarstaaten. Instabile Minderheitenregierungen, Machtblockaden kleiner Parteien, eine ewige Große Koalition, die von extremen Parteien der politischen Ränder attackiert wird – die Deutschen haben für dergleichen stets den Begriff „Weimarer Verhältnisse“ im Hinterkopf. Dabei hat Deutschland im Vergleich zu anderen Ländern noch das Glück, dass das etablierte Parteiensystem einstweilen nur von Linkspopulisten angegriffen wird. Noch problematischer sind rechtspopulistische Bewegungen, die anti-europäische und fremdenfeindliche Stimmungen anheizen. Ohne die Fünf-Prozent-Hürde und ohne das immer noch starke deutsche Rassismustabu könnte das deutsche Parteiensystem aus sechs Parteien bestehen, mit einer rechtspopulistischen Partei (allerdings nicht der NPD) oberhalb von fünf Prozent. In diesem Fall wäre das Weimarer Schreckgespenst sehr viel realer. Doch derzeit trifft diese Analogie eigentlich besser auf die Niederlande oder Belgien zu, wo die Nachkriegstoleranz gegenüber Fremden und Einwanderern in eine ekelhafte und gefährliche islamophobe öffentliche Stimmung umgeschlagen ist. Nicht von ungefähr wird dort regelmäßig auf die dunklen (nationalsozialistischen) Kapitel der europäischen und niederländischen Geschichte Bezug genommen.

Die Linkspartei bietet der SPD großen Anlass zur Sorge. Doch man stelle sich in Deutschland eine rechtspopulistische, von der Bild-Zeitung unterstützte Bewegung vor. Das wäre wirklich ein Albtraumszenario. Nicht nur für Deutschland, sondern für ganz Europa.

Aus dem Englischen von Tobias Dürr und Michael Miebach

Anmerkungen
1 Jouke de Vries, Balkenende en het onderbroken evenwicht in de Nederlandse politiek, in: Frans Becker u. a. (Hrsg.), Vier jaar Balkenende, WBS jaarboek 2006, Amsterdam 2006, S. 27.
2 Hans Peter Kriesi u. a., Globalization and the transformation of the national political space: Six European countries compared, in: European Journal of Political Research 45 (2006), S. 921-956.
3 Dietrich Thränhardt, Xenophobic Populism and the Crisis of Consociational Democracy: Austria, Switzerland and the Netherlands, in: Liber amicorum Kees Groenendijk, Universiteit van Nijmegen 2008, im Erscheinen.

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