Bloß Spuren eines Paradigmenwechsels

Erwerbsarbeit bleibt der Schlüssel zu sozialer Integration. Aber nicht jede Arbeit erhöht die Lebensqualität der Gesellschaft. Wer heute noch Vollbeschäftigung um jeden Preis anstrebt, verwechselt Mittel und Zweck

Vollbeschäftigung innerhalb der nächsten zehn Jahre wiederherzustellen, scheint den Autoren des Papiers "Zukunft in Arbeit" möglich und geboten. Die Position der vier Bundestagsabgeordneten klingt plausibel, weil sie in höherem Wachstum den Schlüssel für mehr Beschäftigung sehen. Beschäftigungspolitik sei vorrangig Wachstumspolitik, erklären sie. Damit setzen sie einen Akzent, der sich wohltuend von der aktuell aufgeflackerten Debatte um eine fehlgelenkte Arbeitsmarktpolitik abhebt. Den Schlüssel zu mehr Wirtschaftswachstum identifizieren sie folgerichtig in einer höheren Investitionsbereitschaft der Unternehmen, in einer europäisch koordinierten Geld- und Finanzpolitik sowie in der gezielten Förderung kleiner und mittlerer Unternehmen. Damit relativieren sie die Rolle der Bündnisgespräche, die in regelmäßigen Abständen zwischen der Bundesregierung und den Vertretern der Konzerne, der Industrie und der Exportwirtschaft inszeniert werden.


Die vier Abgeordneten, die sich weigern, Vollbeschäftigung in Deutschland als sozialromantische Utopie zu betrachten, befinden sich in guter Gesellschaft. Vor vier Jahren hat die Berliner Senatsverwaltung ein wissenschaftlich begründetes, detailliertes Programm zur Halbierung der Arbeitslosigkeit vorgelegt. Bundeskanzler Kohl hatte sich bereits vorher ein gleichlautendes Ziel gesetzt. Schon im Europawahlkampf 1994 hatte die SPD die Losung: "Arbeit, Arbeit, Arbeit" verbreitet. Und Bundeskanzler Schröder wollte den Erfolg seiner Politik daran messen lassen, dass er die Zahl der Arbeitslosen unter die Marke von 3,5 Millionen senke.
Ist es nur die mangelnde Kompetenz der politischen Entscheidungsträger, die bisher verhindert hat, dass das Ziel erreicht wird? Sind, umgekehrt, unkonventionelle Ideen und unverbrauchte Impulse deshalb schon ausreichend, um an die wirtschaftliche Erfolgsgeschichte der Nachkriegszeit anzuknüpfen? Dagegen sind erhebliche Zweifel und Skepsis angebracht. Sie äußern sich in vier Anfragen an das Profil des programmatischen Dokuments.

Worauf gründet das Urvertrauen?

Erstens: Im konjunkturellen Auf und Ab der wirtschaftlichen Dynamik wird zwar die Aufschwungphase von der Regierung vereinnahmt, die Phase des Abschwungs aber wird transnationalen Mächten zugeschoben. Die Rezessionen der vergangenen Jahrzehnte haben jeweils den Sockel der Arbeitslosigkeit verfestigt und erhöht. Der Bundeskanzler mag darauf setzen, dass seine ruhige Hand die verfestigte Massenarbeitslosigkeit mindert; trotzdem sieht er sich genötigt, seine Erwartun- gen der tatsächlichen Entwicklung anzupassen. Worauf gründet also das wirtschaftspolitische Vertrauen in einen langfristigen Wachstumsschub?


Zweifellos verzeichnen die Industriezweige, in denen die neuen Informations- und Kommunikationstechniken eingesetzt werden, ein überdurchschnittliches Wachstum. Diese Techniken scheinen neue Märkte zu erschließen und zusätzliche Arbeitsplätze zu schaffen. Aber folgt daraus, dass die Wachstumsmotorik auf die gesamte Wirtschaft übergreift? Falls die Verfahrenstechniken gegenüber den Produkttechniken überwiegen, erschließen sie in der verarbeitenden Industrie ein beispielloses, bisher nicht ausgeschöpftes Rationalisierungspotential. Die grenzenlose Euphorie der Neuen Wirtschaft, die inzwischen einer nüchternen Beurteilung gewichen ist, mag ein warnendes Signal sein.


Wie ernst sind die Einwände jener Wirtschafts- und Sozialwissenschaftler zu nehmen, die in der Nachkriegszeit eine Ausnahmekonstellation erblicken und Grenzen des Wachstums identifizieren? Materielle Sättigungsgrenzen sind ja in reifen Industrieländern nicht zu übersehen. Der erreichte Lebensstandard und die Pluralität der Lebensformen bewirken, dass Menschen ihre persönliche Identität nicht mehr ausschließlich aus der Beteiligung an der Erwerbsarbeit schöpfen und ihre Erwerbsarbeitszeit zu vermindern wünschen. Der Konflikt zwischen Umweltschutz und Vollbeschäftigung mag vordergründig sein. Aber die positiven Beschäftigungswirkungen einer Energie- und Ressourceneffizienz sind wohl nicht losgelöst davon zu erreichen, ob diese sich auf eine nachsorgende oder vorsorgende Umwelttechnik stützt.

Eingetaucht in Zauberwelten

Zweitens: Warum sind in die weithin präzisen Diagnosen und plausiblen Therapien des Dokuments derart viele nervende Zauberworte eingeflossen? Ob das Sparpaket sowie die so genannten Renten- und Steuerreformen Deutschland "zukunftsfähig" gemacht haben, muss sich noch erweisen. Die Vermutung, dass wirtschaftliche Prosperität nicht nur die notwendige, sondern auch die hinreichende Grundlage sozialer Gerechtigkeit ist, konnte empirisch bisher nicht bestätigt werden. Dass die von der Rentenreform erzwungene private Altersvorsorge ein erster Schritt sei, das Produktivvermögen breit zu streuen, ist Bestandteil rot-grüner Regierungspropaganda. Das hohe Lied eines modernisierten, aktivierenden (Sozial-)Staats, der "fordert und fördert" und damit das Horrorgemälde eines paternalistischen Sozialstaats ablöst, der die Bürgerinnen und Bürger gegängelt und entmündigt habe, gehört wohl zu jener politischen Vernebelung, die Grundrechtsansprüche durch die Barmherzigkeit zivilgesellschaftlicher Akteure ersetzen soll. Ob durch den Appell an eine Kultur der Selbstständigkeit kleine und mittlere Unternehmer davon überzeugt werden, dass die SPD sich zur Partei des Mittelstands mausert, bleibt im Übrigen abzuwarten.


Ein Bruch mit dem herkömmlichen Konzept des Sozialstaats liegt in der Absicht, die Dualität der Sicherungs- und Fürsorgesysteme in eine einzige öffentliche Hand zu überführen. Ein solidarischer Bezugsrahmen wurde bisher verlässlich dadurch hergestellt, dass die Pflichten gemäß der individuellen Leistungsfähigkeit, die Rechtsansprüche gemäß dem individuellen Bedarf definiert wurden.

Große Koalition von Scharping bis Koch?

Das Dokument scheint die aktuelle Debatte über eine angebliche Sozialhilfe- und Arbeitslosenhilfefalle vorwegzunehmen, indem es die mehrfach widerlegte Behauptung wiederholt, dass der Abstand zwischen Sozialleistungen und Einkommen aus Erwerbsarbeit nicht gewahrt beziehungsweise zu gering sei, so dass gering qualifizierte Arbeitnehmer oder Alleinerziehende kaum Anreize fänden, eine niedrig entlohnte Erwerbsarbeit anzunehmen. Besteht die vollmundig zugesagte Hilfe zur Selbsthilfe etwa bloß darin, dass sozialstaatliche Leistungen gestrichen und die öffentlichen Haushalte entlastet werden? Soll eine große Koalition jenes gesellschaftlichen Widerspruchs inszeniert werden, der die Nötigung zur Erwerbsarbeit gerade für diejenigen Mitglieder der Gesellschaft zuspitzt, denen produktive Arbeitsplätze überhaupt nicht angeboten werden können?


Sowohl der hessische Ministerpräsident wie sein niedersächsischer Kollege von der SPD, der Bundesminister Scharping und Angela Merkel, die Mutter der "neuen sozialen Marktwirtschaft", stimmen solchen Plänen zu, die die Aufnahme einer Beschäftigung deutlich attraktiver machen wollen als den Bezug von Transferleistungen. Das belegt, wie weit sich das politische Bewusstsein dieser Politiker von der tatsächlichen Kooperation der Sozialämter und Arbeitsämter auf kommunaler Ebene entfernt hat - und erst recht von der Lebenslage jener Sozialhilfeempfängerinnen und Erwerbstätigen, die als arm einzustufen sind. Zum Glück müssen sie den Sozialstaat des 21. Jahrhunderts für die Bundesrepublik nicht neu erfinden.

Angebotsfixierte Deutungsmuster

Drittens: Das Dokument belegt unübersehbar die Absicht der Autoren, dem Regierungswechsel von 1998 zumindest Spuren eines wirtschaftspolitischen Paradigmenwechsels folgen zu lassen. Ihre Stichworte sind unter anderen die herausragende Rolle von Wirtschaftswachstum, Realinvestitionen und erstem Arbeitsmarkt, die Rangfolge der Güter- und Arbeitsmärkte, die Gleichrangigkeit wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Leistungen sowie die Dringlichkeit, nationale Beschäftigungs-, Geld- und Finanzpolitiken europaweit aufeinander abzustimmen.


Dennoch werden die angebotsorientierten Erblasten der konservativliberalen Wirtschaftspolitik nur halbherzig weggeräumt. Beispielsweise bleibt theoretisch schwer nachvollziehbar, welche Rolle der angeblich zu geringe Abstand von Sozialhilfeleistungen und unterem Tariflohnniveau für die Investitionsneigung der Unternehmen und das wirtschaftliche Wachstum spielen. Ähnlich unbegreiflich ist nach den Erfahrungen der letzten zwanzig Jahre das Nachbeten der bei den Arbeitgeberverbänden beliebten, wenngleich unreflektierten Formeln neoklassischer Modelle, die belegen sollen, dass wirtschaftliches Wachstum und die Neueinstellung von Arbeitskräften bereits durch eine Senkung der Steuern, Lohnnebenkosten und Löhnen in greifbare Nähe rücken. Auch das Abwägen der Vorteile von Umweltsteuern oder Umweltzertifikaten bleibt ein Glasperlenspiel, solange nicht eingeräumt wird, dass die Preiselastizität der Nachfrage vermutlich gering ist, und dass die vermeintlichen Märkte politische Märkte sind.


An die erste Stelle der Innovationsfelder für Wachstum, Beschäftigung und soziale Teilhabe haben die Autoren die (individuelle) Qualifikation gesetzt. Nun stimmt zwar die Beobachtung, dass sich unter den Langzeitarbeitslosen überdurchschnittlich viele befinden, die nicht oder niedrig qualifiziert sind, und dass der Nachfrage der Arbeitgeber nach qualifizierten, mit der Informations- und Kommunikationstechnik vertrauten Arbeitskräften kein vergleichbares Angebot entspricht. Doch daraus folgt noch nicht der Schluss, die Massenarbeitslosigkeit sei durch mangelnde Qualifikation verursacht, werde durch eine bessere Einstiegsqualifizierung beseitigt und durch eine laufend angepasste Weiterqualifizierung vermieden. Die Autoren selbst thematisieren die fehlende Koordination zwischen dem Bildungs- und Beschäftigungssystem und stellen fest, dass Jugendliche während ihrer Ausbildung Kompetenzen erwerben, die sich beim Übergang ins Beschäftigungssystem als wertlos erweisen, und dass andere trotz abgeschlossener Berufsausbildung keine Möglichkeiten haben, die erlernten Qualifikationen zu verwerten. Infolgedessen müssten sie eigentlich vor einer Überbewertung individueller Ausbildungs- und Bildungsanstrengungen als Therapie gegen die Massenarbeitslosigkeit - übrigens einem charakteristischen Merkmal des ersten Armuts- und Reichtumsberichts der Bundesregierung - gewarnt sein.

Den Haushalt schrumpfen genügt nicht

Wünschenswert wäre eine nüchterne Einschätzung des Verhältnisses zwischen dem Ausgleich öffentlicher Haushalte und der Staatsverschuldung. Die Antinomie zwischen der Staatsverschuldung einerseits und öffentlichen Investitionen in den Bildungssektor oder die Verkehrsinfrastruktur anderseits ist offenkundig kein Naturgesetz. Umgekehrt folgt aus der Schrumpfung öffentlicher Haushalte und der Aufstockung privater Haushalte nicht notwendig eine Entlastung der Schwachen und der kommenden Generationen.


Auffällig ist das Schweigen des Dokuments über die Funktion der Finanzmärkte und die Rolle, die diese für das Wirtschaftswachstum und die Beschäftigung spielen. Es erweckt den Anschein kollektiver Bettelei, wenn die Tarifpartner ermahnt werden, der Europäischen Zentralbank keinen Vorwand zu liefern, sich ausschließlich an den fiskalisch und monetär verengten Maastricht-Kriterien zu orientieren und eine rigide Zins- und Geldpolitik zu verfolgen. Dabei entscheidet das Verhältnis der Profite aus realen Investitionen und den Renditen aus Finanzanlagen darüber, ob die Unternehmen reale Erweiterungsinvestitionen vornehmen oder nicht. Tatsächlich ist die Verletzung der goldenen Regel stetigen Wachstums dafür verantwortlich, dass die Investitionsneigung der Unternehmen relativ gering ist.

Wie werden Arbeit und Reichtum verteilt?

Viertens: In dem Dokument werden Verteilungsfragen nicht verschwiegen, aber auch nicht stark gewichtet. Sie tauchen auf, wenn die getrennten Zuständigkeiten der Arbeitsverwaltung und der Sozialämter, die Beteiligung der Belegschaftsmit-glieder am Produktivvermögen, eine erweiterte Grundlage für die Finanzierung der sozialen Sicherungssysteme und die Alternativen der Steuerentlastung privater Haushalte und höherer Verschuldung öffentlicher Haushalte thematisiert werden.


Eine ausdrücklich verteilungspolitische Reflexion im Interesse von mehr Wirtschaftswachstum und Beschäftigung drängt sich jedoch aus folgenden Gründen auf: Wenn die Industriewirtschaft von der Wissensökonomie abgelöst wird, besteht erstens eine Alternative zur absehbaren gesellschaftlichen Polarisierung, in der hochqualifizierte Wissensarbeiter angemessen entlohnt werden, während niedrig qualifizierte Arbeitskräfte, die einfache haushalts- und personenbezogene Dienstleistungen übernehmen, nur geringe Einkommen erzielen. Die Wirtschaftssubjekte einer kulturellen Erlebnisgesellschaft würden medizinische, pädagogische, kommunikative, therapeutische und musische Dienstleistungen nachfragen und anbieten, falls sie kognitive, soziale und ästhetische Kompetenzen besitzen, die sie in einem entsprechend veränderten Bildungssystem erworben haben. Aus einer solchen Perspektive erweisen sich die in dem Dokument skizzierten einfachen Arbeiten, die öffentlich subventioniert werden, als Sackgasse. Sie bieten allenfalls einen möglichen Einstieg in den ersten Arbeitsmarkt, jedoch keinen ernsthaften Anreiz zu einem dauerhaften beruflichen Aufstieg.


Zweitens ist der in der so genannten Kuchenökonomie behauptete Vorrang der Produktion vor der Verteilung - erst muss gebacken werden, was danach verteilt werden kann; es ist umso mehr zu verteilen, je größer der Kuchen ausfällt - nicht unbestritten. Dass eine gespreizte Einkommens- und Vermögensverteilung höhere Wachstums- und Beschäftigungswirkungen hervorbringt als eine ausgewogene Verteilung, kann empirisch nicht eindeutig festgestellt werden. Produktion und Verteilung sind gleichrangig, weil die Ausgangsverteilung der Kaufkraft die Produktionsrichtung und das Produktionsniveau mitbestimmen, und weil gesellschaftliche Deutungsmuster und Machtverhältnisse die Einkommens- und Vermögensverteilung bereits vorentschieden haben, bevor marktwirtschaftliche Funktionsregeln wirksam werden.


Drittens gibt es eine Alternative zur vollen Beteiligung der Frauen an der Erwerbsarbeit und dem erweiterten Angebot von Einrichtungen der Kinderbetreuung, um den Frauen die Doppelbelastung (schöngeredet zur "Vereinbarkeit") von Erwerbs- und Familienarbeit zu erleichtern. Diese sieht die faire Neuverteilung der vorhandenen gesellschaftlich nützlichen Arbeit und des gesellschaftlichen Reichtums auf Männer und Frauen vor. Vergleichsweise könnte eine andere Verteilung der Erwerbsarbeit angestrebt werden - zwischen denen, die derzeit zu Mehrarbeit gezwungen und daran gehindert werden, ihre Wahlarbeitszeit zu realisieren auf der einen Seite, und den ökonomisch Überflüssigen, die von der gesellschaftlich organisierten Arbeit ausgeschlossen sind, auf der anderen. Dann dürfte jedoch auch gefragt werden, ob es anzustreben ist, dass jede gesellschaftlich wertvolle Arbeit markt- und geldwirtschaftlich organisiert wird. Es könnte sein, dass es für die Lebensqualität einer Gesellschaft viel eher darauf ankommt, Erwerbsarbeit, private Beziehungsarbeit und persönliche Hobbyarbeit intelligent und kreativ so miteinander zu kombinieren, dass persönliche Talente und partnerschaftliche Interessen sich entwickeln können.


Zweifellos bleibt auf absehbare Zeit die Beteiligung an der Erwerbsarbeit der Hauptschlüssel sozialer Integration, wenngleich nicht der einzige. Deshalb ist die Vollbeschäftigung nur unter humanen, feministischen und ökologischen Vorbehalten als erstes und wichtigstes Ziel der Wirtschaftspolitik vertretbar.

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