Börsencrash und Literatur

Hinterher sind alle schlauer. Doch wie konnte die "verrückte Spekulationshetze" der vergangenen Jahre überhaupt ausbrechen? Emile Zolas Roman Geld aus dem Jahr 1891 gibt Antwort auf die Fragen des frustrierten Kleinaktionärs

Wer Bücher liest, hätte schon vor dem Niedergang des Neuen Marktes allen Grund zur Vorsicht gehabt, denn Geldgier zahlt sich in der Literatur selten aus. Die Heerscharen von Geizigen und Wucherern, die die großen europäischen Theaterstücke und Romane bevölkern, werden im günstigsten Fall geläutert (wie zahlreiche Dickens-Gestalten) oder der Lächerlichkeit ausgeliefert wie "L′avare", im ungünstigsten Fall von durchdrehenden Schuldnern wie Raskolnikoff erschlagen. Börsenspekulationen, die übel ausgehen und ganze Familien in den Ruin stürzen, werden in etlichen Romanen des 18. und 19. Jahrhunderts erwähnt; sinistre Spekulanten sind nicht zuletzt in der Unterhaltungsliteratur von Courths-Mahler bis Frank Partnoy gern gesehene Nebenfiguren.


In Anbetracht der immer größeren Bedeutung des Wertpapierhandels und der dramaturgisch reizvollen Möglichkeiten, die der Wechsel von Hausse und Baisse bietet, ist die Spekulation als literarisches Thema allerdings bis heute verblüffend unbeliebt, wie der Schriftsteller Rolf Schneider festgestellt hat ("Hat die Börse keinen Sex?", in: Die Welt vom 22.4.2000). Mit den Details der Finanzgeschäfte jedenfalls mögen sich nur wenige Autoren abgeben. Selbst Tom Wolfes grandioser Gesellschaftsroman "Fegefeuer der Eitelkeiten" informiert nur am Rande über die beruflichen Aktivitäten seines Helden, eines Anleihenhändlers an der Wall Street.


Der wohl wichtigste Roman über die Börse, Zolas "Geld" aus dem Jahr 1891 geht über den Konsens der Dichter, dass Börsengeschäfte schmutzig sind und irgendwann sowieso die Baisse kommt, weit hinaus. Zola spart kein kommerzielles Detail aus und berichtet wie ein Reporter über die Pariser Börse der 1860er Jahre. Für Leser im Jahr 2001, die in jüngster Zeit Kapitalverluste erlitten haben, ist freilich vor allem interessant, dass Zolas Schilderung von Aufstieg und Fall eines Unternehmens verblüffende Parallelen zur Entwicklung am Neuen Markt aufweist. Der Nemax ist Mitte August dieses Jahres auf unter 1100 Punkte gesunken - im März 2000 stand er auf abenteuerlichen 8500 Punkten. Kapital in Höhe von etwa 20 Milliarden Mark wurde bisher vernichtet.

Die Leidenschaft der hungernden Millionen

In "Geld" entwickelt das Finanzgenie Saccard - ein Glücksritter, der sich schon von mehreren Bankrotts wieder erholt hat - gemeinsam mit einem streng katholischen Ingenieur Pläne für ein Unternehmen, das den Nahen Osten wirtschaftlich für Frankreich erschließen soll. Gemeinsam überzeugen sie wichtige Finanziers von ihrer Geschäftsidee. Die "Universalbank" wird gegründet, ein Un-ternehmen, das die Dampfschifffahrtsgesellschaften des Mittelmeers vereinigen, Eisenbahnen durch Sy-rien, Libanon und die Türkei bauen und ein Silber-bergwerk im biblischen Karmel ausbeuten will. Saccard organisiert eine gewaltige Pressekampagne und kauft sogar eine Zeitung, nur um die Werbetrommel für die Universalbank zu rühren. Unter großer öffentlicher Anteilnahme wird das Stammkapital zweimal verdoppelt, werden erste Erfolge bei der Zusammenlegung der Dampfschifffahrtsgesellschaften groß herausgestellt und schön gerechnete Gewinnerwartungen veröffentlicht.


Die Universalbank avanciert zum Modethema in den Salons und Boudoirs, es gehört zum guten Ton in der Pariser Gesellschaft, Aktien von ihr zu besitzen. "Dann kam endlich die entsetzlich große Masse der Kleinen, die trappelnde Herde, die den großen Armeen zu folgen pflegt. Die Leidenschaft stieg vom Salon zur Dienerschaft hinab, vom Bürger zum Arbeiter und Bauern, und schleuderte in diesen verrückten Galopp der Millionen arme Subskribenten mit nur einer, drei, vier, zehn Aktien (...), die ganze ausgemergelte und halbverhungerte Masse der Kleinstrentner, die eine Börsenkatastrophe wie eine Epidemie hinwegfegt und mit einem Male ins Massengrab bettet."


Doch erst einmal steigt der Kurs der Universalbank, scheinbar unaufhaltsam. Ihr Erfolg erklärt sich keineswegs nur durch exzessive Werbung und geschönte Bilanzen. Vielmehr treffen gleich zwei Ziele der Bank den Nerv der Zeit. Zum einen der Gedanke, mit Hilfe von Technik und Finanzkraft den Orient unter französische Vorherr-schaft zu bringen: "Man eroberte Asien mit dem Wurf der Millionen, um daraus Milliarden zu ziehen."

Börsenspekulation als Kreuzzug

Das zweite Ziel ist zu verstiegen, um offen genannt zu werden, es wird nur hinter vorgehaltener Hand ehrfurchtsvoll angedeutet. Eine katholische Bank soll ins Leben gerufen werden, um mit dem Geld der Gläubigen aus aller Welt den Papst, dessen Macht in Italien durch das risorgimento bedroht ist, in Jerusalem anzusiedeln. Börsenspekulation als Kreuzzug: Wer Aktien der Universalbank kauft, kann nicht nur auf gewaltige Renditen hoffen, sondern handelt auch als guter Patriot und Katholik. Der geniale Trendsetter Saccard startet "eine jener verrückten Spekulationshetzen, die alle zehn bis fünfzehn Jahre die Börse verstopfen und vergiften und nur Blut und Ruinen hinterlassen".


Der Zola-Biograph Karl Korn hat darauf hingewiesen, dass beide Ziele der Universalbank eigentlich anachronistisch sind, denn der Imperialismus wie auch der politische Katholizismus wurden nicht in der Kaiserzeit, sondern erst nach 1880 zu vorherrschenden Einstellungen in Frankreich. Der sonst so exakte Chronist Zola stellte hier offenbar die historische Genauigkeit hintan, um den Einfluss aktueller Geistesströmungen auf Wirtschaft und Finanzen zu beschreiben.

Gläubigkeit und Geldgier

Dass die Begeisterung für die New Economy, für all die Internet- und Softwareanbieter, Telekommunikationsfirmen und Medienunternehmen eine unzureichende wirtschaftliche Grundlage hatte, ist heute ein Gemeinplatz. Die Umsätze vieler selbst ernannter Marktführer waren und sind minimal, von Ge-winn nicht zu reden. Hoffnungsreiche Telekommunikationsanbieter wie Gigabell und Dotcoms wie der Online-Händler Webvan gingen pleite. Ge-gen etliche Gründer ermittelt die Staatsanwaltschaft wegen des Verdachts falscher Angaben zur Lage ihrer Firmen. Wie konnte die "verrückte Spekulationshetze" der vergangenen Jahre ausbrechen? Wie kam es zu dieser Spirale aus Gläubigkeit und Geldgier, die die Kurse höher und höher trieb?


Der Erfolg des Neuen Marktes erklärt sich ebenso wie jener der Universalbank im wesentlichen durch das Talent der Gründer, hart am Zeitgeist zu segeln. Und wie bei Zola ist der ideologische Hintergrund der New Economy gestaffelt in niedere und höhere Regionen. Der exotische Reiz des Orients, der biblischen Gefilde, der in "Geld" die Phantasie der Anleger beflügelt, findet in einer Zeit, in der Reisen nach Thailand und in die Karibik ein eher unspektakuläres Sommervergnügen sind, seine Entsprechung im Cyberspace und anderen medialen Traumwelten. So aktuell wie die Ideen des Nationalismus und Imperialismus im Frankreich des ausgehenden 19. Jahrhunderts klang noch bis vor kurzem das heute abgenutzte Schlagwort vom "globalen Dorf", das durch das Internet entstehen sollte.

Grenzüberschreitend, weltoffen, zukunftsträchtig: Worauf könnten diese Trend-Adjektive besser passen als auf Software, die auf Computern in der ganzen Welt läuft, und moderne Telekommunikationstechnik, mit deren Hilfe sich jeder mit jedem von jedem beliebigem Ort aus verständigen kann? Und so umstritten das Ideal des flexiblen, ungebundenen, eigenverantwortlichen und arbeitsfreudigen Beschäftigten in der New Economy auch ist - bis zur Krise des Neuen Marktes wurde zumindest selten in Zweifel gezogen, dass dies die Zukunft sei. Je höher der Nemax stieg, desto unbestreitbarer schienen diese Vorstellungen, desto intensiver wurden sie durch die Medien (unter anderem durch die zahlreichen auf Börsentipps spezialisierten Neugründungen) verbreitet, und desto kauffreudiger wurden die Anleger - was die Kurse nur noch weiter nach oben trieb.

Die Kommunikation, der letzte Fetisch

Überzeugungskraft verlieh den Unternehmen des Neuen Marktes aber noch etwas anderes. Was Zolas Universalbank adelt und den Entscheidungen ihres Vorstands in den Augen der Aktionäre so etwas wie Unfehlbarkeit verleiht, ist die religiöse Aura, die ihre konkreten Projekte umwittert. Um die Jahrtausendwende gibt es nur noch sehr wenige Ideen und Begriffe, die so gut wie unangefochten sind. Zu ihnen gehören, wie Jochen Hörisch in seiner Studie Kopf oder Zahl über das Motiv des Geldes in der Literatur schreibt (in der Geld als das soziale Synthesis schaffende Leitmedium definiert wird, das die Religion beerbt hat), die Begriffe Kommunikation und Verständigung. Wir leben danach in einer Gesellschaft, "die sich mit freundlicher Militanz immer deutlicher als Kommunikations- und Informationsgesellschaft konturiert und begreift. Kommunikation und Verständigung sind in den letzten beiden Jahrzehnten zu regelrechten Fetischbegriffen geworden. In einer libertären Gesellschaft, die fast alles, was einmal unter Tabuschutz stand (...), zur kommunikativen Negation freigegeben hat, gelten ausgerechnet die protoliberalen Kategorien ‚Kommunikation‘ und ‚Verständigung‘ als nicht-negierbar".


Was in den höheren Regionen der philosophischen Hermeneutik, der analytischen Sprachtheorie und der Philosophien von Habermas und Luhmann gilt, ist erst recht in den Niederungen der Lass-uns-drüber-reden-Gesellschaft, in der Welt der Talkshows, Chatter und Handynutzer anerkannt. Die quasireligiöse Stellung der Kommunikation garantierte scheinbar den wirtschaftlichen Erfolg von allem, was auch nur entfernt mit Internet, Medien oder Fernmeldetechnik zu tun hatte.

Jetzt investieren! Aber ganz vorsichtig

Saccards ehrgeiziges Unternehmen scheitert am Ende daran, dass er mit immer verrückteren Methoden - die Universalbank kauft irgendwann ihre eigenen Aktien - die Kurse oben zu halten versucht. Der unausweichliche Bankrott macht zahlreiche Kleinanleger brotlos, während die Aufsichtsratsmitglieder ihre Schäfchen ins Trockene bringen, indem sie auf Baissespekulation umschwenken oder ihre Aktien noch vor dem Kurssturz verkaufen - was übrigens auch vielen Managern von Unternehmen am Neuen Markt gelungen ist. Saccard wird verurteilt, kann aber nach Belgien flüchten, wo er sich bald in die nächste Spekulation stürzen wird.
Übrigens kann der Leser ihm, der wirklich an die Universalbank glaubte und selbst alles verloren hat, kaum ernsthaft böse sein. Und bei aller Kapitalismuskritik resümiert Saccards Geliebte Caroline, die klügste Gestalt des Romans: "Er hatte recht: Das Geld war noch immer der Humus, aus dem die Menschheit von morgen hervorsprießt; das vergiftende und vernichtende Geld war der Keimstoff jedes sozialen Wachstums, der notwendige Dünger für die großen, das Dasein erleichternden Arbeiten."


Insofern können auch heutige Pennystocks-Besitzer etwas Trost aus der Literatur saugen: Die Internet-Revolution mag ihre Kinder gefressen haben, aber vielleicht war doch wenigstens ein bisschen dran an dem Glauben, dass in ihr die Zukunft liegt. Börsenprofis raten, jetzt wieder zu investieren. Diesmal aber schön vorsichtig.

zurück zur Ausgabe