Charisma braucht Organisation
Obama hat eine neue Form des Populismus entwickelt, die nicht mit Negativrhetorik und Angstszenarien spielt, sondern mit einer positiven Botschaft des Ausgleichs und des Optimismus arbeitet. Er gibt sich als Ombudsmann und Volksversteher des postmodernen Amerika, einer neuen Mitte, die die polarisierenden Grabenkämpfe zwischen rechts und links hinter sich lassen will. Geschickt verknüpft er seine optimistische Botschaft sowohl mit der eigenen Lebensgeschichte als auch mit der des Landes. Denn Teil der amerikanischen Erzählung ist der fast schon naive Glaube an Veränderung, an Aufbruch, an eine goldene Zukunft.
Perfekt eingefangen wird diese messianische Botschaft von Obamas Kampagnensymbol. Eine Sonne, die zugleich das O für Obama symbolisiert, geht über dem in Nationalfarben getünchten Land auf. Passend dazu ist der Politnovize aus Chicago angetreten, um eine Kampagne führen, die ohne dumpfen Negativwahlkampf, ohne Verdrehung von Tatsachen, ohne Hin und Her von Anschuldigung und Gegen-Anschuldigung auskommen sollte. Er weigerte sich, die übliche zynische Spin-Doctor-Kampagne vorzuführen, den die professionelle Beraterkaste in Washington den Kandidaten regelmäßig verordnet.
Das Persönliche ist das Effektive!
Diese hohen Standards einzuhalten erwies sich als fast unmöglich. Folgerichtig ist auch der „perfekte“ Obama nach langen Monaten des Vorwahlkampfes auf dem Boden der politischen Realität angekommen. Die Kontroversen um den radikalen Pastor Jeremiah Wright, Obamas Aussagen über verbitterte Kleinstadtwähler in Pennsylvania und seine Beziehungen zu dem korrupten Immobilienmakler Antoin „Tony“ Rezko haben ihn mitten hineingezogen in die Niederungen des Wahlkampfs.
Wichtig ist aber: Auch wenn sich der junge Senator immer öfter im Klein-Klein der Kampagnenwelt verfängt, sollte dies nicht die innovative Kraft vergessen machen, mit der Obama und sein Team diese Präsidentschaftskampagne führen. Denn fest steht schon jetzt: Egal, wie das Rennen um das Weiße Haus ausgehen wird – Obama hat neue Maßstäbe auf dem Gebiet der Kampagnenführung gesetzt, die das Bild moderner Wahlkämpfe im kommenden Jahrzehnt weltweit prägen werden. Obamas Kampagne ist die Vollendung einer neuen Wahlkampfphilosophie, in deren Mittelpunkt wieder der direkte Kontakt zum Wähler steht. So konsequent wie noch kein Wahlkämpfer zuvor folgt Obama dem neuen Credo, das da heißt: Das Persönliche ist das Effektive! Vorbei sind die Zeiten, in denen Fernsehwahlkämpfe das A und O jeder Kampagne waren und der republikanische Wahlkampfguru Roger Ailes offen bekannte: „The street crap doesn’t matter!“
Sicher ist das Fernsehen heute weiterhin wichtig, um das nötige Hintergrundrauschen einer Kampagne zu erzeugen. In einer fragmentierten Medienlandschaft mit Internet und Vielkanal-TV wird es aber von Tag zu Tag schwieriger, Menschen effektiv und en masse zu erreichen. Deshalb kommt es wieder darauf an, so direkt wie möglich mit Wählern zu kommunizieren. Soziale Netzwerke, Meinungsführer, Dialog-Kommunikation und guter, alter Straßenwahlkampf erfahren eine Renaissance, die Barack Obamas Team aus jungen, talentierten Internet- und Grassroots-Spezialisten so gut wie kein anderes zu nutzen weiß. Sie haben erkannt, dass Charisma eine gute, lebensnahe Organisation braucht, um erfolgreich zu wirken. Denn Charisma ergibt sich nicht allein aus persönlicher Überzeugungskraft und messianischer Botschaft. Vielmehr ist es ein soziales Phänomen, das überhaupt erst in Interaktion mit der Gesellschaft entsteht. Wie Obama diese Interaktion organisiert und stimuliert, soll im Folgenden gezeigt werden.
Die Kampagne als Graswurzelbewegung
Von Beginn an baute Barack Obama seine Kampagne konsequent – „from the bottom up“ – als basisorientierten Wahlkampf auf. Diese Strategie passte gut zu seiner populistischen Anti-Washington-Rhetorik, war aber auch aus der Not heraus geboren. Denn Obama galt zwar als talentierter Politiker mit einer Aura des Frischen und Neuen, ins Rennen ging er jedoch als klarer Außenseiter. Zunächst wirkte Hillary Clinton noch geradezu übermächtig. Mit rekordverdächtigen Fundraising-Zahlen, breitem Rückhalt im Establishment der Partei und einer gut geölten Wahlkampfmaschine wollte sie ihren Herausforderern die Luft zum Atmen nehmen.
Deshalb musste Obamas Weg über neue, wenig ausgetretene Pfade führen. Zusammen mit seinem Berater David Axelrod entschied er sich für eine Mischung aus progressivem Internetwahlkampf und modernisierter Graswurzelkampagne. Ziel war es, die organisatorischen Kniffe und Innovationspotenziale aus der links-progressiven Internetgemeinde zu nutzen, ohne dabei die Fehler zu machen, die Howard Dean im Jahre 2004 begangen hatte, als seine Kandidatur in den Weiten Iowas jäh und abrupt scheiterte. Deans Kampagne hatte zwar eine erhebliche virtuelle Kraft erzeugt, war aber an der realen Welt gescheitert, weil sie nicht darauf achtete, die Internet-Energie in echte Stimmen umzumünzen. Obamas Ansatz lautete deshalb: Wir verknüpfen beide Welten, indem wir die virale Kraft des Internets als Motor für eine professionelle, breit aufgestellte und real existierende Basisorganisation nutzen.
Niemand sonst nutzt das Internet so virtuos
Es ist wahrlich kein Geheimnis mehr, dass das Internet ganz neue technische und kostengünstige Möglichkeiten für eine effektive Wahlkampfkommunikation bereithält. In der Regel hilft das Netz, die Kampagnenführung auf drei Feldern zu verbessern: Fundraising, Organisation und Botschaft. Obama nutzt das Internet auf all diesen Gebieten virtuos für seine Zwecke.
Kein Kandidat im Präsidentschaftswahlkampf nimmt so viel Geld über das Internet ein wie Barack Obama. Das Internet ist sein Haupteinnahmeweg für Spenden, die mehrheitlich in Form von Zuwendungen von weniger als 200 Dollar eingehen. Sein breites Netzwerk von Spendern ist beeindruckend. Noch nie zuvor hat es ein Kandidat geschafft, einen Pool von mehr als einer Million Geldgebern aufzubauen. In jeder E-Mail, die man von der Obama-Kampagne bekommt, findet sich eine gezielte Aufforderung zur Online-Spende. Mit innovativen Fundraising-Methoden versucht er, Kleinspender an seinen Wahlkampf zu binden. Im Jargon von Obama heißt das: „Du hast die Chance, einen Teil unserer Kampagne zu besitzen!“ Dieser Volksaktienansatz wird stimuliert durch kreative Fundraisingaktionen, die im Wochentakt initiiert werden. Mal können Spender dem jungen Senator einen Tag des drögen Spendensammelns schenken, damit er sich Zeit nehmen kann, direkt vor Ort mit seinen Wählern zu kommunizieren. Ein anderes Mal schreibt Obama ein Gewinnspiel für alle Neuspender aus. Der Hauptgewinn: Ein Abendessen mit ihm, bei dem offen über alles geredet werden kann, was seinen Unterstützern auf der Seele brennt. Immer wieder gibt das Obama-Team neue Online-Fundraisingziele aus, die man gemeinsam erreichen will. Zurzeit soll die 1,5 Millionen-Spendermarke gerissen werden.
Ein weiterer kreativer Ansatz: Obama demokratisiert die Funktion des Fundraisers. Bislang blieb das Spendeneintreiben zumeist den besser verdienenden, gesellschaftlich gut vernetzten Zeitgenossen vorbehalten. Inspiriert vom Erfolg der progressiven Online-Organisation ActBlue bietet Obama seinen Unterstützern an, eigene Fundraising-Homepages zu erstellen, um Freunde und Bekannte zum Online-Spenden aufzurufen. Die Software (inklusive der persönlichen Fundraising-Zielmarke) ist über Obamas Website zugänglich. Schon nach vier Mausklicks können Internetnutzer offizielle Obama-Spendeneintreiber sein.
In der elektronischen Nachbarschaft
Darüber hinaus nutzt die Kampagne das Internet intensiv zur Organisation ihrer Freiwilligen. Unter my.BarackObama.com haben überzeugte Anhänger Zugang zum Volunteer Action Center. Hier kann man auf einen Klick erfahren, wo die nächste Veranstaltung von Obama-Unterstützern stattfindet oder welche Gruppen sich in der Nachbarschaft online und offline treffen. Man wird aber auch selbst zur Aktion aufgerufen. Unter der Kategorie MyNeighborhood stehen Flyer und Poster ebenso zum Download zur Verfügung wie Software zur virtuellen Gruppenbildung oder vorgefertigte Online-Einladungen für die eigene Hausparty. Außerdem werden Freiwillige aufgerufen, eigene Internetblogs zu starten, um Obamas frohe Botschaft der Hoffnung und des Wandels in die Weiten des Netzes hineinzutragen. Auch externe soziale Netzwerkseiten bezieht Obama geschickt in seine Online-Kommunikation ein. Auf Facebook (785.000 Kontakte) und MySpace (354.000 Freunde) vernetzt er die internet-affine Fangemeinde der College-Studenten und Young Professionals.
Die Rückkehr der Mund-zu-Mund-Propaganda
All diese Internetseiten bieten Obama die Möglichkeit, seine Kampagnenbotschaften viral über das Land zu verteilen. Was heißt „viral“? Virales Marketing ist nichts anderes als die Wiederentdeckung der guten, alten Mund-zu-Mund-Propaganda, bei der sich Botschaften exponentiell ausbreiten, indem sie von einer Vielzahl von Meinungsführern in soziale Netzwerke hineingetragen werden. Der Ansatz ist simpel: Fernseh- oder Radiowerbung dringt kaum noch ein in unseren medial berieselten Alltag, der Meinung unseres Kollegen, Freundes oder Nachbarn hingegen schenken wir Aufmerksamkeit und Vertrauen. Obama nutzt diese Form der Kommunikation so intensiv wie kein anderer Kandidat. Immer wieder versendet er Web-Videos und Web-Links von Wahlkampfauftritten, YouTube-Spots oder privaten Interviews mit der Aufforderung, sie an Freunde und Bekannte weiterzuleiten.
Das wochenlang meist gesehene Stück war ein Musikvideo mit dem Titel „Yes, We Can“, das die Black Eyed Peas für Obama aufgenommen haben, und das sich auf YouTube bisher mehr als 15 Millionen Besucher angesehen haben. Das Gute an dieser Form der Wahlkampfkommunikation: Obama schafft seine eigene (Gegen-)Öffentlichkeit, indem er sich mithilfe des Internets ein Netzwerk von Meinungsführern aufbaut, die als lebensnahe Botschafter der Kampagne fungieren. So kann er eine gefühlte Nähe zu seinen Sympathisanten herstellen, ohne Unsummen für teure TV- oder Radiowerbung auszugeben.
Der innovative Motor von Obamas Kampagne ist das Internet. Aber auch im Bereich des klassischen Basiswahlkampfes, der in keiner guten amerikanischen Kampagne fehlen darf, setzt er neue Maßstäbe. In Zusammenarbeit mit den Grassroots-Spezialisten David Plouffe, Paul Tewes und Steve Hildenbrand hat Obama eine straffe, professionelle Basisorganisation aufgebaut, die (zumindest in der Demokratischen Partei) neue Standards setzt. In jedem Bundesstaat errichtete die Kampagne eine hierarchisch gegliederte Kampagnenstruktur, deren Herzstück so genannte precinct captains sind. Diese lokalen Wahlkampfmanager bekommen klare Vorgaben darüber, wie viele Freiwillige sie in ihrem Wahlbezirk rekrutieren müssen, wo sie die Helfer einsetzen und welche Anzahl von unentschiedenen Wählern sie zu kontaktieren haben. Viele dieser precinct captains sind politische Laien, die ein Semester am College aussetzen oder sich unbezahlten Urlaub genommen haben. Im Rahmen der Aktion „Obama Organizing Fellows“ spricht die Kampagne solche überzeugten Anhänger gezielt an, um sie zu mehrwöchigen Trainings einzuladen, auf denen sie das Handwerkszeug der modernen Kampagnenführung lernen.
Hoch motivierte Freiwillige rufen dich an
Auch die direkte Wähleransprache wird nicht dem Zufall überlassen. Eine effektive Mischung aus Postwurfsendungen, Telefonanrufen, SMS-Kontakten und Hausbesuchen soll unentschiedene Wähler überzeugen und überzeugte Unterstützer mobilisieren. Fällt man erst einmal in das mit Mikrodaten erstellte Raster der Wahlkampfstrategen, dann kann man mit offener Zuneigung der Obama-Truppen rechnen, zumeist in Form von täglichen Telefonanrufen und wöchentlichen Hausbesuchen.
In diesem kommunikativen Häuserkampf setzt Obama auf eine spezielle Form der Telefonkampagne, die auf so genannten liquid phone banks basiert, erstmals eingesetzt von der schlagkräftigen Internetorganisation MoveOn.org im Kongresswahlkampf 2006. Über die Internetseite von Barack Obama können sich Freiwillige bequem von zu Hause aus einloggen, eine Internetseite mit Telefonadressen unentschlossener Wähler aufrufen und diese dann mit einem Mobilisierungs- oder Überzeugungsanruf beglücken. Auch hinter dieser Methode steckt die soziale Netzwerktheorie: Ein Appell von motivierten Freiwilligen ist effektiver, glaubwürdiger und kostengünstiger als Politikerstimmen vom Band oder Anrufe von gelangweilten Call-Center-Mitarbeitern, die einen vorgeschriebenen Text ablesen.
Der Kulminationspunkt von Obamas Basiskampagne ist schließlich der Wahlkampfauftritt des Kandidaten selbst. In der Tat gleicht sie Auftritten von Popstars. Perfekt ausgestattet mit Obama-Schild, Obama-T-Shirt und Obama-Stickern warten Tausende zumeist junge Obamaniacs stundenlang sehnsüchtig auf den Auftritt ihres Helden. Dessen Reden sind zwar gut, aber nicht herausragend, und trotzdem kann man sich auch als rational denkender Politikwissenschaftler nur bedingt der emotionalen Energie erwehren, die das Zusammenspiel zwischen Obama und der Masse erzeugt. Und gerade in diesem Moment des charismatischen Überschwangs, nach all den ohrenbetäubenden „Yes, We Can“-Rufen, wartet im Hintergrund schon Obamas gut organisierte Wahlkampfmaschine, um den gefühlsduseligen Sympathisanten kleine Kontaktkarten zu reichen, mit denen sie sich offiziell als Obama-Unterstützer anmelden können, um Teil der Bewegung zu werden.
Medien fokussieren sich allzu gerne auf Personen, auf Umfragen, auf die Magie des Moments. Oft übersehen sie dabei, wie wichtig die Kärrnerarbeit der Kampagne in Form eines gut organisierten Basiswahlkampfes ist. Auch Barack Obama lebt nicht vom Charisma allein. Er braucht Organisation. Umgekehrt benötigt die Organisation ihn, denn ohne motivierendes Charisma und Sinn stiftende Rhetorik bleibt jede innovative Wahlkampftaktik ein seelenloses, technisches PR-Gerüst. Das Geschick, mit dem Obamas Kampagne beides zusammengeführt hat, wird sie auf Jahre hinaus zum Studienobjekt für Wahlkämpfer aus der ganzen Welt machen.