Christstollen für Angela Merkel!
Vielleicht war es wirklich nur ein Pyrrhussieg, damals am 22. September 2002. Großen Sinn jedenfalls ergab eine zweite Legislaturperiode "Rot-Grün" nicht. Schon den rot-grünen Wahlkämpfern fiel auf den Marktplätzen in den langen und oft deprimierenden Frühjahrs- und Sommermonaten 2002 nicht sonderlich viel ein, wenn die Rat suchenden Bürger sie nach den bevorstehenden sozialökologischen Projekten fragten. Im Grunde war ja das spezifisch Rot-Grüne - von der Homoehe bis zur Ökosteuer - abgearbeitet, erledigt, erreicht. Und im Köcher befanden sich keine weiteren Pfeile mehr. Auch in den Regionalparlamenten war die Zahl rot-grüner Allianzen in den vier Jahren zuvor kräftig zusammengeschmolzen.
Allein zwei Regierungen dieses Typs gab und gibt es noch in den 16 Bundesländern der deutschen Republik; 1998 waren es noch fünf. Rot-Grün regiert somit gewissermaßen ohne Fundament. Die Regierung kann kühne Konzepte entwickeln und schöne Agenden aufstellen, wie sie mag und möchte. Ohne die Zustimmung des Bundesrates, ohne die bürgerliche Mehrheit dort, ohne also das Plazet der christlichen Union kann sie nichts bewegen, nichts wirklich kraftvoll durchsetzen. Machtpolitisch sind die Grünen für die Sozialdemokraten ohne Wert. Schröder braucht Merkel und Koch, nicht Fischer und Trittin. Und dadurch kommt eine neue Regierungsvariante zyklisch in die Debatte und in den medialen Verdacht: die Große Koalition.
Man kann sich ganz sicher sein: Auch in den nächsten Monaten wird in schöner Regelmäßigkeit über die Große Koalition geredet, geschrieben, gestritten werden. Und die Kritiker eines solchen Regierungsbündnisse werden zweifellos besonders schrill protestieren. Sie werden uns in immer neuen Kommentaren mahnend darüber belehren, dass sich im Fall einer Großen Koalition erst recht der Mehltau der Stagnation über die bundesdeutsche Gesellschaft legen werde. Dass die Volksparteien sich dann noch weiter angleichen und anpassen würden. Dass das Parlament noch stärker entmachtet werde. Dass das Land dann vollends in Lethargie und Bräsigkeit versinke. Natürlich auch: Dass die politischen Extreme an Zulauf gewinnen würden. So reden die 55 bis 60 Jahre alten Angehörigen der Meinungseliten in den Lehrerzimmern, Universitäten und Chefredaktionen schließlich schon seit nunmehr gut 35 Jahren, seit sie sich als junge Menschen in den Zeiten von Jimmy Hendrix und Janis Joplin außerparlamentarisch über das Kabinett Kiesinger/Brandt empörten.
Harte Zumutungen, kritische Köpfe
Doch stimmten all die sinistren Unheilserwartungen schon damals nicht, zur Zeit der ersten und bislang einzigen Große Koalition der Republik. Und sie würden auch dann nicht Realität, falls im Herbst Gerhard Schröder oder wer auch immer mit Angela Merkel oder wem auch immer koalieren sollte. Falls, wie gesagt. Im Gegenteil: Große Koalitionen haben in institutionell hochgradig fragmentierten Systemen wie der Bundesrepublik als einzige politische Formationen die Chance, wirklich weit reichende Weichenstellungen vorzunehmen und harte Zumutungen auch an die Mitte der Gesellschaft zu richten. Sie erhöhen außerdem - und ganz entgegen einem verbreiteten Vorurteil - die Souveränität und den Spielraum der Parlamentsfraktionen. Und wenn sie ihre Aufgabe erfüllt haben, nötigen sie die Großparteien wieder zur schärferen Abgrenzung voneinander, fördern dadurch die Politisierung, schärfen die Differenz. Da sich überdies die Geister an einer solchen Koalition besonders leidenschaftlich und erregt scheiden, geben sie den kritischen Köpfen Auftrieb, erhöhen die öffentliche Wachsamkeit und steigern infolgedessen das politische Gesamtinteresse.
Allianz aus Bürgertum und Arbeitnehmern
So erlebten wir denn auch schon am Ende der Großen Koalition Kiesingers nicht den Durchmarsch der politischen Extreme, auch nicht die viel befürchtete autoritäre Deformation und erst recht nicht die häufig beschworene gesamtgesellschaftliche Apathie, sondern den Beginn des sozialliberalen Aufbruchs und der neuen Ostpolitik, die Entstehung allerlei partizipationsfreudiger Bürgerinitiativen und kunterbunter sozialer Bewegungen. Eine Große Koalition, kurzum, hat die Funktion, durch eine Allianz von Bürgertum und Arbeitnehmern - statt der sonst üblichen Binnenintegration nur des einen Lagers, was im Falle der rot-grünen Eliten bloß das Bündnis des öffentlichen Dienstes mit sich selbst bedeutet - die großen und fälligen Reformen wenn nötig auch mit verfassungsändernden Mehrheiten zu realisieren und in Anschluss daran die Voraussetzungen für eine neue Politik und Kultur diesseits ihrer selbst zu schaffen. So alle dreißig bis fünfunddreißig Jahre könnte das die deutsche Republik gut gebrauchen. Insofern wäre eine solche Koalition auch jetzt wieder mit guten Gründen fällig.
Denn viel geht, wie jedermann weiß, seit Monaten nicht mehr zusammen in der deutschen Innenpolitik. Und das wird auch erst einmal so bleiben. Dabei sind die Probleme Legion, die dieser Republik zu schaffen machen. Wir alle können sie inzwischen im Schlaf herunterbeten: Deutschland leidet an einer beispiellosen Wachstumsschwäche; die Investitionsquote ist bedrückend gering und nähert sich rezessiven Werten; die Kommunen stehen vor der Pleite; die öffentlichen Einrichtungen sind abschreckend marode; Schulen und Hochschulen schleppen sich mühsam durch die Malaise einer dramatischen Unterfinanzierung; die Bundeswehr ist nur bedingt einsatzfähig; das Schienennetz der Bundesbahn braucht eine flächendeckende Remedur; das Gesundheitswesen droht zu kollabieren; und über dem gesellschaftlichen Zukunftszusammenhang tickt weiterhin die demografische Bombe. Von der dauerhaften Massenarbeitslosigkeit gar nicht zu reden.
Keines der Probleme ist neu; nichts davon hat primär die Regierung Schröder zu verantworten; das alles hat sich in den letzten dreißig Jahren Zug um Zug aufgeschichtet. Weder Brandt noch Schmidt noch Kohl noch Schröder ist der große Befreiungsschlag gelungen, auf den die Wähler gleichwohl irgendwie hoffen. Aber da können sie wohl noch lange warten, zunehmend verdrossen, zynisch oder einfach nur - demoskopisch hinreichend belegt - gleichgültig gegenüber Politik und Parteien. Denn keine kleine Koalition wird in Deutschland den gordischen Knoten zerhauen können, selbst wenn sie die tüchtigsten Pragmatiker und klügsten Visionäre in ihren Reihen hätte.
Immer ist die Opposition mit von der Partie
Es gibt kaum ein anderes demokratisches Land der Welt, in dem der politische Gestaltungsraum machtinstrumentell so begrenzt ist wie in Deutschland. Nirgendwo jedenfalls ist das Vetodepot der Opposition so aufgefüllt wie hierzulande. In Großbritannien etwa ist die Opposition durch und durch ohnmächtig; sie kann lärmen, polemisieren und resolutionieren - es interessiert niemanden. In Deutschland aber ist die Opposition machtpolitisch stets mit von der Partie, über ihre Ministerpräsidenten, im Bundesrat, in den öffentlich-rechtlichen Gremien, über ihre Repräsentanten und Parteimitglieder in den Tarifauseinandersetzungen, in den üblichen korporatistischen Bündnissen. Das hat natürlich viel mit den föderalen Strukturen und Kompetenzen zu tun, die ebenfalls ein Unikum in dieser Welt sind. Eine Regierung in Deutschland kann nicht einfach so regieren, wie sie es für gut und richtig hält und wofür sie eigentlich auch gewählt wurde. Eine Regierung in Deutschland braucht zum Erfolg fast durchweg - bei zumindest neun von zehn wichtigen Gesetzen - die große Oppositionspartei.
Aber diese Opposition ist ihrerseits natürlich keineswegs am Erfolg der Regierung interessiert. Und so ereignet sich immerfort das, was zunehmend mehr Menschen in dieser Republik auf die Nerven geht: die zähen Stellungskriege zwischen Regierung und Opposition, das monatelange Gefeilsche und Gezerre um einen dann denkbar unzureichenden Kompromiss, oft genug auch einfach nur Blockade und Paralyse. Wir werden all dies in den nächsten Monaten ermüdend häufig noch erleben. Nur wenn die Opposition kopflos durch die Landschaft irrt, wie die CDU nach dem Abgang von Kohl und Schäuble 1999/2000 oder die SPD unter Klose und Scharping in der ersten Hälfte der neunziger Jahre, vermag ein taktisch gewiefter und kaltblütiger Regierungschef den Spielraum vorübergehend zu erweitern. Aber damit kann auch der große Spieler Schröder nicht mehr ernsthaft rechnen: Die Merkels, Kochs und Stoibers haben dazugelernt; mittlerweile sind sie zu lafontainistischen Obstruktionen und schröderschen Raffinessen manchmal durchaus schon reif und fähig.
Verfassungsreform oder Kooperation
So bleibt allein die Große Koalition. Sie ist gewissermaßen die zumindest zeitweise erforderliche innere Konsequenz aus dem kooperationsdemokratisch angelegten Institutionengefüge der bundesdeutschen Republik. So wie Deutschland verfasst ist, gelingt Politik nur durch Kooperation, nur dadurch, dass beide Parteien gleichermaßen am gouvernementalen Erfolg interessiert sind. Entweder man verändert im Kern die Verfassungsordnung, schafft zumindest die Abhängigkeit der Zentral- und Mehrheitsregierung vom Bundesrat ab - was im Grunde vernünftig, ja zwingend wäre, wofür es aber in der politischen Landschaft dieser minister-präsidentiellen Republik nicht die geringste Chance gibt. Oder man lässt sich, wenn man das erste nicht will, von Fall zu Fall auf großkoalitionäre Zweckbündnisse ein. Sonst - ja, sonst geht es mit der kumulativen Krisenentwicklung in Deutschland dramatisch weiter, gleichviel übrigens ob die heißersehnte weltwirtschaftliche Trendwende nun irgendwann kommt oder auch nicht.
Wider das Dogma der "eigenen Mehrheit"
Einiges spricht im Übrigen dafür, dass die große Koalition noch zwei weitere Fehlentwicklungen korrigiert, über die wir uns in den letzten Jahren so häufig beklagt haben: den Souveränitätsverlust des Parlaments und die Entpolitisierung der Parteien. In der Tat haben die Parlamentsfraktionen der Regierungsparteien in den letzen Jahren enorm an Einfluss eingebüßt. Bekanntermaßen sind viele der großen gesellschaftlichen Debatten in Kommissionen, Räte und Gremien verlagert worden. Und sobald sich in den Bundestagsfraktionen von SPD und Grünen Minderheitenauffassungen auch nur vorsichtig herauszukristallisieren beginnen, greift sofort und rüde der Disziplinierungsdruck der "eigenen Regierungsmehrheit" zu. In der Tat: Knappe Majoritäten erzwingen Einordnung und Subalternität. Große Mehrheiten hingegen verschaffen Raum, ermöglichen auch quere Diskussionslinien, lassen gar innerkoalitionäre Opposition zu. Exakt so sah es aus in den Jahren 1966 bis 1969. Man kann das im Übrigen sehr schön in den Erinnerungen des damaligen sozialdemokratischen Fraktionschefs Helmut Schmidt nachlesen, in denen er überaus einleuchtend resümiert, "dass in der Geschichte der Bundesrepublik das Parlament niemals eine derart eigenständige Rolle und ein so entscheidendes Gewicht gegenüber der Regierung gehabt hat wie in den drei Jahren" der Großen Koalition; "weder vorher noch nachher hat es eine klarere Gegenüberstellung von Exekutive und Legislative gegeben, niemals eine wirksamere Kontrolle durch das Parlament".
Politologen und Historiker, die sich in der Politik der späten sechziger Jahre exzellent auskennen, haben die Wahrnehmung des späteren sozialdemokratischen Kanzlers wiederholt bestätigt. Die kritische publizistische Öffentlichkeit hatte zu Beginn der Großen Koalition noch in düstersten Farben den drohenden Niedergang der Parlamentskultur gezeichnet. Doch das Gegenteil trat ein. Nie zuvor und vermutlich auch niemals danach konnten die Parlamentarier der Regierungsfraktionen so frei und frech ihre Mandate wahrnehmen wie in diesen drei Jahren. Fast näherte sich der deutsche Bundestag für einige Jahre noch einmal dem montesquieuschen Idealzustand an. Die Regierungsfraktionen waren nicht mehr Schwert und Panzer der Exekutive, fungierten nicht bloß als der in das Parlament verlängerte Arm des Kabinetts, sondern bildeten zusammen mit der Opposition ein wirkliches Kontrollorgan gegenüber der Regierung. Sperriger und obstinater jedenfalls traten Parlamentarier der Mehrheitsfraktionen niemals auf.
Abgeordnete werden plötzlich selbstbewusst
Und das ging von Beginn an so. Zweiundachtzig Abgeordnete der Regierungsfraktionen stimmten bei der Wahl des Bundeskanzlers gegen den eigenen Kandidaten Kurt Georg Kiesinger - ohne dass dadurch die Republik oder zumindest die Stabilität der Regierung zusammengestürzt wäre. Die Zahl der öffentlichen Hearings, in denen sich die Regierungsmitglieder peinlichen Nachfragen stellen mussten, schnellte sprunghaft nach oben. Und Abstimmungen wie die über die Abschaffung der Zuchthausstrafe verliefen quer durch die parlamentarischen Lager. Sozialdemokraten stimmten in der ersten Lesung mit den oppositionellen Freidemokraten für die Regierungsvorlage; die CSU-Abgeordneten und ein Teil der CDU-Fraktion votierten dagegen. Wie gesagt, den Fortbestand und die Handlungsfähigkeit der Regierung hat das alles nicht gefährdet - wie das in kleinen Koalitionen zuvor und seither unzählige Male drohend und disziplinierend kolportiert wurde -, wohl aber gewannen die Abgeordneten an Selbstbewusstsein, an Gestaltungsraum, an Individualität und politischer Farbe.
Erst gemeinsam, dann umso konturierter
Von der Einflussmehrung der Abgeordneten hat die gesamte Innenpolitik und Debattenkultur im Parlament noch in den siebziger Jahren erheblich profitiert. Danach ist viel davon wieder verloren gegangen. Die Politik ist in der Folge langweiliger geworden, die Qualität der politischen Eliten gesunken. Gerade bei den Jungparlamentariern der beiden Regierungsparteien vermisst man Kontur und Substanz, argumentative Schärfe und konzeptionellen Weitblick, Originalität und Eigensinn, Verwegenheit und Mut. Auch in dieser Hinsicht also wäre eine großkoalitionär bedingte Aufwertung von Parlament und Fraktionen, von Debatte und Diskurs nur wünschenswert.
Schließlich wird die Große Koalition, sobald sie einigermaßen die Großaufgaben gelöst hat und der zweiten Legislaturhälfte zusteuert, wieder die beiden Parteien politisieren. Auch das hat man in den sechziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts gut verfolgen können. Bis zum Eintritt in die Große Koalition betrieb die Sozialdemokratie als Oppositionspartei nur eifrig die Anpassung an die regierende Union, wollten am liebsten die "beste CDU aller Zeiten" sein, wie es in der SPD selbstironisch hieß. Doch ab 1968 suchten die Sozialdemokraten in der Koalition mit der CDU die Unterscheidbarkeit, das scharfe Eigenprofil. Und sie fanden beides in der Außen- und Wirtschaftspolitik. Deutlicher waren die Unterschiede zwischen Union und Sozialdemokraten in den gesamten sechziger Jahren nicht als damals, gegen Ende der Großen Koalition. Und das hat die Republik im weiteren ungemein beflügelt, hat neue Debatten und Bewegungen entfacht, neue Werte und Kulturen angestoßen. Eine Wiederauflage der Großen Koalition im Herbst 2003 könnte durchaus ähnliche Folgen haben. In den ersten beiden Jahren haben die beiden Großparteien gewiss zuvörderst die Krisenagenda abzuarbeiten - gemeinsam, unideologisch, kompromissfähig, pragmatisch eben. Dann aber werden sie - schon aus Gründen des Wahlkampfes und um die Oppositionsparteien nicht zu stark wachsen zu lassen - Differenz und Distinktion herausstellen, werden die unterschiedliche Substanz ihrer Werte und Leitideen hervorheben, werden erstmals nach Jahren wieder über Programmatisches nachdenken. Beides braucht die deutsche Gesellschaft: einen auf mittlere Frist wirklich handlungsfähigen und problemlösenden Pragmatismus, dazu und danach aber auch langfristig ausgerichtete Großdebatten über die Leitideen, Zielperspektiven und normativen Grundlagen der Politik. Die Große Koalition könnte für das eine und das andere Impuls und Voraussetzung sein.
So furchtbar groß wäre die Koalition gar nicht
Gewiss, es mag schon sein, dass nicht alles so schön kommen muss, wie es hier - gewiss recht optimistisch - ausgemalt wurde. Aber die Gefahren für Demokratie und Liberalität sollte man erst recht nicht übertreiben. So furchtbar groß ist eine Große Koalition im Vierparteiensystem nun auch nicht mehr. Im Parlament würden diesmal, im Unterschied zu 1966, zwei selbstbewusste Oppositionsparteien lauern, die mächtig Druck machen können und werden. Und da sind überdies noch all die vielen jungen und ehrgeizigen Hauptstadtredakteure des deutschen Journalismus, die zwar bedauerlicherweise oft nicht sehr viel von Politik verstehen, aber als Experten des hämischen Kommentars den Großkoalitionären tagtäglich tüchtig einheizen werden. Uninteressanter - oder wie gerne gesagt wird: bleierner - wird es daher in Berlin nicht zugehen, sollte es tatsächlich zu einer Großen Koalition kommen.
Die Entleerung des politischen Wettbewerbs
Bleibt aber alles so wie bisher, dann werden die beiden Volksparteien einander auch künftig misstrauisch belauern und in einem zähen Stellungskrieg um jene vier bis fünf Prozentpunkte gegenüberstehen, die über Regierung und Opposition entscheiden. Dann wird der jeweilige Oppositionsführer von Zeit zu Zeit weiterhin den großen Konfrontateur mimen, mitunter mit verschlagen-taktischer Attitüde auch den kompromissbereiten Vermittler, ganz überwiegend aber den hingebungsvollen Fürsorger kleinbürgerlicher Ängste und Furchtsamkeiten (ob vor sozialen Veränderungen, neuen Steuern, demografischen Veränderungen oder was auch immer), die ihm später dann regelmäßig das eigene Regieren schwer, wenn nicht gar unmöglich machen. Die großen Oppositionsparteien erzeugen jedes Mal Mentalitäten, über die sie hernach gouvernemental stolpern. Dabei sind all die taktischen Schlitzohrigkeiten, mit denen die großen Volksparteien gegeneinander ringen und rangeln, für die Wähler schon seit Jahren nicht mehr recht nachvollziehbar. Inhaltlich haben sich die beiden Großparteien längst angenähert. Schröder und Merkel reden von denselben "Realitäten", zu denen es nach ihrer festen Überzeugung keine Alternativen gibt. So dreht sich der Streit zwischen SPD und Union längst nicht mehr um riesige ideelle Unterschiede, unüberbrückbare programmatische Differenzen, fundamentale konzeptionelle Gegensätze, kontrastscharfe visionäre Leitperspektiven. Das aber, die inhaltliche Entleerung des Parteienwettbewerbs, macht die Kooperations- und Koalitionsunfähigkeit der beiden Volksparteien erst recht so banal, so substanzlos, im Grunde so unpolitisch und - für die meisten Wähler - so abstoßend. Wenn denn Deutschland wirklich kurz vor dem Kollaps steht, wie allenthalben an die Wand gemalt wird, wenn tatsächlich die Zeit dramatisch drängt; und wenn die Differenzen zwischen den beiden Großparteien in der Kernfrage der ökonomischen Sanierung mittlerweile minimal sind (und sie sind es) - dann kann sich die Republik, da sie nun einmal kooperationsdemokratisch verfasst ist, wettbewerbdemokratisch inszenierte Scheinantago-nismen längst nicht mehr leisten.
Wer wird der zeitgemäße Herbert Wehner?
Aber natürlich: Die entscheidenden politischen Akteure müssen eine solche große Koalition schon wollen, müssen sie zielstrebig anpeilen, frühzeitig lagerübergreifend Kontakte herstellen, ganz im Stillen Vertrauen aufbauen, personelle Brücken schlagen. Herbert Wehner hatte dies in der ersten Hälfte der 1960er Jahren zäh, kalt und virtuos betrieben. Nächtelang trank der Diabetiker mit den Granden der Union Wein, schickte ihnen zu Weihnachten selbstgebackene Christstollen, spielte ihnen an langen Abenden auf seiner Mundharmonika vor - und gewann sie auf diese Weise nach und nach für sich. So holte der sächsische Machtstratege die Union in das Bündnis mit den lange stigmatisierten Sozialdemokraten (und als ab 1969 alles vorbei war, interessierte sich Wehner keine Sekunde mehr für die über Jahre gehätschelten und mit allerlei Liebenswürdigkeiten und Sentimentalitäten umworbenen Christdemokraten). Wehner übrigens wäre ganz gewiss nie ein Dogmatiker eines "rot-grünen Regierungsprojekts" gewesen. Wehner hätte mit aller ihm eigenen Energie, Härte und Skrupellosigkeit längst schon subkutan an neuen Optionen und Allianzen gebastelt. Nun steht Wehner der Sozialdemokratie und der bundesdeutschen Politik bekanntermaßen seit über 20 Jahren nicht mehr zur Verfügung. Und ein neuer, zeitgemäßer Herbert Wehner? So recht mag man ihn nicht erkennen, schon gar nicht unter den verblüffend früh saturierten Jungabgeordneten mit ihren Staatssekretärsambitionen. Vielleicht auch deshalb hocken die politischen Lager so starr, so unbeweglich und so steril in ihren Schützengräben.