Das Dilemma mit der Gentechnologie bleibt
Einerseits wollen wir die immensen Möglichkeiten und vielversprechenden Perspektiven der Stammzellforschung im Bereich des Gewebe- und Organersatzes schwer kranken Patienten nicht vorenthalten. Die Erwartungen sind riesig, auf dieser Grundlage in Zukunft ausreichend Gewebe zur Transplantation zur Verfügung zu haben. Eine schöne Vorstellung, dass totgeweihte Patienten nicht mehr auf den Tod eines passenden Spenders hoffen müssen oder auf der Warteliste versterben. Andererseits wollen wir unser Embryonenschutzgesetz mit seinem Verbot verbrauchender Forschung an Embryonen auf keinen Fall aufgeben. Dieses Regelwerk ist international einzigartig, gerade deswegen erscheint es vielen besonders schützens- und erhaltenswert. Egal, wie wir uns verhalten, es gibt keine rundum zufriedenstellende Lösung, keine Lösung ohne Risiken und Nebenwirkungen.
Verbieten wir die Forschung in Deutschland, müssen wir aushalten, daß im Ausland Medikamente entwickelt werden, die wir - neues Dilemma - unserer Bevölkerung vorenthalten, falls das überhaupt möglich ist, oder eben doch importieren. Damit wäre ethisch wenig gewonnen, wirtschaftlich aber unter Umständen etliches verspielt.
Schutz von Embryonen und Stammzellforschung, geht denn das gar nicht zusammen? Ich bin fest davon überzeugt, dass sich ein Weg finden läßt: wohl keinen, der alle restlos erleichtert, aber einen pragmatischen. Dafür müssen wir uns von einigen liebgewonnenen Gentechnik-Klischees trennen. Es ist so, dass humane embryonale Stammzellen aus befruchteten menschlichen Eizellen gewonnen werden - einmalig. Der Eindruck aber, dass die Forschung an embryonalen Stammzellen unentwegt Embryonen verbraucht, ist ein falscher. Einmal kultivierte Zellinien lassen sich unbegrenzt vermehren.
Etablierte Zellinien, die ihre Totipotenz (Fähigkeit einer Zelle sich zu einem vollständigen Individuum zu entwickeln) verloren haben, dürfen nach Deutschland importiert werden. Das bedeutet, es darf in Deutschland im Bereich Stammzellen geforscht und entwickelt werden. Diese schizophrene Situation stellt nur eine weitere Facette des schon beschriebenen Dilemmas und dem Wunsch sich nicht eindeutig positionieren zu müssen, dar.
Aber ist es nicht verlogen, einerseits wie einen Schild das Embryonenschutzgesetz vor sich herzutragen mit der Absicht, die Forschung an Embryonen auf jeden Fall zu unterbinden, und andererseits die Früchte genau dieser Forschung doch ernten zu wollen, indem man etablierte Zellinien importiert und damit ethisch heikle Verfahrensabschnitte ins benachbarte Ausland externalisiert? Es ist auch inkonsequent, einerseits Forschung in diesem Bereich fördern zu wollen, sich aber dann zurückzuziehen, wenn eine Übertragbarkeit auf den Menschen auch nur untersucht werden soll.
Ich halte die Einrichtung eines nationalen Ethikrates für einen Ausweg, wenn auch nicht für die Lösung unseres Dilemmas. Ein bedingtes Verbot der Forschung an Embryonen mit der Möglichkeit zur Durchführung ausgewählter und durch den nationalen Ethikrat befürworteter Experimente ist ein möglicher Weg, den widersprüchlichen Interessen gerecht zu werden.
Mit der Einrichtung eines nationalen Ethikrates kann ein hohes Maß an Kontrolle etabliert werden und man umgeht die Blockade hoffnungsvoller innovativer Forschungszweige ohne Aufgabe des gesellschaftlich geschätzten Konsenses über das Klonierungsverbot. Der Ethikrat sollte darüber hinaus die Information der Öffentlichkeit in verständlicher Form zur Auflage für die Aufnahme beziehungsweise Weiterführung der Versuche machen. Das ist ein Ausweg. Ein Weg für die Forschung und für den Moment. Die breite gesellschaftliche Diskussion, wie und ob wir die Ergebnisse dieser Forschung nutzen wollen, wird uns damit nicht abgenommen. Zu Risiken und Nebenwirkungen ... fragen Sie Ihren nationalen Ethikrat: Das ist keine Lösung und damit auch nicht gemeint. Das Dilemma bleibt.
Der gesellschaftliche Diskurs muss vor dem Hintergrund der dynamischen Entwicklung intensiviert werden. Hier ist vor allem die Politik gefragt, diesen Prozeß zu unterstützen und zu moderieren, denn die Auswirkungen auf Gesellschaft und Wertesystem werden riesig sein, auch dann, wenn Gentechnologie in unserem Land nur in engen juristischen Grenzen oder gar nicht betrieben würde.
Das wird zum Beispiel den Begriff der Krankheit betreffen. Gendiagnostische Tests stellen Dispositionen für Krankheiten fest. Eine Disposition ist noch keine Erkrankung, aber das Wissen darum, dass der Patient mit seiner Lebensweise den Ausbruch der Erkrankung unter Umständen beeinflussen kann, eröffnet Perspektiven und Möglichkeiten für den Betroffenen und eventuell seine Angehörigen. Andererseits kann es aber auch dazu führen, dass Eigenverantwortung in nie dagewesener Weise zur Verpflichtung wird. Krankheit als selbstverschuldetes oder zumindestens mitverschuldetes Los, das tritt eine ganze Kaskade von (Tabu-)Fragen los, die in Fragen gipfelt wie: "Muss die Solidargemeinschaft die (mitverschuldete) Behandlung dann zahlen?"
Das Zeitalter der diagnostischen Tests wird aber auch die Medizin komplett verändern. Ärzte werden nicht erst die ausgebrochene Krankheit heilen müssen, sondern werden dafür bezahlt, dass der Patient gesund bleibt und gar nicht erst erkrankt. Ein ganz neues Arzt-Patienten-Verhältnis mit Präventivmedizin in reinster Form kann entstehen, muss aber nicht.
Wo man auch hinblickt, keine Entwicklung in der Bio- und Gentechnologie ist ohne Risiken und Nebenwirkungen. Das ist gar nicht neu und auch nicht gentechnik-spezifisch. Allein die Geschwindigkeit und die Reichweite der Entwicklung sind es, die etwas Besonderes sind und vielen Angst machen. Dabei fordert die Dynamik der Entwicklung zu schnellen Entscheidungen heraus. Aber keine Entscheidung und kein Gesetz wird das Dilemma ein für allemal lösen. Unser Dilemma mit der Gentechnologie bleibt.