Das Ende einer unheiligen Allianz

Die Politik hat die Versprechungen der Finanzbranche viel zu lange geglaubt - und sie hat sich von ihr abhängig gemacht. Die Befreiung aus dieser Gefangenschaft kann zum gemeinsamen Projekt von Konservativen und Linken werden

Angela Merkel und Josef Ackermann führen keine direkten Gespräche mehr miteinander, sagte mir kürzlich jemand, der mit beiden zu tun hat. Das ist ungewöhnlich. In der Wirtschaftsgeschichte der Bundesrepublik hatten die Chefs der Deutschen Bank immer direkten Zugang zu den jeweiligen Kanzlern. Ob Hermann Josef Abs mit Konrad Adenauer oder Alfred Herrhausen mit Helmut Kohl - die Banker waren meist die besseren Verhandler. Noch 2009 veranstaltete die Bundeskanzlerin für Josef Ackermann ein Geburtstagsessen im Kanzleramt. Jetzt folgt die Scheidung.

Auch wenn es zwischen Merkel und Ackermann nur eine persönliche Verstimmung geben mag, die Symbolkraft dieser Anekdote ist nicht zu unterschätzen. Denn weltweit haben die großen Banken ein Problem mit dem Rest der Gesell­schaft. Ob bei der Occupy-Bewegung in den Grünanlagen der Fi­nanzzentren, in den demokratisch gewählten Parlamenten, in Regierungskanzleien oder in Firmen der Realwirtschaft – die Banken sind nicht mehr wohlgelitten. Die Feststellung des damaligen Bundespräsidenten Horst Köhler, die Finanz­märkte seien ein Monster, ist längst Allgemeingut. Die Kraft, das Monster zu bändigen, hat die Politik allerdings noch nicht aufgebracht. Diese Aufgabe wird sie nur bewältigen, wenn sie den Staat aus der direkten Abhängigkeit der Märkte löst.

Ins »Goldene Zeitalter« führt kein weg zurück

Derzeit sind zwei historische Trends in Frage gestellt. Der erste beginnt in der Renaissance: Schon die spanischen Könige ließen sich ihre Expansionspolitik in Richtung Südamerika von italienischen Bankern finanzieren; auch die Fugger waren große Staatsfinanzierer. Staatspleiten waren häufig, etwa wenn die Kolonien nicht genug Gold lieferten. Der zweite Trend ist die Loslösung des Finanzmarkt­ka­pi­talismus vom „normalen“ Kapitalismus durch das, was man in Europa soziale Marktwirtschaft nennt. Der Kapitalismus wurde nach der großen Depression in den Vereinigten Staaten und nach dem Zweiten Weltkrieg in Europa und Japan erfolgreich gezähmt, das Weltwährungssystem durch die Vereinbarungen von Bretton Woods unter Kontrolle gebracht.
    Seit den frühen siebziger Jahren arbeiteten einflussreiche Kräfte im angelsächsischen Raum an dem, was sich dann als Thatcher/Reagan-Revolution manifestierte: weniger (Sozial-) ­Staat, mehr Markt, Liberalisierung des Finanzsektors. Die gerade erst befreiten Kolonien wurden abhängig von den Kre­diten des Westens (oder abhängig von der Sowjetunion). In das „goldene Zeitalter“ der sechziger Jahre, wie es Eric Hobsbawm genannt hat, kommen wir nicht mehr zurück. Die Dominanz des Dollar als einzige Leitwährung musste zu Ende gehen. Der weltweite Abbau von Zöllen hat, bei allem was man an den vielen geschaffenen Handelsabkommen kritisieren mag, eine Weltwirtschaft geschaffen, die hunderten von Millionen Men­schen in ehemals „armen“ Ländern den Aufstieg in die weltweite Mittelschicht ermöglichte.

Die größte Blase in der Geschichte der Menschheit

Nachdem die Ost-West-Trennung der Welt beendet war, freunde­ten sich auch die Sozialdemokraten in Europa in den neunziger Jahren mit den Verlockungen des modernen Finanzkapitalismus an. Bei den Gipfeln der Progressiven um Gerhard Schröder, Tony Blair und Bill Clinton spielte Kritik an den Banken keine Rolle. Die Tobin-Steuer zur Eindäm­mung des superschnellen Devisenhandels forderten nur die Exoten von Attac. Stolz begab man sich in eine weitere Runde der Liberalisierung, indem man die private Altersvorsorge förderte, Bestimmungen für Derivate lockerte und per Steuer­reform die Auflösung der Deutschland AG forcierte, also der engen Verflechtung der großen Industrie­unterneh­men, Ban­ken und Versicherungen in Deutschland über gegenseitige Kapitalbeteiligungen.

Der Finanzsektor hatte Wohlstandsgewinne für alle versprochen. Für Tony Blair schien diese Verheißung auch wahr zu werden. Die Londoner City trug immer mehr zum britischen Bruttoinlandsprodukt bei; die Steuereinnahmen waren hoch genug, um mit Sozialprogrammen die Arbeitsplatz­verluste in der Industrie zu mildern. In den Vereinigten Staaten wiederum ermöglichten billige Kredite auch geringer Verdienenden den Kauf von Immobilien. Es schien so, als würde der Finanzsektor tatsächlich wesentlich zur Global­allokation, also der Steige­rung von Vermögen und Pro­duk­tivkräften, beitragen.

Den Regierungen war es recht, dass die Notenbanken für eine niedrige Inflation und relativ niedrige Zinsen sorgten. Allein: So wuchs die größte Vermögensblase in der Ge­schich­te der Menschheit heran. Immer mehr Geld wurde von Staa­ten nicht in Infrastruktur oder Bildung und von Firmen nicht in Produktionsanlagen und Innovationen gesteckt, sondern in innovative Finanzprodukte. Viele einzelne Konstruk­tio­nen zur Wertsteigerung wuchsen sich als gehobene Ket­ten­spiele zu Skandalen aus, zum Beispiel als der „Neue Markt“ platzte. Dabei haben große Teile des Finanzmarktes diesen Kettenspielcharakter.

Auch die konservative und erst recht die wirtschaftsliberale Seite des politischen Spektrums, die auf noch mehr Liberalisierung zugunsten der Finanzwirtschaft drängte, hat dabei die Grundwerte Ludwig Erhards verraten: „Der Gesetz­geber muss dem Problem der wirtschaftlichen Macht als einem möglichen Störungsfaktor des marktwirtschaftlichen Gleichgewichts seine besondere Aufmerksamkeit zuwenden.“ Zwar hatte Erhard noch an klassische Kartelle gedacht. Dennoch hätte die Macht der Banken und ihr Verhalten einschließlich der Gehalts- und Bonuspolitik nicht nur Attac oder die Linkspartei irritieren dürfen.

Die Finanzkrise 2008 offenbarte, dass der hohe Anteil der Finanzwirtschaft am Bruttoinlandsprodukt einiger Indus­trie­staaten und vor allem an den Unternehmens­gewinnen eine Blase darstellte. Bis heute ist es nicht gelungen, die ungeheuren Vermögenswerte des reichsten Prozents der Welt­be­völ­kerung zugunsten eines nachhaltigen Wachstums einzufangen. Um es auf eine kurze Formel zu bringen: Noch nie verfügte die Menschheit über so viel reales Kapital und Hu­man­kapital, über so viele Produktionskapazitäten wie heute; selbst das durchschnittliche Einkommen und der Wohl­stand pro Kopf dürften trotz der nun sieben Milliarden Men­schen auf einem historisch sehr hohen Stand sein. Dieses überwältigende Potenzial ist nicht wie in früheren Zeiten von Kriegen bedroht, sondern durch die Tatsache, dass ein paar tausend Milliarden Euro auf der permanenten Suche sind nach zehn statt vier Prozent Zinsen im Jahr.  

Wessen Interessen vertreten die Regierungen?


In den Jahren 2008 und 2009 mussten die Regierungen in aller Welt keynesianisch reagieren, um einen kompletten Absturz der Weltwirtschaft zu verhindern. Mit staatlichem Geld, also mit dem Geld der Steuerzahler, wurden Banken gestützt und rekapitalisiert, Konjunkturprogramme gestartet und der Sozialstaat abgesichert. Das Geld kam zum größten Teil vom Finanzmarkt. Im Jahr 2008 setzte eine doppelte Be­wegung ein, die nicht funktioniert hat und auch gar nicht funktionieren konnte: Zum einen beschlossen die G20 auf ihrem zweiten Gipfel in London im April 2009, dass alle Fi­nanzprodukte zu jeder Zeit und an jedem Ort Regeln und Aufsicht unterworfen sein sollten. Zweieinhalb Jahre später sind wir davon noch weit entfernt, der hinhaltende Wider­stand der Lob­byisten zeigt Wirkung, etwa bei der Verhinde­rung einer Finanztransaktionssteuer. Zum anderen erhöhte sich in der Krise zwangsläufig die Staatsverschuldung. Wenn es noch eines Beweises für die Abhängigkeit der Politik von den Finanzmärkten bedurfte, ist es die daraus folgende Staats­schuldenkrise. Ein System, von dem die Staaten selbst abhängig sind, können sie naturgemäß nur schwer regulieren oder gar radikal reformieren.

Den Mitgliedern der G20 ist klar, dass die Finanzmärkte im Verhältnis zur Realwirtschaft geschrumpft werden müssen. Aber die Europäer tun sich schwer mit dieser Erkenntnis, weil ihr ganzes Einigungsprojekt Euro in Gefahr geraten ist; die Asiaten hoffen auf die Verlagerung von Geschäften in ihre Finanzzentren; und in den Vereinigten Staaten hat die Wall Street einen ungesund großen Einfluss auch auf die Re­gie­rung Obama. Die Finanzwirtschaft vertritt die Inte­res­sen des reichsten Prozents der Weltbevölkerung, während die Re­gierungen nicht klar genug für die Interessen des großen Rests einstehen.

Die Revolution des 21. Jahrhunderts

Der Anteil der Finanzindustrie am Weltsozialprodukt wird nur zurückgehen, wenn die anderen Bereiche ihre Ab­hän­gigkeit reduzieren. Beispielsweise hat die deutsche Realwirt­schaft – ich liebe dieses Wort, weil es den Fi­nanz­markt­kapitalismus zur Irrealwirtschaft erklärt – ihre Eigen­kapitalbasis deutlich gestärkt. Nun müssen auch die Staaten ihre Abhängigkeit verringern. Ein Vorhaben, das in Deutsch­land ein gemeinsames Projekt der Konservativen und der Linken werden könnte. Ausgerechnet einer der bekanntesten konservativen Denker, der frühere Verfassungsrichter Paul Kirchhof, hat hierzu einen wegweisenden Gedanken entwickelt. Kirchhof lässt die übliche konservative Rhetorik vom Staat, der über seine Verhältnisse lebt, beiseite und arbeitet den entscheidenden Punkt der Schuldenkrise heraus: Es komme darauf an, die gegenseitige Abhängigkeit von Finanzwirtschaft und Staat abzuschaffen und dem Staat damit Freiheit zurückzugeben. Denkt man diesen Ansatz zu Ende, folgt daraus eine Revo­lu­tion. Wie einst die französische Revolution Staat und Kirche trennte, würde diese Revolution des 21. Jahrhunderts Banken und Staat trennen. Ohne nennenswerte Staatsverschuldung wären Ratings nicht mehr interessant.

Die Faszination der Banken ist verschwunden

Die Möglichkeit, bei schweren Krisen zu intervenieren, müsste selbstverständlich erhalten bleiben. Aber die Politik hätte keine Chancen mehr, Kosten zu verschleiern. Das linke politische Spektrum muss dabei immer wieder klar machen, dass uns reine Sparorgien nicht weiterbringen. Es ist ja nicht so, das „wir“ über die Verhältnisse gelebt hätten. Ja, die Griechen haben längst fällige Anpassungen ihrer Wirtschaft hinausgeschoben, aber sie sind ein Extremfall. Grundsätzlich ist die Staatsverschuldung eine Verteilungsfrage. Schließlich sind die Bundesrepublik Deutschland oder das Königreich Spanien nicht bei Außerirdischen verschuldet, sondern letztlich bei konkreten Vermögensbesitzern – eben jenem reichen Teil der Bevölkerung. Deshalb brauchen wir die Finanz­transaktions­steuer und eine höhere Vermögensbesteuerung.

Politik wird nicht einfacher, wenn man bei jedem neuen Projekt auch verpflichtet ist zu sagen, wer dafür Steuern oder Gebühren bezahlen muss. Aber sie wird ehrlicher und verständlicher. Das ist keine leichte Aufgabe. Um sofort unabhängig vom Finanzmarkt zu werden, dürfte man keine neuen Anleihen mehr begeben. Das würde nicht nur den Ver­zicht auf neue Kredite bedeuten, sondern auch die Til­gung aller jeweils fälliger Anleihen. Die Eurozone bräuchte dafür über einige Jahre einen Primärüberschuss von vielleicht acht Pro­zent, also eine Anpassung von 12 Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Was das heißt, sieht man in Grie­chen­land. Man wird dieses Ziel nicht mit einer Radikalkur erreichen, sondern auf einem Pfad über 20 bis 25 Jahre, zu dem auch Eurobonds und Inter­ventionen der Europäischen Zentralbank gehören.

Die Faszination, die Banken einst ausstrahlten, ist verschwunden. Die Occupy-Bewegung wurde von vielen Poli­tikern und manchen Wirtschaftsvertretern so lautstark begrüßt, dass man das schlechte Gewissen spürte, nicht selbst schon mit einem Plakat dabei gewesen zu sein. Im 20. Jahr­hundert haben die Türme der Banken die Kathedralen als die höchsten Bauwerke der Städte abgelöst. Wie einst die Kir­chen sollten jetzt die Geldhäuser ihren Einfluss verlieren. Wenn konservative Denker am gleichen Strang ziehen wie die weltweite Bewegung der empörten Jugend, nützt auf Dauer auch die Finanzierung der amerikanischen Präsiden­tenwahl­kämpfe nichts mehr. Dann würden die Banken wieder Dienstleister der Realwirtschaft und der Gesellschaft. Ich weiß nicht, ob Angela Merkel die Tragweite dieser wirtschaftspolitischen Revolution schon verstanden hat. Wenn ja, dann sollte sie Josef Ackermann vor dem Ende seiner Amts­zeit doch noch einmal einladen und ihm diese Er­kenntnis mit auf den Weg geben. «

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