Das ewige Bündnis mit dem Wunschdenken
Sozialdemokratische Politik hat Grundsätzen zu entsprechen. Das Erwartungsprofil ist dabei weitgehend situationsunabhängig und weniger an Problemlösung als an Identitätsfestigkeit orientiert. Das Gleichgewicht zwischen Prinzip und Praxis, zwischen Ideologie und Wirklichkeit, ist eine Lebensaufgabe der deutschen Sozialdemokratie. Kompromissfähigkeit, Wirklichkeitstauglichkeit, die Bejahung des Pragmatismus, Verantwortungsethik - politische Fundamentalkompetenzen, zumal in der Demokratie - standen in einer revolutionären Klassenpartei zunächst nicht hoch im Kurs. Das Übergewicht des Prinzipiellen hatte ursprünglich gute Gründe.
Die vertrauten Affekte der Empörung
Es ist zunächst der Kontext ihrer Entstehung, das Umfeld eines undemokratischen Systems, in dem die Sozialdemokratie als Staatsfeind galt, der ihr eine Neigung zum Oppositionellen, zur praxisfernen Fundamentalkritik in die Wiege legte. Nach ihrer Entstehung blieb die SPD über ein halbes Jahrhundert lang von der Regierung ausgeschlossen. Diskriminierung im Wahlrecht und die Sprengkraft der sozialen Frage im Kaiserreich waren ungünstige Voraussetzungen für eine Konsensbegeisterung in der Arbeiterbewegung. Da die SPD keine Regierungsverantwortung trug, fehlte ihr der Realitätstest. Politische Ideen und Programme mussten nicht in die Praxis übersetzt werden. Das war ein fruchtbarer Boden für den marxistischen Radikalismus. Die Neigung zum Wunschdenken, zur Utopie konnte sich entfalten.
In dem Maße wie die SPD Hoffnungsträger wurde, stand sie unter Erwartungsdruck. Gelegentlich opportune Kompromisse gegenüber den existierenden Herrschaftsverhältnissen lösten damals die bis heute vertrauten Affekte der Empörung aus. Gerade der identitätsbewusste Teil der Anhängerschaft beharrte auf den programmatischen Sieg des Sozialismus. Jegliche taktische Beweglichkeiten und Abstriche in der Ideologie erscheinen unter diesem Vorzeichen als Verrat an der Arbeiterbewegung. In der Zeit der Weimarer Republik trug die SPD erstmals Regierungsverantwortung. Der staatstragende Flügel hatte mit dem Maßstab einer sozialistischen Zielsetzung zu kämpfen, der sich einer Politik der Machbarkeit verweigerte. Die SPD suchte einen breiten gesellschaftlichen Konsens, um der Republik den demokratischen Rückhalt zu sichern. Aber ihrer Klientel gegenüber schien die Partei nicht zu halten, was sie versprach: Die Lösung der sozialen Frage, das Ende der Klassengesellschaft. Die Bürgerlichen dankten der SPD ihre staatstragende Integrationsbereitschaft, wählten sie aber deswegen noch lange nicht.
Diese Situation scheint ein Dauerdilemma der SPD zu sein: Die SPD übt sich in staatspolitischer Verantwortung, tut das Notwendige - "das Wichtige", wie es auf dem zurückliegenden Parteitag in Bochum hieß. Dabei verscherzt sie es sich mit den treuesten ihrer Gefolgsleute. In der Folge werden die Reibungsverluste der internen Debatten so groß, dass das Gefühl der Unsicherheit, der Zweifel an der parteiinternen Durchsetzungsfähigkeit der Führungslinie zu stark ist, um das notwendige Vertrauen, die Ruhe und die Kontinuität für eine fruchtbare Entwicklung der Wirtschaft hervorzubringen.
Immer zwischen Verheißung und Erfüllung
Beruht das strukturelle Dilemma der SPD auf einer besonders schwer zu befriedigenden Anhängerschaft? Ist die SPD die Partei der ewig Unzufriedenen? Parteien haben im politischen System eine Scharnierfunktion. Sie stehen als Mittler zwischen Staat und Gesellschaft, als Nukleus der Verfassungswirklichkeit im Zentrum der politischen Probleme. Sie sind mehr als alle anderen Institutionen dem Input der Bevölkerungsmeinung ausgesetzt - in negativer wie in positiver Hinsicht.
Der Übergang von Wunsch zu Wirklichkeit, die Transformation der Forderung in realisierbare Politik spielt sich vor allem in den Parteien ab. Die SPD leidet besonders darunter, dass Oppositionsparteien immer in eine Rolle der Verheißung drängen müssen. Was sich in Oppositionszeiten an Unmut und Protest, an Hoffnung und Erwartung ansammelt, will saturiert werden, wenn die SPD an die Regierung kommt. Die SPD - mehr als andere Parteien Programmpartei - hat diese Spannung zwischen Erwartung und Erfüllung aushalten müssen und auch immer wieder erfolgreich bewältigt. Ihre Geschichte könnte man verstehen als ein internes Ringen um das Realitätsprinzip.
Die Pragmatiker in der SPD spielten dabei die undankbare Rolle. Von Eduard Bernstein über Friedrich Ebert, Helmut Schmidt bis Gerhard Schröder waren sie stets die Überbringer schlechter Nachrichten und unpopulärer Wahrheiten: Dass die Überwindung der Klassengesellschaft und die Bewahrung der Demokratie nur im Bündnis mit bürgerlichen Kräften möglich sei; dass die sozialdemokratischen Visionen der sozialliberalen Ära die finanziellen Möglichkeiten des Staates überstiegen; oder schließlich, dass das Versorgungsniveau unter den Bedingungen des demografischen Wandels nicht mehr zu halten sei.
Die Pragmatiker, die gern als "Macher" und "Technokraten" ohne Theorie und Vision betrachtet werden, kämpfen nicht nur beständig gegen den inneren Schweinehund der Gruppenegoismen. Sie haben auch ihre liebe Not mit den innerparteilichen Gegenspielern, die genau da ansetzen, wo eine Sozialdemokratie in Regierungsverantwortung besonders empfindlich ist: beim Wunschdenken.
Lieber in sicherem Abstand zur Wirklichkeit
Die Forderungen des linken Flügels der SPD haben sich im Laufe der Geschichte stark gewandelt. Aber eines ist immer gleich geblieben: Die Linke hält mit ihren programmatischen Forderungen einen stets relativ konstanten Abstand zur Realität. War die Demokratie erkämpft, galt sie nicht viel, weil sie den Sozialismus nicht verwirklichte. In der Weimarer Republik nahm die innerparteiliche Linke Destabilisierung in Kauf, weil man die eigenständige Klassenpolitik und die sozialistische Utopie nicht preisgeben wollte.
Die SPD der Nachkriegszeit hat mit ihrem Beharren auf Elemente sozialistischer Wirtschaftsordnung und ihrer Distanz zum Westen den Christdemokraten den Weg zur Staatspartei geebnet. Mühsam hat die sozialdemokratische Führung 1959 mit der Godesberger Wende ihre Anhängerschaft mit der Marktwirtschaft versöhnt. Als man mit der Regierungsbeteiligung 1969 ge-wissermaßen gerade in die sozialdemokratische Zielgerade hätte einlaufen können - Vollbeschäftigung, Massenwohlstand, Vollkasko für alle sozialen Eventualitäten - wurde die Messlatte wiederum nach oben verlegt: Solange die Marktwirtschaft weiter existiert, bleibt der Arbeiter ausgebeutet, lautete nun das Credo des linken Flügels.
Die Geister, die Willy Brandt rief
Mit dem Beginn der sozialliberalen Ära hatte es danach ausgesehen, als machte die SPD den Sprung von der Volkspartei zur Staatspartei, als könnte sie zur strukturellen Mehrheitspartei avancieren. Die Qualität ihres Personals, das Niveau der Diskussion, die Einsatzbereitschaft ihrer Anhänger, das Ge-schick, die Zeichen der Zeit zu erkennen, und ihre Erfolge in der politischen Mitte verliehen ihr eine Attraktivität, die sie selbst und keine andere bundesdeutsche Partei je wieder erreichen konnte.
Doch schon das erste unvorhergesehene Ereignis, der Ölpreisschock von 1973, stürzte die SPD in eine Erfüllungskrise. Eigentlich ist es eine simple Rechnung, dass das Regieren desto einfacher ist, je weniger Erwartungsdruck auf den Schultern der Regierenden lastet. Leider gilt in der Demokratie das Gegenteil für die Machteroberung. Ohne ein Bündnis mit dem Wunschdenken ist kaum Zustimmung zu erlangen.
Die Willy-Wahl von 1972 war ein solches Votum der Hoffnungen. Brandt scheiterte nicht zuletzt an der Unerfüllbarkeit und Maßlosigkeit der Erwartungen, die er selbst mit seinem Eifer eines ganz neuen Anfangs hervorgerufen hatte. Ein mit der Achtundsechziger-Kohorte erstarkter linker Flügel trug das seine dazu bei, dass der Kanzler die von ihm gerufenen Geister nicht mehr los wurde. Die Tarifauseinandersetzung mit der ÖTV 1974 fügte, mit Lohnerhöhungen von elf Prozent, dem Kanzler eine herbe Niederlage und einen kaum korrigierbaren Autoritätsverlust zu.
Klientelpolitik, kostümiert als Gerechtigkeit
Die Linke in der Bundestagsfraktion, damals 34 SPD-Abgeordnete, unterstützte gegen die Mehrheitsmeinung der Fraktion in einer öffentlichen Kampagne die Forderungen linker Einzelgewerkschaften von Lohnerhöhungen bis zu 20 Prozent. Das war eine Kriegserklärung an die Regierung, die in der Ölkrise versuchte, Inflationsgefahr und Verschuldung der öffentlichen Hand in Grenzen zu halten. Regierungspolitiker wie Hans-Jochen Vogel warnten damals, der linke Flügel wolle die Erwartungshorizonte "hochputschen", um den sozialen Frieden zu stören und den Klassenkampf anzufachen.
Vogel hatte dabei die sogenannte Doppelstrategie der Jungsozialisten vor Augen, die Mobilisierungstaktik der marxistisch inspirierten Acht- undsechziger, die nach dem Zusammenbruch der so genannten außerparlamentarischen Opposition in großer Zahl in die SPD eintraten.
Deren erklärtes Ziel war es, Bevölkerungsgruppen für ihre eigenen Interessen im Kampf gegen den Kapitalismus sensibilisieren zu wollen. Das bedeutete, dass man überall zur Stelle war, den Unmut anzuheizen, wo unpopuläre Entscheidungen getroffen wurden - ganz gleich, ob Fahrpreise und Eintrittsgelder erhöht, Subventionen oder Transferleistungen begrenzt wurden oder irgendwo Stellenabbau drohte. Als Kampf für soziale Gerechtigkeit getarnt, wurde diese Mobilisierungsstrategie zum Treibsatz einer expansiven - über jede haushaltspolitische Vernunft erhabene - Verteilungs- und Verschuldungspolitik. Was in der Theorie nur ein taktischer Aspekt im Übergang zum Sozialismus war, schuf in der Praxis eine Dynamik der permanenten Erwartungssteigerung.
Vor allem in Zeiten konjunktureller Schwäche haben die im Frankfurter Kreis organisierten SPD-Linken der eigenen Regierung alle klientelpolitischen Wünschbarkeiten im Gewande sozialer Gerechtigkeit entgegengehalten, um das innerparteiliche Kritikpotenzial gegen die "rechte" Führung zu stärken. Das wurde zum Dauerproblem der sozialliberalen Regierung.
Zwischen 1970 und 1975 verdoppelten sich die Sozialausgaben fast. Die Sozialleistungsquote erreichte 1975 einen historischen Spitzenwert von 33,7 Prozent. Im gleichen Jahrfünft verdoppelte sich auch der nominale Stundenlohn nahezu. Dennoch erntete die Regierung 1976 ein Dauertremolo der Empörung, weil sie die im Bundestagswahlkampf angekündigte Rentenerhöhung von zehn Prozent um ein halbes Jahr verschieben wollte.
Das Selbstverständliche wird tabuisiert
Spektakuläre Höhepunkte waren stets die Entscheidungssituationen auf den Parteitagen oder im Bundestag. Zwischen vierzig und fünfzig SPD-Abgeordnete weigerten sich immer wieder, der Mehrheitsmeinung der SPD-Fraktion zu folgen. 1977 erklärten sich 44 Fraktionsmitglieder der SPD für unfähig, einem Kompromiss mit dem liberalen Koalitionspartner zuzustimmen, der eine Senkung der Vermögenssteuer bei gleichzeitiger Erhöhung der Mehrwertsteuer vorsah.
Das Muster ist immer dasselbe: eine Art sozialpsychologische Ventilfunktion gegen den Disziplinierungsdruck, den die Regierungspolitiker auf die sozialdemokratische Seele ausüben. Die Einen werben in gesamtgesellschaftlicher Verantwortung um Einsicht in die Grenzen staatlicher Versorgung; die Anderen heizen die Erwartungen an, indem sie dem schnöden Partikularinteresse das Gewand einer besonders sozialen Gesinnung umhängen.
Die sozialpolitische Bilanz der sozialliberalen Regierung war atemberaubend: Zwischen 1970 und 1981 stiegen die Sozialleistungen von 25,7 Prozent des Bruttosozialproduktes auf 31 Prozent, während der Anteil der Bruttoinvestitionen an den staatlichen Gesamtausgaben von 12 Prozent auf 7,5 Prozent sank. Die Staatsquote wuchs in diesem Zeitraum von 38 Prozent auf 48,4 Prozent. Allein zwischen 1978 und 1980 stiegen die Staatsausgaben um 30 Prozent. Als die deutsche Wirtschaft 1981 auf eine Rezession zusteuerte - Arbeitslosigkeit und Insolvenzen schnellten in die Höhe -, mussten die als Nachfragepolitik konzipierten sozialen Wohltaten überdacht werden. Der Keynesianismus war an seine Grenzen gestoßen.
Die von Bundeskanzler Schmidt vorangetriebenen Versuche der Konsolidierung und Umsteuerung waren Wasser auf die Mühlen des linken Flügels in SPD und Gewerkschaften. Bereits die kleinste Korrektur wurde als Sozialabbau diskreditiert, Schmidt mit Thatcher und Reagan verglichen. Kaum waren bei Haushaltsverhandlungen mühselig Kompromisse mit dem Koalitionspartner erreicht und neue Finanzierungslücken in Nachtragshaushalten gestopft, kündigte die linke Opposition in der SPD Bundestagsfraktion lautstark Protest an. Damals verlief die Debatte wie heute: Das Selbstverständliche wurde tabuisiert, das Minimale als Kahlschlag deklariert, um das Notwendige ins Reich des Indiskutablen zu verbannen.
Gegen die Agenda 2010 macht die sozialdemokratische Linke heute Front im Namen einer "Mehrheit der Bevölkerung", von der allen Ernstes behauptet wird, sie habe noch immer nicht mehr zu verlieren als ihre Arbeitskraft. Das jüngste gemeinsame Papier von DGB und Parteilinken ist eine Wunschliste. Eigentlich kann es jeder Sozialdemokrat unterschreiben. Nur eines enthält es nicht: Die unangenehmen Wahrheiten, die Botschaft, dass Verzicht unvermeidbar ist, welchen Weg auch immer man einschlägt.
Hauptsache gegen Amerika
Der aktuell gängigste Deckmantel für die sozialpolitische Wirklichkeitsverweigerung lautet bekanntlich: Wir wollen keine amerikanischen Verhältnisse! Michael Müller, Sprecher der Parteilinken, fordert eine neue sozialdemokratische Vision, deren Zielsetzung in nicht viel mehr als der Abgrenzung von den Vereinigten Staaten besteht.
Zu diesem Zweck lohne es sich sogar, den Agenda-Prozess in der SPD zu unterstützen, um Europa und mit ihm den Dritten Weg zu stärken - gegen Amerika versteht sich. Hier sind die alten Reflexe komplett versammelt: Die unbändige Profitgier eines entfesselten Kapitalismus, der in der amerikanischen Gesellschaft seine Verwirklichung gefunden hat, droht das gute alte Europa mit neoliberalem Denken zu infizieren. Dieses Schema ist jederzeit abrufbar: gegen Zuzahlungen bei Arztbesuchen, und seien sie noch so gering, gegen die Anrechnung von Ausbildungszeiten für die Rente, auch wenn davon vor allem die Bessergestellten profitieren.
Der inflationäre Gebrauch der Neoliberalismus-Keule demonstriert die Propaganda zu Gunsten der Besitzstände. Unterschlagen wird dabei natürlich, dass in Deutschland auch nach den radikalsten aller diskutierten Reformen immer noch ein Versorgungsniveau herrscht, das noch in den sechziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts als utopisch verworfen worden wäre.
Linke Agitatoren, mürrische Wähler
Irrtümer und falsche Hoffnungen wird es immer geben. Nur wo Fehler nicht korrigiert, Erwartungen auch dann nicht zurückgenommen werden, wenn sie sich als zu hoch erwiesen haben, verfestigen sie sich zur Immobilität. Es gefährdet die Korrekturfähigkeit der Gesellschaft, dass dem grundsätzlich und tendenziell unbegrenzt vorhandenen Unzufriedenheitspotenzial immer wieder ein Ventil zur Verfügung gestellt wird, um es als Zustimmungsbasis zu benutzen. Konfrontiert mit einer veränderten Wirklichkeit könnte die SPD abermals in einer Erfüllungskrise scheitern, wenn das Bündnis zwischen den Agitatoren eines linken Populismus mit dem Reformunwillen vieler sozialdemokratischer Wähler die Oberhand gewinnt.