Das falsche Helfersyndrom
Es stimmt ja: Das Primat der Politik musste dringend wiederhergestellt werden. Nach der Bankenkrise werden es Politiker schwer haben, die meinen, man könne ohnehin nichts tun, die Verhältnisse seien eben so. National ist der Weg frei für eine strengere Bankenaufsicht. Auch international hat die Finanzkrise die Tür für bindende Vereinbarungen weit aufgestoßen, die in Zeiten der Globalisierung das Rosinenpicken zwischen verschiedenen Standorten erschweren. Politiker können wieder etwas bewirken. Das ist für uns Bürgerinnen und Bürger eine gute Nachricht, denn die Manager dürfen wir schließlich nicht wählen.
Aber bedeutet Primat der Politik zugleich prima Politik? Vorsicht an der Bahnsteigkante. Im Überschwang ihrer neu gewonnenen Größe ist die Große Koalition vielfach über das Ziel hinausgeschossen. Richtig verstanden bedeutet das Primat der Politik: Der Staat darf auf zentralen Feldern des Gemeinwohls nicht vor den angeblichen Sachzwängen kapitulieren. Niemals dürfen Unternehmen offen oder heimlich die Staatsgeschäfte lenken. Dem Staat kommt die Aufgabe zu, den Rahmen unserer Wirtschaftsordnung zu regulieren und den außer Rand und Band geratenen Akteuren auf den Finanzmärkten ihre Grenzen aufzuzeigen. Aber auch die Politiker sollten ihre Grenzen erkennen. Einmischung in die Geschäftspolitik von Unternehmen gehört nicht dazu. Weder im Sinne einer Behinderung im Wege überflüssiger Regulierung, noch im Sinne einer falsch verstandenen Fürsorglichkeit, die sich allzeit bereit zeigt, mit Steuerzahlergeld unternehmerisches Versagen aufzufangen.
Der Volksmund bringt das auf den Satz "Schuster, bleib′ bei Deinem Leisten". Um in diesem Bild zu bleiben: Ein Schuhmacher steht seinem Kunden gegenüber dafür ein, dass die teuren italienischen Mokassins eine gute Sohle bekommen. Macht der Mann aber mit seinen Schuhen bei strömendem Regen einen Waldspaziergang und ruiniert das Leder, ist das nicht dem Schuster anzulasten - und niemand käme auf die Idee, ihn dafür vor Gericht zu zerren. Anders die Profession der Politiker. Sie erklärt sich gegen alle Vernunft für alles verantwortlich und übernimmt bereitwillig Haftung für das allgemeine Lebensrisiko.
"Liebe Freunde, wir haben es geschafft!"
Bei den Rettungsversuchen von Opel und Arcandor wurde dieses falsche Helfersyndrom vorgeführt. Im Fall Opel werden die Steuerzahler in unverantwortlicher Weise für die unabsehbare Geschäftspolitik eines privaten Investors in Haftung genommen. Erinnert sei nur an die Aussage des Finanzinvestors Ripplewood auf die Frage, warum er bei Opel mitbiete, obwohl er keine Erfahrungen in der Automobilindustrie besitze: "Wir haben uns die asymmetrische Risikoverteilung angesehen und dann entschieden, auf diese Wette können wir eingehen." Im Fall Arcandor wurde lange heruntergespielt, dass die Probleme des Kaufhauskonzerns hausgemacht sind und nicht das Geringste mit der Finanzkrise zu tun haben.
Es wiederholt sich Geschichte, und zwar als Farce. Erneut erliegt eine Regierung dem "Holzmann-Syndrom". Im Herbst 1999 geriet der gleichnamige Frankfurter Baukonzern ins Trudeln. Um die Firma Holzmann vor der Pleite zu retten und seinen Ruf als Macher zu mehren, eilte Bundeskanzler Gerhard Schröder zur Rettung herbei. Er sagte Kredite und Bürgschaften des Bundes in Höhe von 125 Millionen Euro zu, was dazu führte, dass die Gläubigerbanken dem Unternehmen eine Schonfrist zubilligten. Mit stolzgeschwellter Brust trat Schröder vor die Frankfurter Bauarbeiter. "Liebe Freunde, wir haben es geschafft!" rief er ihnen zu und wurde umjubelt. Doch im Frühjahr 2002 wollten die Banken dann doch ihr Geld sehen. Die angebliche Rettungstat konnte die Insolvenz des Unternehmens letztlich nicht abwenden. Den Schaden und den Spott hatte der Kanzler.
Schröders Holzmann, Stoibers Maxhütte
Was Schröder sein Holzmann, war dem bayerischen Ministerpräsidenten Edmund Stoiber die Maxhütte. Den dortigen Arbeitern verkündete er im Jahr 2000 nach einem millionenschweren Rettungspaket: "Ihr habt"s geschafft". Auch das Ende war ähnlich: Im Juni 2002 meldete das Stahlunternehmen endgültig Insolvenz an. "Wir werden uns damit nicht einfach abfinden, das ist noch nicht das Ende der Debatte", polterte der nordrhein-westfälische Ministerpräsident Jürgen Rüttgers, als die Firma Nokia ankündigte, ihren Bochumer Standort mit 2.300 Beschäftigten dicht zu machen. Nokia ließ sich davon nicht beirren, blieb bei seiner Entscheidung und lehnte sogar Rüttgers Bitte um ein Gespräch mit der Geschäftsleitung in Helsinki schnöde ab. Die Geschäftspolitik eines weltweit operierenden Konzerns zu beeinflussen, erwies sich für den Ministerpräsidenten eines deutschen Bundeslandes als eine Nummer zu groß. Richtig lag Rüttgers dagegen mit seinem Vorstoß, die vom Land Nordrhein-Westfalen an Nokia gezahlten Investitionsbeihilfen für den Standort Bochum zurückzuverlangen. Gegen den zweckwidrigen Einsatz von Steuermitteln vorzugehen
- das steht in seiner Macht.
Das Problem der vermeintlich heroischen Rettungstaten liegt nicht nur darin, dass sie das Primat der Politik überstrapazieren. Auf mittlere Sicht befördern die Regierenden jenen Demokratiefrust, der bei der Europawahl wieder so offen zutage getreten ist. Der Verlust des öffentlichen Vertrauens in die deutschen Politiker hat eine zentrale Ursache darin, dass sie Lösungskompetenz für Probleme suggerieren, die keine Politik der Welt - und wäre sie noch so fähig und effektiv - lösen kann. Es ist gut, wenn sie sich an die Seite der Betroffenen stellen; aber es ist sträflich, bei ihnen falsche Erwartungen zu wecken. Geht die Hilfsaktion schief, sind die Politiker die Verlierer. Sie demaskieren ihre eigene Machtlosigkeit, im schlimmsten Fall verbrennen sie Steuergelder. Schlägt ihr Rettungsversuch fehl, fallen spätere Massenentlassungen den Volksvertretern auf die Füße, obwohl eigentlich das Management sie zu verantworten hat.
Warum nicht Kinderwagen subventionieren?
Die desolate Lage des Bundeshaushalts sorgt dafür, dass sich in der öffentlichen Wahrnehmung der Wind dreht. Teile des Konjunkturpakets erweisen sich schon heute als fragwürdig. Ob es Aufgabe des Staates ist, durch milliardenschwere Anreize den Autoverkauf anzukurbeln, darf bezweifelt werden. Die Abwrackprämie ist einer der größten Erfolge, die jemals eine Lobby in Deutschland durchgesetzt hat. Gerade in Zeiten einer Großen Koalition, die doch angeblich besonders widerstandsfähig gegen Partikularinteressen sein sollte, muss diese Eins-zu-Eins-Umsetzung eines Lobbyvorschlags erschrecken. Wer zufällig keinen Kraft-, sondern einen Kinderwagen braucht, hätte sich über eine allgemeine Steuersenkung mehr gefreut. Oder darüber, dass der Staat das Geld in schweren Zeiten zusammenhält und nicht wieder der nächsten Generation neue Schulden aufbürdet.
Die Maßnahmen der Großen Koalition gegen die Finanzkrise werfen weitere Fragen auf. Warum fließt das Geld aus dem Konjunkturpaket in Schulgebäude und nicht in neue Lehrer? Durfte eine Regierung angesichts der drastisch gesunkenen Geburtenzahlen die Rentenformel manipulieren und gesetzlich garantieren, das Rentenniveau werde nicht sinken? Die Rechnung für die "Wohltaten" wird den künftigen Generationen präsentiert. Im Himmel ist Jahrmarkt - dieses Motto gilt leider besonders in Wahlkampfzeiten. So laufen Parteien, die den Bürgern angesichts der desolaten Lage des Bundeshaushalts schnelle Steuererleichterungen versprechen, in die Glaubwürdigkeitsfalle.
Sozial ist, wer die Jobs von morgen schafft
Politiker, die sich als allmächtige Gestalter inszenieren, nähren falsche Hoffnungen, die später umso bitterer enttäuscht werden. Wähler legen dann die Latte so hoch, dass sie jede Regierung, und sei sie noch so gut, nur reißen kann. Wenn das Volk seine Vertreter für immer mehr verantwortlich macht, ihnen immer mehr Rettungsaktionen abverlangt, überfordert es sie - und fühlt sich selbst für immer weniger zuständig. Ganz so einfach können also auch wir Bürger uns nicht aus der Verantwortung stehlen. Tatsächlich sind manche von uns zu schnell mit der Forderung bei der Hand, "die Politik" müsse es richten. Der Rat an die Regierenden lautet, sich nicht zu weit aus dem Fenster zu lehnen. Nur dann werden auch die Bürger ihre Erwartungen auf ein realistisches Maß herunterschrauben und von den Volksvertretern nicht permanent mehr verlangen, als diese zu leisten in der Lage sind.
Das Ergebnis der Europawahl ist ein Signal, dass der Lernprozess bei den Wählerinnen und Wählern in dieser Hinsicht schon weiter gediehen ist, als die Parteizentralen glauben. Opfer dieses neuen Realismus, den man nicht zu leichtfertig als mitleidlosen Egoismus abqualifizieren sollte, wurde vor allem die SPD. Sie landete bei schwachen 20,8 Prozent, bei den Arbeitern, ja sogar bei den Arbeitslosen lag die Union vorne. Obwohl die Hilfen für Opel auch von der Kanzlerin vorangetrieben wurden, hatten vor allem Sozialdemokraten versucht, mit dieser "Rettungsaktion" zu punkten. SPD war zum Synonym für "Staatshilfen-Partei Deutschlands" geworden, was selbst viele der ihr Nahestehende nicht goutierten: Die Union gewann aus dem linken Lager fast 600.000 Stimmen hinzu. Viele SPD-Wähler, die brav Steuern zahlen, wollten den vorauseilenden Unternehmensrettern Franz Müntefering und Frank-Walter Steinmeier keinen Blankoscheck ausstellen. Hingegen wirkte sich die klare Positionierung von Wirtschaftsminister Karl-Theodor zu Guttenberg gegen Staatshilfen für Opel und Arcandor nach allen demoskopischen Daten zugunsten der Unionsparteien aus.
Die einfache Wahrheit, dass zunächst erwirtschaftet werden muss, was der Staat anschließend verteilen will, hat bei den Bürgern breiten Rückhalt. Das bestätigen auch die Ergebnisse für die kleinen Parteien. Die Linkspartei bekam für ihren Geldverschwendungskurs eine Abfuhr. Grüne und FDP, die gegen die Opel-Rettung argumentierten und mit unterschiedlichen Akzenten für solidere Haushalte und nachhaltigeres Wirtschaften stehen, wurden gestärkt. Als sozial wird nicht mehr empfunden, wer sich mit dem Geld der Bürger an die Arbeitsplätze von gestern klammert, sondern wer die Jobs von morgen schafft.
Zu offensichtlich arbeiteten die SPD-Spitze, aber auch die CDU-Kanzlerin, mit den Methoden jener "Postdemokratie", die der britische Politologe Colin Crouch beklagt. Auf der einen Seite sieht er Politiker, die ihre Autorität verloren haben und sich deshalb in die Methoden von Showbusiness und Marketing flüchten. Um kurzfristig zu punkten, zögen sie Themen hoch, die sie entweder überzeichnen oder für die sie keine Lösung parat haben. So heizen sie die Spirale von hoher Erwartung und bitterer Enttäuschung an - ein gefährliches Spiel für die Demokratie.
Aus dem Ergebnis der Europawahl spricht das Misstrauen gegenüber solcher Symbolpolitik. Aus Erfahrung klug geworden, wissen Wähler, dass sie jede neue Staatsausgabe früher oder später mit einer Steuererhöhung finanzieren. Insofern sollte der Warnschuss vom 7. Juni 2009 all jene - in SPD und Union - stoppen, die mit teuren Wahlkampfversprechen punkten wollen. Wenn Politiker aller Couleur aus dem Europawahlergebnis diese Lehre zögen, könnte das ihrer Glaubwürdigkeit und dem Wohlergehen unserer Demokratie nur gut tun.