Das letzte Aufatmen

Das europäische Einigungswerk steht auf der Kippe. Scheitern Emmanuel Macron und Martin Schulz, wird es in fünf Jahren für die EU zu spät sein, ihre Institutionen wieder an die Werte und Ziele anzupassen, für die sie bei ihrer Gründung stand

Am Abend des 4. Dezember 2016 war die Erleichterung groß. Der Grünenpolitiker Alexander Van der Bellen hatte nach einem Politkrimi die Wahl zum Bundespräsidenten Österreichs gegen Norbert Hofer von der rechten FPÖ gewonnen. Wochenlang war zuvor vom möglichen „Öxit“ – dem Austritt Österreichs aus der EU – die Rede gewesen. Nach der Wahl von Donald Trump und der Entscheidung für den Brexit wäre eine Wahl Hofers ein weiterer schwerer Schlag gewesen. Zuletzt hat der Rechtspopulist Geert Wilders bei der Parlamentswahl in den Niederlanden erneut Stimmen hinzugewonnen. In Frankreich schaffte die Rechtspopulistin Marine Le Pen den Einzug in die Stichwahl um das Präsidentenamt, und auch in Deutschland nimmt der Wahlkampf Fahrt auf.

»Sie kennen mich« reicht nicht mehr


Die Kampagnen unterscheiden sich fundamental von denen vergangener Jahre. Während bei der Bundestagswahl 2013, überspitzt formuliert, das „Sie kennen mich“ der Merkel-CDU gegen die Mindestlohn-Partei SPD stand, geht es 2017 ums Ganze. Es geht um die Zukunft des Projekts Europa, um unsere Grundwerte Offenheit, Toleranz, Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und das Recht auf freie Entfaltung. Niemand hat das bislang so glaubwürdig verkörpert wie Martin Schulz. Das erklärt zumindest in Teilen den Aufschwung der SPD in den Umfragen.

Anders als Union und FDP behaupten, redet Martin Schulz das Land nicht schlecht. Die Menschen spüren vielmehr, dass Schulz begriffen hat, was auch viele von ihnen beschäftigt: Dass Phänomene wie gefühlte und tatsächliche Ungerechtigkeit, zunehmende Verachtung politischer Eliten, grassierender Populismus, soziale und kulturelle Spaltungen der Gesellschaft, internationale Konflikte, Skepsis gegenüber Globalisierung und Freihandel, die Sinnkrise der EU und die Veränderungen der Digitalisierung miteinander zusammenhängen. Dabei geht es gar nicht darum, den Menschen die feinen Zusammenhänge zu verdeutlichen – es ist ohnehin fraglich, wer dies könnte. Auch Expertinnen und Experten arbeiten hier auf Basis von Spekulationen und Hypothesen. Vielmehr geht es darum, dass hier eine erfahrene Persönlichkeit steht und klarmacht, dass es „so“ nicht weitergehen kann.

Auf Macron und Schulz kommt es an

Angesichts der Umfragen verfiel die Union in Panik und setzte auf persönliche Attacken. Ein großer Fehler. Die Menschen schätzen es in einer derart aufgeheizten Stimmung nicht, wenn die Politik mit sich selbst statt mit ihren Sorgen beschäftigt ist. Umso besser, dass Schulz und die SPD mit diesen Angriffen souverän umgehen. Einige Attacken zielen auf die enge Abstimmung mit Kommissionspräsident Juncker in seiner Zeit als Parlamentspräsident. Der Kanzlerkandidat, so der Tenor, sei der klassische Politiker im Hinterzimmer und ein Sinnbild für Große Koalitionen. Was die Union vergisst: Die Koordinierung zwischen Schulz und Juncker war die letzte Brandmauer gegen das nationalstaatliche Agieren der Staats- und Regierungschefs im Europäischen Rat.

Man kann an der Europapolitik ehemaliger Staatsspitzen wie Helmut Kohl oder François Mitterrand viel kritisieren, aber sie waren in der Lage, nationale Wünsche zugunsten des geteilten Interesses am geeinten Europa zurückzustellen. Im derzeitigen Rat finden sich keine Akteure, die sich daran orientieren. Von einem deutsch-französischen Schulterschluss kann nicht mehr die Rede sein. Bundeskanzlerin Merkel wird in vielen Medien und in großen Teilen der Bevölkerung als Europas Anführerin angesehen. Tatsächlich jedoch ist sie nicht die Lösung, sondern Teil des Problems. Merkel und Finanzminister Wolfgang Schäuble mögen überzeugte Europäer sein. Trotzdem stellen sie innenpolitische Interessen über das Gesamtwohl Europas. Sinnbildlich hierfür war die Griechenlandkrise im Jahr 2010, als Merkel die Rettung Griechenlands in Frage stellte, um die Landtagswahlen in Nordrhein-Westfalen für die CDU zu retten. Dieses Manöver sorgte für Panik an den Finanzmärkten, verstärkte und verteuerte die griechische Tragödie. Dass die Union im Wahlkampf erneut europäische gegen vermeintliche nationale Interessen auszuspielen versucht, zeigen Aussagen prominenter Unionspolitiker wie Fraktionschef Volker Kauder.

Die Handlungsunfähigkeit der EU liegt überwiegend im Rat, was bereits die medial aufgebauschten Gipfeltreffen verdeutlichen. Krisenpolitik anstatt ordentlicher Verfahren – das ist inzwischen zum zentralen Steuerungsmodus in der EU geworden. Europa schafft es nicht mehr aus der Defensive in die Offensive. Sich im Rat nicht zu einigen und bei innenpolitischen Problemen auf Brüssel zu zeigen, ist zur Paradedisziplin vieler Regierungen geworden. Dieses Problem lässt sich einzig und allein aus dem Rat heraus lösen. Dafür sind aber Regierungschefs nötig, die wissen, dass nationale Interessen zugunsten des Überlebens der EU zurückstehen müssen und dass sie gerade dadurch ihren Nationen am besten dienen.

Ohne Frankreich und Deutschland ist ohnehin kein Blumentopf zu gewinnen. Hier kommen der neue französische Präsident Emmanuel Macron und Martin Schulz ins Spiel. Beide sind keine blinden Europa-Enthusiasten, sondern benennen deutlich, was falsch läuft in der EU und vor allem im Rat. Sie wissen, dass es notwendig ist, die EU vom Kopf auf die Füße zu stellen. Mit ihrem Einfluss auf den EU-Haushalt sind beide Staaten in der Lage, eine Reform der EU tatsächlich durchzusetzen. Auch wenn man es zunächst nicht glauben mag, gibt es derzeit einige Hebel, um die Mitgliedsstaaten für ein starkes Europa zu gewinnen. Die Osteuropäer wünschen sich eine stärkere gemeinsame Verteidigungspolitik, das südliche Europa benötigt Investitionen in Wachstum und Beschäftigung, und Frankreich sowie die Beneluxstaaten fordern mehr Zusammenarbeit auf dem Feld der inneren Sicherheit.

Der inhaltliche Reformbedarf in der EU deckt sich mit diesen Reformwünschen. Die Brüsseler Politik sollte sich daher auf die großen Fragen wie Verteidigung, Migration, Sicherheit, Wachstum und auch Nachhaltigkeit konzentrieren. Diese inhaltlichen Forderungen können nur Frankreich und Deutschland mit einer institutionellen Reform der EU verknüpfen: Das Europaparlament und die europäische Demokratie müssen auf Kosten des Rates gestärkt werden, wenn verhindert werden soll, dass sich die Bürger weiter von der EU entfernen. Ohne eine effiziente und effektive EU werden nationale Wahlen noch häufiger mit einem europakritischen Kurs gewonnen werden. Letztlich wird dies zum Scheitern des europäischen Friedens- und Wohlstandsprojekts führen.

Das kleinere Übel ist nicht gut genug

Die Präsidentschaft Hofers in Österreich wurde verhindert, indem sich alle politischen Kräfte diesseits der Rechtspopu-listen zusammenschlossen. Wähler vom linken Rand wie auch Konservative mussten für einen Kandidaten stimmen, der ihnen politisch nicht nahesteht, um das für sie größere Übel zu verhindern. ÖVP, SPÖ, die Grünen und die liberalen NEOS schafften es mit einem Kraftakt, Van der Bellen auf 53 Prozent zu hieven. In Großbritannien plädierten die großen Parteien hingegen ebenso emotions- wie erfolglos für den Verbleib in der EU. Um Marine Le Pen zu verhindern, mussten in Frankreich Konservative und Linke im zweiten Wahlgang einen Pro-Europäer und Wirtschaftsliberalen wählen, der sich offen für die Aufnahme von Flüchtlingen zeigt. Das hat in diesem Jahr noch einmal funktioniert. Auf Dauer werden die Menschen jedoch nicht mehr gegen ihre eigentlichen Überzeugungen ungeliebte Kandidaten wählen, um eine rechtsextreme Präsidentin zu verhindern. Sie werden zu Hause bleiben und den Radikalen das Feld überlassen. In Frankreich und Österreich haben die Populisten über Jahre dicke Bretter gebohrt und werden von vielen als fester Bestandteil der politischen Landschaft betrachtet. Le Pen und Hofer können sich bei einem „Weiter so“ in der Innenpolitik ihrer Länder und bei einer reformunwilligen EU abwartend zurücklehnen. Wenn sich die EU nicht endlich handlungsfähig zeigt und Europa seine Wohlstands- und Sicherheitsversprechen unter Beweis stellt, werden die Populisten nicht mehr aufzuhalten sein.

Schulz und Macron stehen gemeinsam für die letzte Chance, das Ruder zugunsten des europäischen Einigungswerks herumzureißen. Dafür müssen sich der neue französische Präsident und der kommende deutsche Bundeskanzler glaubhaft an die Spitze derjenigen stellen, die zum Wohle des Ganzen auf kurzfristige innenpolitische Kalküle verzichten. Scheitern Macron und Schulz, dann müssen wir uns spätestens in fünf Jahren mit einer Präsidentin Le Pen, einem Bundeskanzler Strache und einem Premierminister Wilders auseinandersetzen. Dann wird es für die EU zu spät sein, ihre Institutionen und ihre Funktionsweise wieder an die Werte und Ziele anzupassen, für die sie bei ihrer Gründung stand. Jean-Claude Juncker bezeichnete die Kommission zu Beginn seiner Amtszeit als „Kommission der letzten Chance“. Angesichts des Zerfaserns der EU, der möglichen Spaltung der verbleibenden 27 im Zuge der Brexit-Verhandlungen und des externen Drucks, der von Russland und den USA ausgeht, könnten wir Ende des Jahres einen „Europäischen Rat der letzten Chance“ bekommen. Wir werden ihn brauchen.

zurück zur Ausgabe