Das sozialdemokratische Reform-Europa

Acht Jahre lang, von 1995 bis 2003, hat unser Autor als Ministerpräsident die Erneuerung Finnlands energisch vorangetrieben. Hier erläutert er, mit welchen Rezepten Sozialdemokraten im 21. Jahrhundert erfolgreich sein können

Die größte Erweiterung in der Geschichte der Europäischen Union ist am 1. Mai erfolgt, die nächste Erweiterung ist bereits absehbar, und die erste europäische Verfassung ist in diesen Wochen beschlossen worden. Dies sind enorme Fortschritte in der Entwicklung der EU. Die neue Verfassung gibt uns jetzt die Chance, die erweiterte Union zu konsolidieren und näher an die Menschen heranzuführen. Nun wartet sie auf Ratifizierung und Implementierung. Sie soll ein längerfristiges Fundament für die erweiterte EU legen.

Für die Konsolidierung der EU ist es wichtig, dass die Verfassung jetzt beschlossen wurde. Vor weiteren Schritten zur Vertiefung und Erweiterung müssen wir erst Erfahrungen mit der Verfassung sammeln. Dazu muss sich die neue Union jetzt in der Praxis bewähren. Das ist an sich schon eine große Herausforderung. Der Beitritt Rumäniens und Bulgariens ist ohnehin beschlossen. Die Aufnahme der anderen Balkanländer liegt ebenfalls im Eigeninteresse der EU. Und der Türkei kann man nicht nach 40 Jahren Beitrittsperspektive die Tür vor der Nase zuschlagen. In dieser Lage sind neue Erweiterungsversprechen nicht ratsam. Das heißt aber nicht, dass Nachbarn wie die Ukraine für immer ausgeschlossen bleiben.

In der Außenpolitik muss die erweiterte EU ihrer internationalen Verantwortung gerecht werden. Die Welt braucht ein handlungsfähiges Europa. Erst eine solche Union kann in vollwertiger Partnerschaft mit den USA, aber auch mit China und Russland zur weltweiten Stabilität beitragen. Insbesondere seitens der großen Mitgliedstaaten setzt das voraus, dass die gemeinsamen Interessen Vorrang vor bilateraler Diplomatie haben. Die neue EU-Sicherheitsstrategie stellt dafür eine gute Grundlage dar.

Darüber hinaus ist die internationale Wettbewerbsfähigkeit der EU von fundamentaler Bedeutung. Das gilt besonders angesichts der Erweiterung. Die Erweiterung ist ein wichtiger Impuls für das europäische Wirtschaftswachstum. Zugleich benötigen die neuen Mitgliedstaaten unsere ganze Solidarität, um vollständig in die EU und den Binnenmarkt integriert zu werden. Die alten Mitgliedstaaten müssen ihre eigene Lage ebenfalls kritisch betrachten. Trotz vieler Fortschritte ist das Lissabon-Ziel noch weit entfernt. Wir müssen unbedingt entschiedene Maßnahmen ergreifen. Wir benötigen eine Investitionspolitik, die Zukunftsperspektiven fördert. Wir brauchen mehr Ausbildung, mehr Forschung, mehr Entwicklung. Mit der Dienstleistungsrichtlinie müssen wir die Dienstleistungsmärkte öffnen, um die Produktivität der europäischen Wirtschaft zu erhöhen. Und wir brauchen eine fortschrittliche europäische Einwanderungspolitik. Das ist nicht nur ein demografisches Gebot. Es ist auch ein Mittel im internationalen Wettkampf um die hellsten Köpfe.

Auf allen Gebieten ganz weit vorn

Laut World Economic Forum ist Finnland am weitesten fortgeschritten bei der Erreichung des Lissabon-Ziels. Die Messkriterien der Untersuchung waren: Informationsgesellschaft; Innovation sowie Forschung und Entwicklung; Liberalisierung; Netzwerkindustrien; Unternehmen; soziale Einbeziehung; sowie nachhaltige Entwicklung. Unsere Wettbewerbsfähigkeit beruht darauf, dass wir öffentliche Mittel über eine Vielzahl an staatlichen Leistungen für dynamische Zwecke einsetzen: Ausbildung, Forschung und Entwicklung sind die Grundlage der Informationsgesellschaft. Ebenso wichtig ist unser transparentes Innovationssystem von der Entwicklung bis zum Endprodukt. In dessen Zentrum steht die umfassende Kooperation von staatlichen Einrichtungen und Universitäten mit kommerziellen Unternehmen.

Finanzielle Transfers sind nicht genug

Die wichtigste Ressource für Wettbewerbsfähigkeit bleibt jedoch der Mensch. Ein kleines Volk wie wir kann es sich nicht leisten, menschliche Ressourcen ungenutzt zu lassen. Staatliche Leistungen müssen das produktive Potenzial der Menschen mobilisieren und maximieren. Humankapital muss so umfassend wie möglich ausgeschöpft werden. Das setzt jedoch soziale Einbeziehung voraus. In den Turbulenzen der Globalisierung brauchen die Menschen Sicherheit. Besonders im Bildungssystem ist eine gleichberechtigte Teilhabe erforderlich - unabhängig von der sozialen Herkunft.

Gerade unter diesem Gesichtspunkt ist es wichtig, dass junge Familien besonders gefördert werden. So ermöglichen zum Beispiel eine umfassende Kinderbetreuung sowie Ganztagsschulen mit Schulspeisung, dass beide Elternteile arbeiten können. Das steigert nicht nur das Familieneinkommen und dadurch das Steueraufkommen. Im Scheidungsfall ist angemessen entlohnte Arbeit die beste Versicherung Alleinerziehender gegen finanziellen Abstieg. Deswegen ist es von höchster Wichtigkeit, Frauen in vollem Umfang in den Arbeitsmarkt zu integrieren. Staatliche Leistungen müssen diesem Ziel dienen. Bloße finanzielle Transfers können das nicht leisten; man braucht eine leistungsstarke öffentliche Kinder- und Jugendbetreuung. Ein gut ausgestattetes Schulsystem bereitet die Kinder zugleich auf ihre Zukunft vor. Ziel ist nicht Leistungsauslese, sondern eine möglichst individuelle Förderung aller Schüler.

Aufgrund einer solchen Schwerpunktsetzung der öffentlichen Dienstleistungen ist Finnland nicht trotz seines Wohlfahrtssystems, sondern gerade wegen desselben international wettbewerbsfähig.

Bei langfristigen Strukturentscheidungen haben wir in Finnland besonders auf nachhaltige Lösungen gesetzt. Dazu zählt auch der Bau unseres fünften Kernkraftwerks. Angesichts des Kyoto-Protokolls und des steigenden Energiebedarfs brauchen wir eine Energieversorgung zu angemessenen Kosten. Außerhalb der Europäischen Union liegende Energieerzeugung ist keine Lösung. Auf die Sicherheit und Zuverlässigkeit solcher Lieferungen haben wir nicht genug Einfluss. Für eine nachhaltige Energiepolitik ist es ebenso wichtig, die Energieeffizienz zu steigern. Gerade bei der Nutzung fossiler Brennstoffe muss der Ausnutzungsgrad maximiert werden. Nachhaltigkeit heißt aber zugleich auch, die Entwicklung erneuerbarer Energiequellen voranzutreiben.

Ohne Konsolidierung kein Vertrauen

Volkswirtschaftliche Belebung setzt gezwungenermaßen die Konsolidierung der Staatsfinanzen voraus. Es dürfen keine Zweifel an der finanziellen Leistungsfähigkeit des Staates aufkommen. Die Verbraucher müssen darauf vertrauen, dass die Renten bezahlt und das Gesundheitssystem finanziert werden können. Fehlt ein solches Vertrauen in den Staatshaushalt, weigern sich die Verbraucher, Geld auszugeben - selbst wenn die Exportwirtschaft anzieht, nimmt die Binnennachfrage dann nicht zu. Dabei liegt gerade in der Binnennachfrage der Schlüssel zum Abbau von Arbeitslosigkeit. Selbst Steuersenkungen regen unter solchen Bedingungen nicht mehr die Nachfrage an. Sie führen nur zu einer höheren Sparquote. Ihre stimulierende Wirkung verpufft.

Verlorenes Vertrauen kann nur wiedergewonnen werden durch ein umfassendes Strukturprogramm; man braucht ein schlüssiges Konzept für eine glaubwürdige Finanzpolitik und einen ausgeglichenen Haushalt; der Beitritt zur europäischen Währungsunion war ein Kernelement der finnischen Stabilitätspolitik.

Aus eigener Erfahrung als Regierungschef in schwierigen Zeiten kann ich nachvollziehen, welchen gewaltigen Herausforderungen die deutsche Regierung derzeit gegenübersteht. Dem mutigen Reformkurs von Bundeskanzler Schröder möchte ich daher meine volle Unterstützung aussprechen - gerade angesichts der bitteren Wahlergebnisse vom 13. Juni. Auch in Finnland haben wir noch längst nicht alle Herausforderungen überwunden. Einen solchen Zustand wird es auch nie geben. Vielmehr werden wir unsere Errungenschaften immer wieder auf deren Zukunftstauglichkeit abklopfen müssen.

Die alten Rezepte sind Teil des Problems

In Finnland macht uns immer noch eine viel zu hohe Arbeitslosigkeit zu schaffen. Trotz mehrjährigen Wirtschaftswachstums über dem EU-Durchschnitt haben wir dieses Problem noch immer nicht bewältigen können. In Finnland wie in Deutschland bereiten uns der Zustand der kommunalen Haushalte, die steigenden Kosten im Gesundheitswesen und die Alterung der Bevölkerung zunehmend Sorgen. Zur finanziellen Sicherung des Sozialstaates ist es erforderlich, die Beschäftigungsquote zu steigern. Wir müssen die Menschen schneller in den Arbeitsmarkt integrieren und ihr Potenzial länger nutzen. Dieselben strukturellen Herausforderungen stellen sich praktisch überall in Europa. Als Sozialdemokraten können wir aber nicht einfach auf alte Rezepte zurückgreifen. Was in der Vergangenheit erfolgreich war, wurde meist unter ganz anderen Bedingungen entwickelt. Und seien wir ehrlich: Unter den heutigen Bedingungen sind einige der alten Rezepte selbst zum Teil des Problems geworden.

Gerade das macht es für Sozialdemokraten so schwierig: Wir sind gezwungen, unsere eigenen Errungenschaften zu hinterfragen, ohne unsere Grundüberzeugungen in Frage zu stellen. Es drängt sich die Frage auf: "Sind Sozialdemokraten überhaupt zu den nötigen Reformen fähig?" Von den Konservativen wird uns dies stets bestritten. Ich selbst bin fest überzeugt: Gerade die Sozialdemokratie hat nicht nur die Fähigkeit, sondern den Auftrag zu Reformen. Nur Sozialdemokraten sind in der Lage, den erforderlichen gesellschaftlichen Konsens herbeizuführen. Nur wir können so umfassend Arbeitnehmer und Zivilgesellschaft in den Reformprozess einbinden. Und gerade auf die Unterstützung dieser Gruppen kommt es an, wenn der Reformprozess nicht bei der nächsten Wahl wieder abgewählt werden soll. Im Übrigen ist es falsch zu behaupten, Sozialdemokraten wären allein verantwortlich für sozialstaatliche Verkrustungen und Reformstau. In vielen Ländern Europas ist konservativen Regierungen Wirtschafts- und Reformpolitik nicht gelungen.

Die Reformdebatte braucht neuen Schwung

Die Sozialdemokratie hat die Herausforderung erkannt, nur fehlt es uns bisher an gemeinsamen Konzepten. Ende der neunziger Jahre regierten Sozialdemokraten in einer Mehrzahl europäischer Länder; in den USA führte Präsident Bill Clinton das Weiße Haus. Damals begannen wir eine viel versprechende Debatte über den so genannten "Dritten Weg" oder die "Neue Mitte". Mutige Schritte wurden gemacht und interessante Konzepte entwickelt. Dennoch scheint der Debatte nun der Elan ausgegangen zu sein. Woran liegt das?

Es gibt eine Vielzahl von Gründen. Neue Initiativen stellten alte Besitzstände in Frage; die junge Debatte war rasch einem Schwall traditionalistischer Rhetorik ausgesetzt. Es gelang auch nicht ganz, den Eindruck zu widerlegen, dass nur ein exklusiver Club debattieren würde. Schließlich entsteht auch schnell der Verdacht von Beliebigkeit, wenn regierende Parteien theoretische Konzepte entwickeln: Jede Regierungsmaßnahme lässt sich dann leicht zum Teil der neuen Theorie erklären. Die Initiative scheint im Moment verloren gegangen zu sein. Nun liegt es an uns, sie wieder aufzunehmen. Die Sozialdemokratische Partei Europas hat mit Poul Nyrup Rasmussen einen fortschrittlichen neuen Vorsitzenden erhalten. Der Moment wäre günstig, der Debatte neuen Schwung zu geben. Die Idee eines sozialdemokratischen think tank in Brüssel könnte entscheidende Impulse liefern.

Wir sind heute in der Verantwortung, weitere Schritte zu tun. Wir dürfen die europäische Reformpolitik nicht den Konservativen überlassen. Reformorientierten Sozialdemokraten wird oft vorgeworfen, lediglich Neoliberalismus zu kopieren. Dass dieser Vorwurf nicht zutrifft, wissen alle reformorientierten Sozialdemokraten. Es liegt an uns, dies auch nach außen deutlich zu machen. Neoliberalen geht es darum, den Sozialstaat abzuschaffen. Reformorientierten Sozialdemokraten geht es um das genaue Gegenteil: den Erhalt des Sozialstaats für die Zukunft. Wir müssen unsere sozialdemokratischen Werte deutlich kommunizieren, ohne im Reformstreben nachzugeben. Wir müssen klarstellen, dass wir nur deshalb mehr Effizienz, Initiative und Verantwortung einfordern, damit wir die Substanz unserer Errungenschaften für folgende Generationen bewahren können.

Fortschritt statt Besitzstandswahrung

Wenn wir den Staat dort entlasten, wo er nicht unbedingt tätig werden muss, dann kann er umso wirkungsvoller handeln, wo er tatsächlich gefordert ist. So ist es für Bürger vor allem wichtig, dass sie gute öffentliche Dienstleistungen zu gleichen Bedingungen erhalten. Wer hingegen diese Leistungen erbringt, ist für Bürger oft von geringer Bedeutung. In geeigneten Bereichen sollte man daher verstärkt über Kooperation mit privaten Akteuren nachdenken. Voraussetzung ist natürlich, dass dies nicht zu Qualitätsverlusten oder Lohndumping führt.

Die Sozialdemokratie ist die erfolgreichste organisierte politische Bewegung. Sie ist so erfolgreich, weil sie fortschrittlich ist. Wenn sich eine fortschrittliche Bewegung aber auf die Sicherung errungener Besitzstände zu beschränken beginnt, dann wird sie konservativ. Unsere Aufgabe ist es daher, der Fortschrittlichkeit unserer Bewegung neue Dynamik zu verleihen. Andernfalls werden wir Europäer nicht in der Lage sein, unseren strategischen Herausforderungen gerecht zu werden.

Kein Zweifel, alles wird gut

Es freut mich feststellen zu können, wie eng die historischen Bindungen zwischen Deutschland und Finnland heute noch sind. Die deutsche Unterstützung unserer EU-Mitgliedschaft bleibt unvergessen. Bundeskanzler Schröder gebührt besonderer Dank für Finnlands angemessene Vereinbarungen in der Landwirtschaft sowie in der Regionalpolitik zugunsten unserer nördlichen und östlichen Regionen. In der Europapolitik haben wir viel mehr Gemeinsamkeiten als Differenzen: Uns vereint eine integrationsfreundliche und konstruktive Vision Europas. Im Verhältnis zu Russland, im Ostseeraum und hinsichtlich der Nordischen Dimension der EU haben wir viele gemeinsame Interessen. Ich würde mir daher einen noch lebhafteren Dialog zwischen unseren Ländern und unseren Parteien wünschen; sowohl im bilateralen Verhältnis als auch im Rahmen der europäischen Sozialdemokratischen Partei. Aufgrund meiner langjährigen Erfahrung habe ich keine Zweifel: Deutschland und die deutschen Sozialdemokraten werden ihre Herausforderungen bewältigen und gestärkt aus den jetzigen Turbulenzen hervorgehen.

Geringfügig gekürzte Fassung eines Referats, das Paavo Lipponen anlässlich der Jahrestagung des Netzwerks Berlin am 19. Juni 2004 in Berlin gehalten hat.

zurück zur Ausgabe