De-Regulierung als Prinzip ist unsinnig

Thesen zur Globalisierung und Entstaatlichung

A
Die Geschichte ist immer nach vorn offen. Es gibt geschichtliche Trends, aber keine Geschichtsgesetze.

B
1. Globalisiert sind und werden vor allem die Märkte: der Warenmarkt, der Kapitalmarkt, der Informationsmarkt, teilweise der Arbeitsmarkt.

2. Nur ein (wichtiger) Teil menschlicher Bedürfnisse wird durch den Markt befriedigt. Für andere Bedürfnisse (Zuwendung, Bildung, Sicherheit, Geborgenheit, Gerechtigkeit etc..) sind Familie, Zivilgesellschaft und staatliche Institutionen zuständig.

3. Familie, wie immer man sie definiert, hat die Aufgabe, Kindern das Maß an Schutz und Geborgenheit zu geben, ohne das sie sich nicht entfalten können. In der Zivilgesellschaft werden kulturelle, religiöse, soziale, sportliche Bedürfnisse befriedigt. Daher überlappen sich zivilgesellschaftliche und staatliche Aktivitäten. (Musiziert wird in unzähligen Vereinen und Freundeskreisen, aber auch bei den Berliner Philharmonikern.)

4. Gemeinden und Städte können und müssen dem Bedürfnis entgegenkommen, irgendwo dazuzugehören, sich zuhause zu fühlen, unmittelbar mitreden zu können. Globalisierung und die immer massiver eingeforderte Flexibilisierung machen die Kommunalpolitik immer wichtiger.

5. Die staatliche Ebene, die in Deutschland von den Ländern repräsentiert wird, bleibt für den nicht kommerzialisierbaren Teil der Kultur zuständig. Ihr fällt eine der wichtigsten Aufgaben der nächsten Jahrzehnte zu: Das staatliche Gewaltmonopol gegen die Privatisierung der Gewalt zu verteidigen. Diese Privatisierung der Gewalt hat verschiedene Gesichter: In Afrika die wachsenden "entités chaotiques ingouvernables", in den USA (oder auch Brasilien) die befestigten und privat gesicherten Städte innerhalb der Städte, in Südostasien die Piraterie, überall aber die Mixtur aus fundamentalistischem Unabhängigkeitsstreben und organisierter Kriminalität.

6. An den Nationalstaat wenden sich die Menschen, wenn es um soziale Sicherheit und Gerechtigkeit geht. Soziale Sicherung, wie immer man sie organisiert, wird durch die Globalisierung noch wichtiger. Daher werden - auch in Europa - die Nationalstaaten zwar Kompetenzen abgeben, aber fortbestehen.

C
1. Ich finde die Terminologie, mit der Soziologen in den lateinischen Ländern arbeiten, hilfreich.
Dort sieht man unsere Gesellschaften bedroht durch
a) die Exklusion einer Unterschicht,
b) die Selbstexklusion einer Oberschicht,
c) die Überforderung der (schwindenden) Mittelschicht.

2. Europäische Demokratie lebt aus und von der Spannung zwischen zwei Polen:
a) der rationalen Kapitalverwertung am Markt,
b) den (organisierten) Bedürfnissen, die
sich am Markt nicht befriedigen lassen.

3. Dies bedeutet negativ:
Es hat keinen Sinn, nach einem System oder Weg zu suchen, durch die sich diese Spannung auflöst. Es gibt auch keine definitiven "Lösungen".

Es bedeutet positiv:
Es ist Aufgabe der Politik, diese Spannung aufrechtzuerhalten, notfalls wiederherzustellen und fruchtbar zu machen.

4. Da sich die Zivilgesellschaft ebenso wie staatliche Institutionen der Bedürfnisse annimmt, die der Markt nicht decken kann, gehören sie zu dem selben Pol. Sie sind mehr Partner als Konkurrenten. Zivilgesellschaft kann und soll staatliches Handeln ergänzen, inspirieren, einfordern, kritisch begleiten. Sie kann es nicht ersetzen.

5. Politische Parteien sind Transmissionsriemen zwischen Zivilgesellschaft und staatlichen Institutionen. Sie müssen daher an einer vitalen Zivilgesellschaft interessiert sein.

6. Die Frage, ob wir mehr oder weniger Staat brauchen, ist falsch gestellt. Wir brauchen, damit die Grundspannung nicht schwindet, mehr Politik, sei es in der Zivilgesellschaft, in Kommunen, Parlamenten und Regierungen.

7. Politik in der EU und den Nationalstaaten muss der Wirtschaft Rahmen setzen, einen rechtlichen, einen sozialen, einen ökologischen. Die Einsicht dafür ist auch in der Wirtschaft gewachsen, zumal seit den Krisen in Asien, Lateinamerika und Russland.

8. In der Entwicklungspolitik setzt sich neuerdings die Erkenntnis durch, dass wirtschaftliche Entwicklung nicht ohne funktionierende Institutionen gelingt. Dazu gehört Rechtssicherheit, staatliches Gewaltmonopol, eine Verwaltung, deren Angehörige auch ohne Korruption leben können. Daher wird die Wende von der Projektförderung zur Institutionenförderung verlangt.

9. Der "Staat" muss also, auch im Interesse der Wirtschaft, regulieren. Die Frage ist nur, wo und wie. Regulierungen können überflüssig und hemmend werden, gleichzeitig werden neue Regulierungen nötig. De-Regulierung als Prinzip ist unsinnig.

10. Für eine globalisierte Wirtschaft bedarf es der globalen Regeln. Es gibt sie erst in Ansätzen. Die nötigen Regeln für die Kapitalmärkte werden wohl erst durchsetzbar sein, wenn schwere ökonomische Krisen den Widerstand dagegen brechen.

D
1. Wohin neoliberale Entstaatlichung führt, ist in weiten Teilen der Erde bereits erkennbar: Zur Privatisierung der Gewalt und zum Ende des staatlichen Gewaltmonopols. Daher wird der Staat in den kommenden Jahrzehnten wieder interessanter.

Sozialdemokraten haben sich von Liberalen immer dadurch unterschieden, dass sie den Staat zum Garanten der Freiheit machen wollten.

2. Adolf Arndt nannte den Staat das Kleid der Gesellschaft. Dieses Kleid sollte sitzen, bequem sein, Bewegung nicht hemmen, im Winter wärmen und - sogar ein bisschen schön sein. Ich halte dieses Bild nach wie vor für hilfreich, wenn wir über "den Staat" nachdenken.

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