Der kurze Atem der Politik

Nur Wochen nach dem Wahlsieg vom 22. September hatte die SPD ihre Mehrheit verspielt. Es folgten wirre Monate - und schließlich der Neustart vom 14. März. Doch einstweilen fehlen der Partei strategische Klarheit und eine konzeptionelle Zielperspektive

Von Katastrophe zu Katastrophe, wird das ein typisch sozialdemokratisches Fortbewegungsmuster? Chaos der Regierungsbildung, Wählerabsturz, jetzt der Fundamentalkonflikt über die Richtung der Reformen. Eine ordnende Hand, nachvollziehbare Kommunikation, Linienführung und Berechenbarkeit - nichts davon ist erkennbar. Deshalb kommt man an der Frage nach tieferliegenden Ursachen, die auch zum System Schröder führen, nicht vorbei.


Von einem "historischen Debakel" sprachen selbst die nüchternsten Wahlforscher nach dem Absturz der SPD bei den Landtagswahlen am 2. Februar. Die meisten Erklärungen verwiesen auf die Koalitionsverhandlungen und das Regieren in den vier Monaten nach der Bundestagswahl. Damit ist aber fast nichts erklärt. Warum traf der dramatische Abschwung speziell Schröder und die SPD, nicht aber die Grünen? Vor allem aber: Was genau haben die sozialdemokratischen Akteure gemacht, als sie "Chaos" produzierten? Warum konnte das nach vier Jahren Regierungserfahrung passieren? War es vermeidbar? War es unter einem Kanzler Schröder vermeidbar?


Die sozialdemokratische Politik nach der Bundestagswahl ist ein Lehrstück für die allgemeine Schwäche der Politik, Zusammenhänge zwischen Vorwahl - Nachwahl - Regerungszeit herzustellen und zu vermitteln. Zugleich ist sie Ausdruck der besonderen Defizite Gerhard Schröders bei der strategischen Steuerung von Politik.


Häufig ist der Kontinuitätsbruch von Politik beim Übergang vom wahl- zum regierungsbezogenen Handeln, von der Wahlkampf- zur Regierungskommunikation besonders krass. In wenigen Wochen wechseln die relevanten Arenen mit ihren unterschiedlichen Handlungslogiken. Außerdem wechseln die Akteure selbst: die Politiker und die Berater. Will man diese Diskontinuitäten beherrschen, braucht man mehr noch als sonst ein funktionierendes Steuerungszentrum und sowohl den Willen wie die Fähigkeit zu strategischer Steuerung. Man braucht ein Diskontinuitäten-Management.


Die SPD ist nun zum dritten Mal in nur vier Jahren rot-grüner Bundesregierung abgestürzt (davor: 1999 und erstes Halbjahr 2002). Viel spricht dafür, dass die personelle Aufstellung und die Einstellungen im strategischen Steuerungszentrum der Regierungspartei SPD nur ausreichen, wenn die Union in der Krise ist (wie in der langen Zeit des Spendenskandals), nicht aber unter regulären Wettbewerbsbedingungen. Die strategische Schwäche der SPD ist besonders sichtbar, wenn es eigentlich darum gehen müsste, die symbolische Politik der Wahlkampfzeit in reale Regierungspolitik mit klaren Prinzipien und Aufgabenschwerpunkten zu überführen.

Warum der Wähler nicht so schnell vergisst

Für Wähler wurde es nach dem 22. September nahezu unmöglich, einem roten Faden wenigstens über einige Wochen zu folgen. Was der Politiker beim schnellen Gang durch verschiedene Arenen aus dem Auge verliert, vergessen die Wähler nicht so schnell: ihre Erwartungen und ihre Enttäuschungen, ihre Befürchtungen und ihre Gewissheiten. Aus ihrer Sicht besteht ein innerer Zusammenhang zwischen dem 22. September, dem 2. Februar und dem 3. März - ihren Aktionstagen.

Strategische Wahlanalyse? Die gab es nicht

Das Wahlergebnis, gelesen im Lichte der im Wahlkampf unterbreiteten Angebote, informiert die Politiker über ein vom Wähler erteiltes Mandat. In weicherer Form: über Erwartungen, die Wähler - auch wegen des Wahlkampfs - mit einer Partei und ihrem Spitzenkandidaten verbunden haben, über Koalitionspräferenzen, nicht zuletzt über Wählerwanderungen, die im Fall von Abwanderung und Wahlenthaltung als Unzufriedenheitsindikatoren entziffert werden müssen. Sie informieren allerdings nur dann, wenn man sich für solch eine folgenorientierte Wahlanalyse interessiert - zurückblickend, um begründet nach vorne schauen zu können. Schon daran hat es bei der SPD nach dieser Wahl gefehlt. Es gab keine strategisch orientierte Wahlanalyse. Jeder hat irgendetwas über die Wahl gedacht oder am Wahlabend auch geredet, nie aber hat man auch nur eine Stunde lang - zum Beispiel in Präsidium oder Vorstand der Partei - überprüft, ob solche Interpretationen übereinstimmen und welche Konsequenzen für das Regierungshandeln daraus zu ziehen wären.


Ein verbindliches Mandat hatten die Wähler mindestens erteilt: "Keine deutsche Beteiligung an einem Irak-Krieg!" Ein zweites Versprechen hieß: die Ergebnisse der Hartz-Kommission werden "eins zu eins" und schnell umgesetzt. Dies brachte der SPD verlorenes Ansehen als Reform- und Modernisierungspartei zurück und begründete Erwartungen auf Initiativen, die versprachen, die Arbeitslosigkeit rasch und deutlich zu senken.


Gleiches gilt für die vom Wahlprogramm festgesetzten vier Milliarden Euro, mit denen der Ausbau der Ganztagsschulen in Deutschland vorangebracht werden sollte. So wurden bildungs- und familienpolitische Erwartungen der Wähler miteinander verbunden.


Beim Thema Gerechtigkeit dienten das Image Stoibers und das der CSU als Negativ-Folie, um die Gerechtigkeitserwartungen der Bevölkerung auf die SPD auszurichten. Insofern war das Wahlergebnis vom 22. September eine Verhinderungsmehrheit gegenüber der Stoiber-Union auf sozialem und kulturellem Gebiet, aber eben keine Gestaltungsmehrheit für ein rot-grünes Reformprojekt auf ökonomischem Feld.


Die Wahlkampagne schuf einen Erwartungshorizont, der aus verschiedenen Elementen bestand: der seit langem versprochene, das ganze Jahr über verschobene Konjunkturaufschwung solle nun aber wirklich im Herbst kommen; die Arbeitslosenzahlen würden bald sinken (siehe Hartz); es gebe keine Steuern- und Abgabenerhöhungen (an Abgabesenkungen werde weiter gearbeitet, die Steuersenkungen seien wegen der Flut nur verschoben); der blaue Brief aus Brüssel wegen Überschreitung der Defizitgrenze sei abgewendet. Insgesamt also ein moderater Optimismus, eine Art von Erwartungs-Mandat.

Die ökonomische Mehrheit ist anderswo

Gerhard Schröder und die SPD bewerteten die meisten, verglichen mit Stoiber und der Union, in Wirtschaftsfragen als weniger kompetent. Hochwasser und Irak-Frage hatten Schröder aber als tatkräftigen, führungsstarken Kanzler gezeigt, darauf wollte man auch hinsichtlich der weiteren wirtschaftlichen Entwicklung hoffen. Nicht die Wirtschafts-, aber die Zukunftskompetenz war kurz vor der Wahl zur SPD zurückgekehrt. Damit drückten die Wähler aus, dass sie bei aller Skepsis der SPD noch etwas zutrauten.


Die Zeichen der Unzufriedenheit aber waren unübersehbar. Arbeiter, und selbst gewerkschaftlich organisierte Arbeiter wanderten in Scharen zur Union, so dass die Mannheimer Wahlforscher die rhetorische Frage stellten: "Sind die Gewerkschaften, zumindest was ihre Mitglieder angeht, noch die Vorfeldorganisation der Sozialdemokratie, oder muss man über diese Begriffe neu nachdenken?" Als Grund für diesen Exodus aus der sozialdemokratischen Stammklientel wurde vor allem die Unzufriedenheit bei der Wirtschafts- und Arbeitsmarktpolitik genannt. Die ökonomische Mehrheit fand sich bei Schwarz-Gelb ein. Eine Wachstums-, nicht eine Gerechtigkeitslücke stand im Mittelpunkt der Wählerwanderung. Die Richtung der relevanten Wählerströme ging von Links nach Rechts, nicht umgekehrt. Von der PDS zur SPD, vor allem von der SPD zu den bürgerlichen Parteien; daneben gab es eine kleinere Umverteilungsbewegung von der SPD zu den Grünen.


Die Botschaft der Wahl hieß: Rot-Grün siegt extrem knapp auf einem brüchigen Fundament. Die Koalition verfügt über Mehrheiten bei Fragen kultureller Modernisierung und sozialer Gerechtigkeit, nicht aber auf dem Feld der Wirtschaft. Nur wenn Rot-Grün sofort und energisch den Kampf um die dritte, die ökonomische Mehrheit beginnt, hat es Chancen, seine fragile kulturelle und soziale Unterstützung zusammenzuhalten.


Das alles wurde nicht registriert. Dafür trat die Parteiführung, auch Schröder, mit einer fulminanten Fehleinschätzung an die Öffentlichkeit: Rot-Grün verfüge über eine strukturelle Mehrheit. Tatsächlich hat heute keine Partei mehr eine strukturelle Mehrheit. Die Mannheimer Wahlforscher fassten ihre Einschätzung in der Formel eines vertagten Machtwechsels zusammen, Infratest dimap analysierte, das Pendel sei im Vergleich zu 1998 zurückgeschlagen, aber auf halbem Wege stehen geblieben.

Charisma, Intuition und taktisches Geschick

"2003 darf nicht 1999 werden!" Mit dieser Parole gingen die Sozialdemokraten in die Koalitionsverhandlungen. Danach sah es allerdings so aus, als sei 1999 das Modell für 2003 gewesen: chaotischer Beginn, der ein Jahr lang bei Wahlen teuer bezahlt werden musste, und im Wesentlichen dadurch gestoppt wurde, dass sich die CDU im Spendenskandal selbst zerlegte.


2003 wurde 1999, weil aus dem Jahr 1999 in der gesamten vergangenen Legislaturperiode und auch in der Nachwahlzeit 2002 keinerlei Konsequenzen gezogen wurden. Vielmehr wurde das Wahlergebnis vom 22. September als Bestätigung des Systems Schröder interpretiert - eines Systems, das sich vor allem über Charisma, Intuition und taktisches Geschick definiert, aber immer skeptisch ist gegenüber politischer Planung, strategischer Steuerung und programmatischer Arbeit. Dies kumulierte in den Koalitionsverhandlungen nach dem 22. September, die als Pflichtübung betrieben wurden, nicht aber als Neubegründung von Rot-Grün. Und die wäre notwendig gewesen nach einem fragilem Wahlsieg und angesichts einer veränderten ökonomischen Gesamtsituation in Deutschland und der damit verbundenen Hinwendung der Wählerschaft zu bread and butter issues.

Der Koalitionsvertrag als Sammelsurium

Viele Schwachpunkte kamen nun zusammen:
Mangel an Zeitsouveränität: Einerseits die Unfähigkeit, einen Moment Pause zu machen, sich ein paar Tage zu erholen von einem erschöpfenden Wahlkampf, umzuschalten auf ein ganz anderes Aufgabenprofil. Andererseits das verhängnisvolle Gefühl: "Wir haben vier Jahre Zeit." Das führt zu Über- und Unterforderung zugleich.


Warenhauskatalog statt Rahmenvertrag: Es ist eine verbreitete Schwäche, Koalitionsverträge für Politik zu halten. Das Ergebnis war am Ende Konsens, aber zu einem hohen Preis: keine klaren Schwerpunkte, keine definierten Projekte, keine Milestones für das Regierungshandeln. Dafür das erschöpfte Gefühl, sich irgendwie zusammengerauft zu haben.
Die bürgerlichen Parteien kommen bei ihren Koalitionsverträgen häufig mit etwa einem Viertel der Seiten aus, die Rot-Grün dafür benötigt. Dabei hatte Rot-Grün diesmal den Vorsatz gefasst, nur einen "Rahmenvertrag" mit ungefähr 20 Seiten zu produzieren, also die wichtigsten Projekte und Prinzipien zu beschreiben, ohne die Instrumentenfrage zu vertiefen. Schall und Rauch, nach Tische las man′s anders. Der halbherzig formulierte Koalitionsvertrag war nie ein Kompass für Regierungshandeln, seine Wirkung bestand am Ende in der Verwirrung der eigenen Partei, ihrer Mitglieder und vor allem ihrer Wähler. Von einer Agenda auch nur bis 2006 konnte keine Rede sein.


Budgetverhandlungen statt Regierungsperspektive: Ein großer Teil der Arbeitszeit und der Hauptteil öffentlicher Wahrnehmung der Koalitionsrunde wurde durch Haushaltsverhandlungen geprägt. Der Spardruck war unabweisbar, nicht aber eine öffentliche Sparaktion, bei der vor allem der Eindruck der Konzeptionslosigkeit entstand, eine Politik- in eine Sparwerkstatt umfunktioniert wurde und Regierungsperspektiven auf der Strecke blieben. Wenn die Akteure dabei ungute Gefühle beschlichen, trösteten sie sich - wie üblich - damit, die Regierungserklärung werde später die Zusammenhänge erklären, die sie selbst nicht erkennen können. Ein Irrtum, weil auch hier Zeit und Kraft fehlten und eine Orientierung, die nicht vorhanden ist, von Redenschreibern nicht nachgeholt werden kann.

Was eine klare Analyse ergeben hätte

Inhaltlich musste die SPD das Rad nicht neu erfinden: Seit den sechziger Jahren definiert sie ihre Politik zwischen den Polen von Modernisierung und sozialer Gerechtigkeit. Die besondere Aufgabe nach dieser Wahl bestand darin, einerseits mutige Schritte auf dem Feld ökonomischer Modernisierung zu wagen, andererseits eine neue Formel für soziale Gerechtigkeit zu finden. Die Modernisierung des Beschäftigungs- und der Sozialsysteme war notwendig für die wirtschaftliche Revitalisierung, bedeutete gleichzeitig aber Konfliktpotenzial angesichts der hierzulande primär verteilungspolitisch genährten Gerechtigkeitsvorstellungen. Die Kernwählerschaft glaubte die sozialpolitische Differenz zwischen Union und SPD zu kennen, war aber mit den entsprechenden Regierungsleistungen der SPD seit 1999 unzufrieden. Die Doppelaufgabe der SPD am Beginn der zweiten Legislatur hieß also, Wege aus der Wachstumslücke bei Beibehaltung des Gerechtigkeitsversprechens zu finden. Wenn sie eine Priorisierung vornahm - zum Beispiel für den Vorrang von Wachstumspolitik - musste sie erkennbar machen, wie das mit der Gerechtigkeitsverpflichtung korrespondiert. In jedem Falle hätte der Start in die neue Regierung mit einer schonungslosen (makro-) ökonomischen Lageanalyse beginnen und in einem Programm für Wachstum und Beschäftigung enden müssen. Das hätte auch eine differenzierte Wahlanalyse nahegelegt. So aber fehlte ein positives Signal an die Wirtschaft und ein Gerechtigkeitssignal an die Bevölkerung, das vor allem ökonomisch hätte durchdekliniert werden müssen.

Nach nur drei Wochen war die Mehrheit perdu

Hinterher hatte man mit dem Koalitionsvertrag überall die Hürden gerissen: Der Brüsseler Stabilitätspakt war beschädigt, die Lohnnebenkosten waren erhöht, an der Steuerschraube hatte man gedreht. Der Versuch, beim Sparen Steuergerechtigkeit herzustellen ("Abbau von Steuerprivilegien") kam beim Wähler als Steuererhöhung und Ungerechtigkeit an. Nicht zuletzt schufen die sich ständig wiederholenden Korrekturmaßnahmen Verwirrung. Nach nur drei Wochen hatte man die Mehrheit vom 22. September verspielt.


Fehlender Strategierahmen: Naheliegend wäre gewesen, sich konstruktiv auf die zweite Regierungsebene einzulassen, das heißt eine Kooperationsstrategie gegenüber dem Bundesrat zu suchen, in dem die Oppositionsparteien die Mehrheit halten. Dies galt zwar schon vor der Wahl, musste aber nun für die sozial-ökonomischen Themen beziehungsweise eine entschiedene Reformperspektive aktualisiert werden. Nur so hätte sich die Absurdität vermeiden lassen, dass man wochenlang fast alle denkbaren Gruppen mit Androhungen von Steuer- und Abgabenerhöhungen sowie dem Abbau von Steuervergünstigungen aufschreckte, von denen die meisten nur ein paar Wochen später durch die Mehrheit des Bundesrats kassiert wurden.


Da angesichts des knappen Wahlsiegs und der Mehrheit des Bundesrats ein "Weiter so" ausschied, hätte sich eine strategische Neubewertung aufgedrängt. Die Vorteile einer Kooperation gegenüber der Bundesratsmehrheit liegen deutlich auf Seiten der Regierung, wohingegen die mitregierende Opposition bei einem nur kooperativen Verhalten Profilverlust fürchten muss. Tatsächlich kam es aber erst ein halbes Jahr nach der Bundestagswahl zu Kooperationssignalen seitens der Bundesregierung.


Eine stärkere Orientierung an Konsensmöglichkeiten mit der Union hätte auch aus parteistrategischen Erwägungen nahegelegen. Auf dem ökonomischen Feld besitzen die bürgerlichen Parteien in der Wahrnehmung der Bevölkerung einen Kompetenzvorsprung. Angesichts solcher Akteurs- und Themenkonstellationen drängt sich eine "Dreiecksstrategie" auf, wie sie zum Beispiel Dick Morris beschrieben hat. Erster Punkt: Die Probleme lösen, bei denen der anderen Seite die Kompetenz zugeschrieben wird (Beispiel: Rot-Grün löst die Wirtschaftsprobleme, was die Mehrheit von Schwarz-Gelb erwartet). Zweitens: dafür Problemlösungen beider Seiten verbinden (wie es zum Beispiel schon in der Hartz-Kommission versucht wurde). Drittens: dabei fortfahren, die Themen zu betonen, bei denen man selbst stark ist (im Fall von Rot-Grün zum Beispiel soziale Gerechtigkeit). Das hieße also, eine stärker marktorientierte Wirtschafts- und Sozialpolitik mit einem Gerechtigkeitsprogramm zu verbinden. Tatsächlich hat man sich mit einem solchen oder einem anderen Strategierahmen nie beschäftigt.

Wie das Kapital verschleudert wurde

Störgeräusche statt Botschaften: Mit Beginn der Koalitionsgespräche wird von einer kommunikativen Logik, die den Wahlkampf bestimmt hat, auf eine Sachlogik umgeschaltet. Niemand ist da, der die Verzahnung von kommunikativer Logik und Sachlogik einfordert oder umsetzen kann. Im Herbst 2002 existierte weder eine konsistente Sachlogik noch eine Kommunikationslogik. SPD und Grüne wurden zu Getriebenen der sogenannten finanzpolitischen Sachlogik mit einer immer unwirscher reagierenden medialen und politischen Öffentlichkeit.


Als wäre man in einer Stunde Null, schufen die Koalitionsverhandlungen in wenigen Wochen eine weitreichende Vertrauenskrise. Handwerkliche Pannen ("sie können es immer noch nicht") begleiteten eine phantasielose Politik, deren Hauptbeschäftigung darin zu bestehen schien, an der Steuer- und Abgabenschraube zu drehen. Großbegriffe, positive Zukunftsbilder oder "Blut, Schweiß und Tränen"-Botschaften - es gab nichts, was eine gemeinte und gewollte Linie angedeutet hätte. Das seit 1995 aufgebaute politische Kapital von "Innovation und Gerechtigkeit" wurde leichtfertig verschleudert.


Keine Gesamtsteuerung: Es fehlte ein positives, programmgestütztes Mandat in ökonomischen Fragen. Rot-Grün hätte sich deshalb im Rahmen der Koalitionsverhandlungen neu definieren und begründen müssen. Das geht nicht ohne eine Gesamtsteuerung. Stattdessen setzte man als Koalitionsrunde Arbeitsgruppen ein - und wer damit beginnt, muss wissen, dass er unter Programmpapierbergen endet. Die erste und die letzte Verantwortung für solche Gesamtsteuerung trägt der Kanzler. Den aber gab es nur als einen unter vielen, ohne besondere (Steuerungs-)Leistung, ohne besondere Führung, ohne klares Konzept und ohne kommunikative Kompetenz. Die Koalitionsrunde agierte wie eine Staatssekretärsrunde in der darum gerungen wird, die jeweiligen Ressortinteressen im Abschlusskommunique unterzubringen. So kann man Förderprogramme beraten, aber kein Programm oder den Sinnhorizont für eine Mehrheit mit fragiler gesellschaftlicher Verankerung entwickeln.

Ohne klares Programm keine Zustimmung

Eine Überschätzung des Wahlergebnisses und Wählervergessenheit standen am Anfang der Fehlentwicklungen. Wie sich schnell zeigte, war das Ergebnis des 22. September nur eine Mehrheit für den Wahltag, ein Antibündnis: gegen Stoiber, gegen Krieg, gegen gesellschaftspolitische Restauration. Damit verbunden war ein inhaltlich diffuses, aber ernst gemeintes Erwartungs-Mandat: Die SPD und vor allem Schröder würden sofort und energisch für einen wirtschaftlichen Aufschwung sorgen, ohne die Gerechtigkeitserwartung zu enttäuschen. Stattdessen erlebte die Öffentlichkeit einen Kanzler, der das Wahlergebnis vor allem als Bestätigung seiner Person verstand und in ein "Die-SPD-bin-ich" umdeutete. Dabei hatten doch die Monate bis August 2002 gezeigt: Ein Kanzler und eine Partei ohne klares Programm und ohne Führung gewinnen keine Zustimmung.
Bei den Bürgern entstand der Eindruck: Vor dem 22. September gab es eine andere Realität. Und: die Sozialdemokraten haben uns getäuscht. Das war der Nährboden für den von den Wählern "gefühlten", später von den Demoskopen gemessenen "Wahlbetrug".


Die richtige Aufstellung im strategischen Zentrum ist eine Schlüsselgröße für die Steuerungsfähigkeit einer Regierung. Mehr noch als vor der Wahl kam es dabei auf Gerhard Schröder an. Der aber blieb, was er war: Taktiker, nicht Stratege. Langfristiges Vorausdenken und das geduldige Verfolgen strategischer Ziele gehören nicht zu seinen Fähigkeiten.

Bis zum Crash des Mitgliederbegehrens

Auch hatte sich die Akteurskonstellation im Dreieck von Regierung, Fraktion und Partei verändert. Der Einfluss der Partei war nach dem Abgang Franz Münteferings geschwächt. Dieser hatte als geschäftsführender Parteivorsitzender agiert, der vor allem in Krisenzeiten der Regierung - wie in der Kakophonie von 1999 - stabilisierend wirkte. Diese Rolle ist heute verwaist. Münteferings Nachfolger Olaf Scholz hat offenbar wenig Drähte in die Partei und agiert eher wie ein Pressesprecher des Kanzlers. Als eigenständiger Einfluss- und Korrekturfaktor trat die Partei nach dem 22. September nicht in Erscheinung - bis zum Crash des Mitgliederbegehrens, der die Strukturprobleme der innerparteilichen Kommunikation aufdeckte.


Franz Müntefering, der mit einer Stimme für die ganze Partei sprechen konnte, hat Probleme mit der Fraktion. Die Fraktion lässt sich nicht wie die Partei führen und nicht zum Parteigewissen umfunktionieren. Professionalität und Unabhängigkeit vieler Abgeordneter suchen intelligentere Einflussformen - diese Suchprozesse der Führung und der Fraktion mindern ihre Chancen im Steuerungsprozess. Andererseits sitzt in der Fraktion auch eine - potentielle - Sperrminorität gegenüber harten ökonomischen Reformen.


Das Kanzleramt, immer mit einem Vorrang der Steuerung ausgestattet (wenn es das will und kann), ist mit Frank-Walter Steinmeier fachlich-politisch hervorragend besetzt. Eine strategisch-kommunikative Steuerung konnte Steinmeier aber bislang nicht bieten. Dabei müsste die "Steuerungszentrale" all das kompensieren, was dem Kanzler fehlt, auch auf dem Feld der strategischen Kommunikation. Schon dafür aber wären die selbstkritische Einsicht des Anti-Strategen Schröder und personalpolitische Konsequenzen notwendig - ein durch Schröder selbst nicht auflösbarer Widerspruch. Er führt dazu, dass das Kanzleramt unter seinen Möglichkeiten bleibt. Besonders auffällig ist die Rolle des Regierungssprechers Bela Anda, der das Geschehen im Kanzleramt offenbar nur passiv verfolgt.


Politische Steuerung braucht ein strategisches Zentrum relevanter Entscheidungsträger, berechenbare Prozesse und Prioritäten, Vertrauen und ein klares Ziel. Daran gemessen besitzt die Regierung kein Steuerungszentrum. Was man hat, sind Abstimmungsrunden für das Day-by-day-management. Das nützt aber nichts, wenn weder die Ziele, noch der strategische Rahmen, noch ein Zentrum abgesteckt sind. Es ist schwer zu sagen, ob im Fall der Regierung Schröder die Steuerungs- oder die Zieldefizite gravierender sind, jedenfalls wirken beide zusammen. Die Regierung hatte, das zeigte das konzeptionelle Vakuum im Herbst 2002, keine zusammenhängende Vorstellung einer Dynamisierung der Wirtschaft und eines Umbaus des Sozialstaats.

Niemand hörte auf die Analysen der Vordenker

Bei der Arbeitsmarktreform schwächte sie noch die Ergebnisse der Hartz-Kommission, die ihr von außen angetragen worden waren. Beim Umbau der Sozialversicherungssysteme konnte die SPD, trotz jahrelanger gesellschaftlicher Debatte, keine Richtung markieren. In der ersten Legislatur war sie allen sozialstaatlichen Strukturreformen - bis auf die Rente - ausgewichen. Erst nach drei Jahren versuchte man sich mit dem Job-Aqtiv-Gesetz an kleinen beschäftigungspolitischen Veränderungen. Vier Jahre vertagte Reform, ein Jahrzehnt vertagte Reformdebatte über einen neuen Sozialstaat als Antwort auf globalisierte Wirtschaft und gesellschaftlichen Wandel. Die regierende SPD hatte keinen programmatischen Fundus und keinen sozialstaatlichen Konsens, auf die sie hätte zurückgreifen können. Dabei gibt es kluge Analysen sozialdemokratischer Vordenker (wie Wolfgang Merkel oder Thomas Meyer), die den Wandel vom alten "passiven Sozialversicherungsstaat" zum neuen "aktivierenden Sozialinvestitionsstaat" nicht nur beschrieben, sondern auch normativ begründet haben. Aber ohne Ziele, das zeigt die Erfahrung vom Herbst 2002, kann es keine strategische Steuerung geben.

Nachholender Neuanfang seit dem 14. März?

Die Regierung blieb seit dem 22. September immer die Getriebene. Sie war nie ein Akteur, der die Agenda bestimmte. Spät, sehr spät, unter dem Eindruck der verlorenen Landtags- bzw. Kommunalwahlen, der sich verschlechternden ökonomischen Lage sowie der innen- und außenpolitischen Druckkulisse wagte Schröder mit der Regierungserklärung vom 14. März 2003 einen inhaltlichen Neuanfang, ohne allerdings auf der symbolisch-kommunikativen Ebene einen neuen Rahmen abzustecken. Hinsichtlich der Aufgabenseite hat sich nichts verändert seit dem 22. September. Was unmittelbar nach der Bundestagswahl richtig war, stimmt auch heute noch. Allerdings ist seit dem Herbst 2002 ein massiver Vertrauensverlust entstanden, der zusätzlich die Wählerakzeptanz für die Reformen erschwert. Zur Kompetenz- kam eine Vertrauenskrise. Ob Schröder wirklich durchsetzt, was er sagt, weiß man erst in einem halben Jahr. Ob funktioniert, was er vorhat, weiß man erst in zwei bis drei Jahren. Und wie die Schlechtergestellten unter den SPD-Anhängern den Nettoertrag der Reformen bewerten, wird man wohl erst bei der kommenden Bundestagswahl wissen.


Eine länger anhaltende Zustimmungskrise auf der Ebene der Zwischenwahlen - und 2004 ist ein Wahljahr mit vier Landtags-, acht Kommunal- und den Europawahlen - würde Unzufriedenheit und Spannungen in der Partei verschärfen, was wiederum ihre Negativausstrahlung verstärkte. Aus ihrem Tief kann sich die SPD vor allem durch Leistungserfolge beim Regieren herausarbeiten. Die aber bedürfen eines längeren Zeithorizonts, weil die Reformen des Beschäftigungs- und Sozialsystems allenfalls mittel- bis langfristig wirksam sein können. Lange bevor ökonomische Gewinne eintreten können, schlagen die sozialen Kosten zu Buche. So richtig die Übernahme einiger marktwirtschaftlicher Instrumente des bürgerlichen Lagers ist, so schwach fiel die Fundierung im eigenen Kernbereich aus, der um den Hauptwert sozialer Gerechtigkeit zentriert ist. Einstweilen bleibt bei vielen sozialdemokratischen Wählern der Eindruck, die Balance zwischen Wachstum und Gerechtigkeit sei gestört.

Die SPD muss Gerechtigkeit neu begründen

Die Union profitiert von der traditionellen Kompetenzzurechnung beim Wirtschaftswachstum, der Gerechtigkeitswert bleibt nachgeordnet. Wenn sie einen Kurs sozialer Einschränkungen verfolgt, hat sie Chancen, dass Akzeptanz über die Aktivierung ihrer Wirtschaftskompetenz erhalten bleibt. Bei der SPD gibt es eine andere Rangordnung. Sie hat nur die Chance, ex post durch faktische wirtschafts- und arbeitsmarktpolitische Erfolge Akzeptanz für die sozialpolitischen Einschnitte zu gewinnen. "Die Entwicklung der Arbeitslosigkeit dient ... nicht nur als Ausweis ökonomischen Erfolgs", schreibt Richard Hilmer, "sondern auch als Nagelprobe für soziale Gerechtigkeit".


Weil dies unvermeidbar mit einem hohen Risiko verbunden ist, wäre für die SPD eine positive Idee der Gerechtigkeit und eine Begründung des "neuen Sozialstaats" wichtig, die ihre Politik des Sparens und der Sozialreform legitimieren könnten. Wie so häufig begann man mit Instrumenten, statt diese aus Zielen, Werten und Konzepten folgen zu lassen. In seiner Regierungserklärung agierte Schröder als strenger Betriebsleiter mit einer Sprache des "Abforderns" von Einschränkungen und Eigenbeteiligungen. Verheißungen wie "Erhaltung des Sozialstaats" bleiben demgegenüber blass, abstrakt, defensiv und sie sind weit in die Zukunft verschoben. Angriffe gegen unfähige Manager oder das allgemeine Lob der Gewerkschaften sind kein Ersatz für eine neue Begründung von Sozialstaat und Gerechtigkeit. Auch fehlen die ein bis zwei Maßnahmen, die erkennbar machten, dass soziale Symmetrie unverändert zum sozialdemokratischen Koordinatensystem gehört. Politik und Rhetorik des kleineren Übels zur Logik auch sozialdemokratischer Wähler zu machen, mag in einer zugespitzten Wahlsituation mit erkennbar schlechterer Alternative gelingen - als Strategie für vier Jahre greift es zu kurz.

Hoffnung! Sicherheit! Sinn! Zukunft!

Die zweite, die "sozial-gerechte" Mehrheit wurde, so scheint es, zum zweiten Mal falsch kalkuliert. Im Herbst 2002 gab es die Fehleinschätzung, das "Steuervergünstigungsabbaugesetz" werde als Symbol sozialer Gerechtigkeit verstanden. Im März 2003 kam dann die Agenda 2010, bei der sich die Gerechtigkeitsfrage in die Abstraktion einer "Erhaltung des Sozialstaats" (selbst eine rückwärtsgewandte Semantik) verflüchtigt hat. Ein Programm der Zumutungen findet nur dann Unterstützung, wenn damit auch Hoffnung, Sicherheit, "Sinn" und Zukunft gerade für die Kernwähler der SPD verbunden sind. Aber gerade diese "kontextsetzende Orientierung" (Amitai Etzioni) ist die Regierungserklärung schuldig geblieben. Da es keinen positiven, nach vorne gerichteten Fokus gibt, dominiert für viele Wähler eine rückwärtsgewandte Perspektive der "Verschlechterung", bei der gewerkschaftliche Parolen vom Sozialabbau auf fruchtbaren Boden fallen können. Die Kommunikationsprobleme sind auch Ausdruck von Orientierungsproblemen.

Wieder einmal mit dem Rücken zur Wand

Der situative Politikstil Gerhard Schröders ist die Stärke und zugleich die größte Schwäche des Kanzlers. Vor allem die krisenhafte Situation, das schnelle, voraussetzungslose Agieren mit dem Rücken zur Wand zeigt ihn präsent und führungsstark. Für Längerfristiges, Situationsübergreifendes, Wertgebundenes ist er nicht der richtige Mann.


Die Normalsituation wäre der Herbst 2002 gewesen. Nach der Stärkung seiner Autorität im August/September und dem knappen Wahlsieg hätte er die Weichen neu stellen müssen - im Rahmen der Institutionen und in enger Abstimmung mit seiner Führungsmannschaft. Da ist er untergetaucht. Ein halbes Jahr später war es nach seinem Geschmack: Wirtschafts-, Haushalts-, Wahlkrise im Schatten des Krieges. Wieder mal fast verloren, mit dem Rücken zur Wand, als einsamer Kämpfer. Schröder selbst als seine eigene strategische Reserve. Nur kommt es diesmal nicht so sehr auf die gute Gelegenheit als auf die guten Gründe an. Hauruck, basta, capito - Abgeordnete, die ihre Wiederwahl brauchen, kann man letztlich zwingen. Aber Wähler?


Noch reicht die (Regierungs-)Macht zur Erzwingung von Loyalität. Aber sie kann keine Überzeugungen schaffen. Und sie baut nicht auf einem Fundament konzeptioneller Vorstellungen und Überzeugungen auf. Der Parteivorsitzende Schröder war nur der Deichgraf, der auf Flut reagiert. Seine Aktion waren Maßnahmen, nicht der Vorlauf von Ziel- und Konzeptdebatte, aus der sich die Maßnahmen ergeben. Jetzt sehen auch gute Gründe wie nachgeschobene Gründe aus. Dass Regieren postmodern zerfasert, ist keine Gesetzmäßigkeit, die als Ausrede herhalten könnte. Es gibt Gegenbeispie-le. Es ist aber eine Gesetzmäßigkeit des Systems Schröder, an der Rot-Grün scheitern kann.

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