Der Lügenbaron weiß auch keine Lösung
Baron von Münchhausen hätte am Deutschland des Jahres 2010 seine helle Freude. Denn fantastische Geschichten erleben hierzulande dieser Tage Hochkonjunktur. Die Nachrichten aus der Wirtschaft erinnern frappierend an jene Episode, als der Baron bei einem Heimritt in einen Sumpf geriet. Für jeden anderen wäre dies das sichere Ende gewesen, aber Münchhausen packte sich flugs am eigenen Schopfe und zog sich aus dem Sumpf heraus, mitsamt seinem Ross natürlich.
Dem Baron gleich zieht sich die deutsche Konjunktur vor den Augen der verblüfften Weltöffentlichkeit quasi am eigenen Schopf aus dem Schlamassel und mit ihr tauchen auch die öffentlichen Schulden aus dem Abgrund auf. Ohne Zutun Berlins verzeichnen die deutschen Exporte rasante Zuwachsraten, sprudeln die Steuereinnahmen, schrumpft das öffentliche Defizit. Aufs Jahr hochgerechnet expandierte die deutsche Ökonomie zuletzt mit sagenhaften neun Prozent und damit so stark wie Indien oder China. Geblendet von diesem Erfolg werden aus FDP und CSU bereits wieder Forderungen nach Steuersenkungen als Wachstumsdividende laut. Der öffentliche Haushalt konsolidiere sich schließlich von allein.
Doch die Sache mit den sich selbst konsolidierenden Staatsfinanzen könnte sich als Fantasiegeschichte à la Münchhausen herausstellen. Schon jetzt steht die Bundesrepublik mit knapp 1.800 Milliarden Euro bei ihren Gläubigern in der Kreide. Bei der für dieses Jahr erwarteten Wirtschaftsleistung entspricht das einer Schuldenquote von rund 73 Prozent. Alle Deutschen müssten neun Monate lang arbeiten, nur um die Verbindlichkeiten abzubauen. Pro Jahr gehen allein für Zinszahlungen des Bundes knapp 40 Milliarden Euro drauf, Länder und Kommunen müssen noch einmal rund 20 Milliarden Euro für Zinsen und Tilgung bezahlen – Geld, das für Kindergärten, Schwimmbäder oder andere Investitionen fehlt.
Wenn die Politik nicht rasch gegensteuert, verliert sie ihren Gestaltungsspielraum in der Zukunft. Man muss noch nicht einmal das Horrorszenario Griechenlands malen, wo kurzerhand die Akteure an den Finanzmärkten das politische Geschehen diktieren. Hat die Verschuldung erst einmal die kritische Schwelle von 90 Prozent des Bruttoinlandsprodukts überschritten, wird sie zu einer schweren Bürde für das Wirtschaftswachstum. Die beiden amerikanischen Wissenschaftler Carmen Reinhart und Kenneth Rogoff haben herausgefunden, dass solche hoch verschuldeten Volkswirtschaften zwei Prozentpunkte langsamer wachsen, als Ökonomien mit solideren Finanzen. Für Deutschland hieße das wahrscheinlich jahrelange Stagnation oder Schrumpfung.
Eine Schuldenquote von 90 Prozent ist schnell erreicht. Beispielsweise drohen dem Haushalt des Bundes weitere Milliardenlasten aus der Solidarhaftung innerhalb der Euro-Gemeinschaft. Auf europäischer Ebene ist eine Dynamik entstanden, die rasch zu einer Zentralisierung der Finanzpolitik führen kann. Von da ist es nur noch ein kleiner Schritt hin zu einer Transfergemeinschaft, in der die sparsamer haushaltenden Mitgliedsstaaten der Eurozone wieder und wieder für andere, weniger solide wirtschaftende Staaten zahlen. Ausgerechnet die wirtschaftliche Stärke der deutschen Wirtschaft könnte diesen Prozess beschleunigen. Denn andere Länder der Eurozone schwächeln, und das verstärkt die Fliehkräfte in der Währungsgemeinschaft. Als größte Volkswirtschaft bürgt die Bundesrepublik mit einem Löwenanteil für die Gelder des europäischen Rettungsschirms. Im Extremfall muss Berlin Garantien von 170 Milliarden Euro übernehmen.
Ein zweiter Stressfaktor für die deutschen Staatsfinanzen sind die finanziellen Herausforderungen durch den demografischen Wandel. Unsere Geburtenrate liegt rund ein Drittel unter dem Niveau, das die Bevölkerung konstant halten würde. Das Durchschnittsalter steigt und damit die Zahl der Bundesbürger, die Renten und gemeinschaftlich finanzierte Gesundheitsleistungen in Anspruch nehmen. Gleichzeitig gibt es immer weniger Bundesbürger im arbeitsfähigen Alter, die den Sozialstaat finanzieren. Nach Bevölkerungsanalysen der Vereinten Nationen wird die Zahl der 14- bis 64-Jährigen von heute gut 54 Millionen in den kommenden Jahren auf rund 39 Millionen zurückgehen. Die beiden Ökonomen Nicholas Eberstadt und Hans Groth haben einen Zusammenhang zwischen dem „Grad des Vergrauens“ eines Staates und seiner Verschuldung berechnet. Ihrer Faustformel zufolge führt jeder Prozentpunkt, den der Anteil der über 65-Jährigen innerhalb einer Gesellschaft zunimmt, zu einem Anstieg der Schuldenquote um sieben Prozentpunkte. Legt man die UN-Bevölkerungsdaten zugrunde, würde in Deutschland bis zum Jahr 2050 allein die demografiebedingte Schuldenlast um 84 Prozentpunkte zulegen, was mehr als eine Verdoppelung des heutigen Standes bedeutet. Es klingt also plausibel, wenn die Bank für Internationalen Zahlungsausgleich davor warnt, dass Deutschland angesichts der rapiden gesellschaftlichen Alterung und der mangelhaften Haushaltsdisziplin bereits im Jahr 2030 mit 200 Prozent seiner Wirtschaftsleistung verschuldet sein könnte.
Politik zulasten der Zukunft
In der Politik existiert eine Tendenz, zugunsten der Gegenwart und zulasten der Zukunft zu handeln. Seit der Gründung der Bundesrepublik wurde von dem Politikinstrument der Staatsverschuldung Gebrauch gemacht. Dabei lässt sich in allen Politikergenerationen das gleiche Muster beobachten: In wirtschaftlich schlechten Zeiten muss der Staat mit kreditfinanzierten Ausgaben einspringen. In guten Zeiten hingegen werden die Schulden fast nie zurückgezahlt.
Immerhin pendelte die Schuldenquote bis in die siebziger Jahre um die Marke von 20 Prozent. Zwar machten auch die Finanzminister unter Adenauer, Erhard, Kiesinger oder Brandt Miese. Allerdings hielt die Ökonomie in den Anfangsjahren der Bundesrepublik dank Wirtschaftswunder mit den wachsenden Verbindlichkeiten Schritt. Das änderte sich mit Bundeskanzler Helmut Schmidt. Nicht zuletzt unter dem Eindruck von zwei heftigen Ölkrisen begann das muntere Geldausgeben. Da auch Länder und Kommunen immer stärker auf Pump lebten, wurde schon 1975 die Schuldenschwelle von umgerechnet 100 Milliarden Euro überschritten, 20 Jahre später fiel im Zuge der Wiedervereinigungskosten die Billionenschwelle. Und spätestens Mitte des neuen Jahrzehnts dürfte die nächste runde Zahl erreicht sein: zwei Billionen Euro.
Selbst die 2009 verabschiedete Schuldenbremse im Grundgesetz, die Bund und Ländern ab dem Jahr 2016 respektive 2020 bei der Kreditaufnahme strikte Grenzen setzt, bedeutet noch nicht die Rückkehr zu soliden Staatsfinanzen. Auch im neuen Paragrafen 115 des Grundgesetzes sind Ausnahmen für wirtschaftliche Notsituationen vorgesehen, die zum Schuldenmachen einladen. Zu schwammig ist die Abgrenzung zwischen Normalsituation und Ausnahmen gefasst. Die Verfassung legt zudem keine Sanktionen fest, die zu ergreifen sind, wenn der Bund oder einzelne Länder vom Ziel eines ausgeglichenen Haushalts systematisch abweichen. Der Artikel 115 mag im Vergleich zur alten Version restriktiver gefasst sein. Richtig justiziabel erscheint er nicht. Das wissen offenbar auch die politischen Akteure. Die neue Landesregierung in Nordrhein-Westfalen hat quasi als erste Amtshandlung die Erhöhung der Schulden beschlossen.
Nun wäre es zu einfach, für die fiskalische Misere allein der Politik den schwarzen Peter zuzuschieben. Die meisten Ausgaben kommen direkt den Bürgern zugute, seien es die milliardenschweren Zuschüsse in die Rentenkassen oder soziale Leistungen. Jede Kürzung ruft den Protest der Betroffenen hervor. Zugleich ist das Gros der Bundesbürger nicht bereit, höhere Steuern zu zahlen.
Außerdem hat der Bundeshaushalt ein strukturelles Grundproblem. Über die Jahre sind Budgetausgaben für Soziales in feste gesetzliche Ansprüche umgegossen worden. Das sind Strukturen, aus denen kaum ein Finanzminister ausbrechen kann. Das Budget für Arbeit und Soziales macht inzwischen knapp die Hälfte des Haushalts aus. Zusammen mit der Zinslast aus den Billionenschulden sind knapp zwei Drittel der Gesamtausgaben weitgehend gebunden. Hinzu kommen die unverrückbaren Betriebskosten des Bundes.
Auch bei den Einnahmen ist der Handlungsspielraum begrenzt. In diesem Jahr steuert die Staatsquote auf 48 Prozent zu. Schon heute geht beinahe jeder zweite in Deutschland erwirtschaftete Euro durch die öffentlichen Hände. Weltweit rangiert Deutschland damit im Mittelfeld. Staaten wie die USA liegen mit einer Quote von 37 Prozent darunter, nordische Länder wie Dänemark mit 58 Prozent darüber. Gemessen an Dänemark könnte Deutschland durch Anhebung von Steuern oder Sozialabgaben noch rund 125 Milliarden Euro zusätzlich erlösen, ohne im europäischen Vergleich zurückzufallen. Solche Mehreinnahmen würden auch durchaus gut passen. Denn genau dieser Betrag fehlt derzeit in den Haushalten von Bund, Ländern und Kommunen. Eine Vielzahl empirischer Untersuchungen zeigt allerdings, dass Konsolidierungen, die überwiegend auf Einnahmeerhöhungen setzten, langfristig nicht erfolgreich waren und die Sanierungserfolge bei radikalen Ausgabenkürzungen von größerer Dauer sind. Dabei spielt auch eine Rolle, an welchen Stellen die Haushaltsdisziplin ansetzt. Als besonders erfolgversprechend gelten Ausgabenkürzungen, die die Struktur öffentlicher Ausgaben verändern. Einmalige Einnahmenerhöhungen zur Rettung des Bundeshaushaltes erscheinen also kaum geeignet, das Verschuldungsproblem in Deutschland zu lösen. Das würde dann doch zu sehr nach der Geschichte vom Lügenbaron Münchhausen klingen. «