Der Machtprogrammatiker

Edmund Stoiber hat vorgemacht, wie sich das Ringen um politische Inhalte für den eigenen Aufstieg nutzen lässt. Für das Amt des Bundeskanzlers qualifiziert ihn das nicht. Doch Nachwuchspolitiker können von Stoibers Strategie eine ganze Menge lernen

Der Kanzlerkandidat hatte keinen guten Start. Zwar gingen nach der Nominierung von Edmund Stoiber die Umfragewerte der Union in die Höhe. Doch spätestens mit seinem unglücklichen Auftritt bei Sabine Christiansen begann der Lack des vermeintlich gewieften Medienprofis und kompetenten Ministerpräsidenten abzublättern. Mancher Beobachter zeigte sich verblüfft. Doch so überraschend war diese Entwicklung auch wieder nicht. Denn im Grunde ist Stoiber immer ein ungelenker, linkischer Polit-Outlaw gewesen, der mit Kollegen und Medien nicht recht klarkam. Was aber ist es dann, das Edmund Stoiber zunächst an die Spitze der CSU und schließlich zum Kanzlerkandidaten der gesamten Union aufsteigen ließ?

Die Antwort ist so einfach wie scheinbar paradox: Stoiber ist ein Parteiprogrammatiker. Das klingt ideologisch aufgeladen und angestaubt, ist aber in Wirklichkeit mitnichten anachronistisch. Ganz im Gegenteil: Viele Jungpolitiker könnten noch eine ganze Menge von dem kantigen Bayern lernen - vor allem wie man es schafft, in der eigenen Partei über Programmdiskussionen Mehrheiten für die eigene Position und Person zu erarbeiten. Edmund Stoiber, kurzum, hat vorgemacht, wie sich Programmatik für die eigene Karriere nutzen lässt.

In der CSU hielt man nicht viel von Stoiber

Dass es so kommen würde, ahnte Stoiber noch vor zehn Jahren wohl selber kaum. Denn damals hielten seine Parteifreunde in der CSU nicht viel von Stoiber. Der ehemalige Leiter der Staatskanzlei von Franz Josef Strauß wurde nach dessen Tod zwar bayerischer Innenminister, in der Partei aber hatte er wenig zu sagen. Als übriggebliebener Adlatus und Vollstrecker der Befehle des großen Franz Josef wurde er in die zweite Reihe abgeschoben. Doch was sollte er tun? Obwohl Stoiber die Partei gut kannte - schließlich war er unter Strauß auch fünf Jahre lang Generalsekretär der CSU gewesen -, besaß er denkbar schlechte Voraussetzungen für eine steile Parteikarriere. Der Wolfratshausener galt als der Strauß-Intimus schlechthin. In den letzten Jahren der Regentschaft des greisen und zunehmend verbitterten Strauß hatte Stoiber diesem treu zur Seite gestanden. Als Chef der bayerischen Staatskanzlei hatte er die manchmal ungestümen Vorstöße seines Ministerpräsidenten flankiert - etwa die Kreditvergabe an die DDR oder die Benzinsteuerbefreiung für Privatflieger. Zuletzt hatte Strauß gegen den Willen großer Teile der CSU-Basis agiert und enormen Unmut auf sich und seine Getreuen gezogen. Doch Strauß blieb der große Herrscher, verehrt auch noch nach seinem Tod. Die Parteimitglieder schlugen den Sack, obwohl sie den Esel meinten: Stoiber musste in der Partei für Straußens Sünden büßen. Für seine vergangenen Verdienste entschädigte man ihn mit einem zweitrangigen Posten.

Das alles wurmte den ehrgeizigen Stoiber gewaltig. Zu allem Überfluss bekam er auch noch den Vorsitz der Programmkommission seiner Partei aufgehalst. Gerade diesen Job hatte Stoiber keineswegs gewollt. Wie fast alle heutigen Führungspolitiker hielt er Programme für überholt und gestrig. Programme, das waren diese bedruckten Papier, die ungelesen in den Parteigeschäftsstellen verstaubten. Geeignet für die stillen Grübler in den Studierstuben kam Stoiber sein neues Amt vor, nicht dagegen für einen Macher wie ihn.

In Machtfragen war Stoiber ein Angsthase

Also hatte Stoiber ein echtes Problem. Denn anders als Öffentlichkeit und Medien meinen, ist er kein Politiker, der innerparteiliche Widersacher, Gegner oder ehemaligen Weggefährten kalt lächelnd beiseite drängt. Durch Stoibers gesamte Karriere zieht sich jene Zögerlichkeit, die schon Strauß in brenzligen Situationen immer wieder schwächte. In direkten Auseinandersetzungen, wenn er Menschen gegenübertreten musste, um sie abzustrafen, zu entlassen oder auch nur zu rüffeln, verhielt sich Stoiber defensiv. Nur ungern ging er Risiken ein oder wagte tollkühne Sprünge. Lieber wusste er sichere Mehrheiten und wichtige Protektoren hinter sich. In der Öffentlichkeit war Stoiber zwar selbstbewusst aufgetreten, und er war auch immer ein guter Organisator gewesen. Aber funktioniert hatte das nur, solange Strauß ihn schützte. Stoiber war ein Angsthase in Machtfra-gen, und ein bisschen ist er das heute noch. Ihm geht der sichere Machtinstinkt ab, der den wirklich erfolgreichen Politiker auch einmal die Gunst der Stunde ergreifen lässt, um spontan etwas durchzusetzen.

Stoiber hat hier ein Defizit, das er mit vielen anderen Menschen teilt, die irgendwie einfach zu lieb sind für die Politik. Weder kann er Säle zu Begeisterungsstürmen hinreißen noch mögen ihn die Medien besonders. Eher belächeln die Journalisten seine distanzierte Art und sein ehrpusseliges Arbeitsethos, sein oberlehrerhaftes Getue und seine aufgesetzte Freundlichkeit. Jeder Teilnehmer einer Stoiber-Veranstaltung merkt schnell, wie nervös und unsicher der Bayer angesichts großen Menschenansammlungen wird. Stets ist er angespannt, blickt suchend über die Köpfe der ihn Umgebenden hinweg. Das wirkt kühl, eitel, arrogant, bedrohlich, ja bisweilen ignorant auf die Menschen, die er doch eigentlich begeistern will. All diese persönlichen und professionellen Nachteile hätten Stoiber - ähnlich übrigens wie Rudolf Scharping - auf seinem Weg an die Spitze eigentlich scheitern lassen müssen. Doch dann half ihm der Sprung in die Programmpolitik.

Vielleicht kannte Stoiber seine Defizite. Irgendwann nach Straußens Tod jedenfalls muss er begriffen haben, dass sich trefflich Machtpolitik betreiben ließ mit dem neuen Amt des Chefs der CSU-Programmkommission. Stoiber setzte nicht mehr auf die mediale Polarisierung, mit der er bekannt, aber eben auch unbeliebt geworden war. Er änderte seine Strategie, gab noch das letzte bisschen Freizeit auf und machte sich auf den langen, mühsamen Marsch der Programmarbeit. Ob sich das eines Tages für ihn auszahlen würde, war keineswegs sicher.

Plötzlich hörte der Polemiker geduldig zu

Doch Stück für Stück gewann Stoiber das Vertrauen der Parteimitglieder auf den unteren Ebenen. Nach und nach revidierten die Funktionäre ihr Urteil über den Mann, den sie bislang stets als "blondes Fallbeil" und scharfen Polemiker erlebt hatten. Denn auf den Versammlungen zum Entwurf eines neuen CSU-Parteiprogramms präsentierte sich Stoiber völlig anders. Er hörte geduldig zu, erwarb sich dadurch manche zusätzliche Kompetenz, war aber auch so schon mit vielen kommunalen Vorgängen vertraut. Stoiber versprach den Mitgliedern, er werde ihre praktischen Vorschläge und ihre idealistischen Wertvorstellun-gen im neuen CSU-Programm berücksichtigen. So sicherte er sich Unterstützung und Loyalität in weiten Teilen der Partei, wie sie seine Konkurrenten Tandler und Streibl, Gauweiler und Waigel niemals erreichen konnten.

Genau das war schließlich die entscheidende Ressource, die Edmund Stoiber an die Spitze der bayerischen Regierung und in den Vorsitz der CSU rücken ließ. Vor allem deshalb gewann Stoiber den Kampf um das Amt des bayerischen Ministerpräsidenten, weil ihn die Landtagsfraktion unterstützte. Es war die Fraktion, die im Frühsommer 1993 den Nachfolger des zurückgetretenen Max Streibl zu küren hatte - und siebzig Prozent der Vorsitzenden der Kreisverbände, die Stoiber in seiner Eigenschaft als Vorsitzener der Programmkommission ständig besucht hatte, gehörten diesem Gremium an.

So hatte sich Stoibers nachgeholte Ochsentour am Ende gelohnt. In einer Phase, in der er in offener Feldschlacht zu verlieren drohte, weil es ihm - wieder einmal - am letzten zupackenden Willen und der nötigen Kaltschnäuzigkeit fehlte, half ihm die Basis. Edmund Stoiber musste Theo Waigel gar nicht direkt herausfordern. Er gelangte an die Spitze, weil Waigel erkannte, dass er gegen den Willen der Basis als CSU-Vorsitzender nichts ausrichten konnte. Mit der Arbeit an einem Parteiprogramm, das ihm inhaltlich nie wirklich wichtig war, hatte sich ausgerechnet Stoiber zum neuen Liebling der Partei aufgeschwungen.

Diskursive Prozesse binden Mitglieder ein

Ein unwahrscheinlicher Einzelfall? Gewiss. Doch Stoibers Beispiel könnte vielen Politikern auch anderer Parteien zum Vorbild gereichen. Einmal beschlossene Programme mögen langweilig und für die praktische Parteiarbeit unmaßgeblich sein. Doch die Basis der Parteien verlangt auch noch heute die Debatte über Werte und Ideale. Es sind diese Diskussionen, die Parteien reaktivieren und zum Nachdenken über eigene Positionen und Ziele veranlassen. Medienmenschen und Parteispitzen - einschließlich der Vorsitzenden von Programmkommissionen - mögen das in Zeiten beschleunigter Kommunikation für überholt halten. Doch die diskursiven Prozesse der Programmfindung binden Zweifler und Enttäuschte aufs Neue an die Partei. Allein die kontinuierliche Verständigung unter ähnlich Gesinnten über gemeinsamen Werte, Ideale, ja selbst Utopien hat in der Vergangenheit immer wieder den Sinnstoff erneuert, von dem die Parteien zehren.

Ein neuer Typus des Politikers?

Auf diese Weise könnten neue Programme alten Parteien auch heute wieder mehr innerparteiliche Kohärenz verschaffen. Viele kluge Beobachter haben das längst erkannt. Doch es fehlt den Parteien an zupackenden Frontleuten, die Programmdebatten vorantreiben. Die Zeit der alten Gesellschaftstheoretiker, der fundamentalen Entwürfe aus einsamen Denkerstuben ist vorbei. Und auch große Parteiprogrammatiker wie Richard Löwenthal, Erhard Eppler, Werner Maihofer oder Heiner Geißler sind nicht nachgewachsen. Das schafft in allen Parteien Platz für den neuen Typus des "Machtprogrammatikers". Der Machtprogrammatiker nutzt die Programmdebatte, um sein Gespür für die Befindlichkeit und Seelenlage der Partei zu schärfen und sich so eine Hausmacht für innerparteiliche Machtkämpfe zu verschaffen, wie sie andere Spitzenpolitiker der Partei niemals hinter sich bringen können.

Der Machtprogrammatiker kennt die Parteiseele, kann sie mithin in seinen Reden und politischen Taten pflegen und balsamieren. Bei Edmund Stoiber ist das unübersehbar. Das geschieht nicht in den lauten, von den Medien wiedergegebenen und im Redemanuskript dick hervorgehobenen Formulierungen. Es sind eher die scheinbaren Nebensächlichkeiten, die die Parteibasis immer wieder für den Machtprogrammatiker einnimmt. Wenn Stoiber auf Parteitagen gegen die sozialistische Gefahr wettert, die Risiken ungeregelter Zuwanderung anprangert, bayerisches Heimatgefühl beschwört, gegen die Verschwendungssucht der EU-Behörden bei Subventionszahlungen agitiert und gleichzeitig die mangelnde Unterstützung der bayerischen Landwirte durch die Europäische Union beklagt, dann ist ihm tosender Applaus sicher - und mangelt es seinen Ausführungen auch an Logik. Dann wissen die CSU-Delegierten, dass Stoiber ein Bayer, ein Christsozialer und überhaupt einer von ihnen ist.

Der Machtprogrammatiker hat in seiner Partei alle Möglichkeiten. Besitzt er erst einmal das Vertrauen der Basis, kann er es in Krisenzeiten erneuern lassen. Auch Angela Merkel, obgleich weit davon entfernt, eine Machtprogrammatikerin zu sein, holt sich ihr Selbstvertrauen auf CDU-Regionalkonferenzen. Allerdings hat sie Vertrauen und Unterstützung nicht in einem mit Sachpolitik verschränkten Prozess gewonnen, sondern in einer einzigen Frage, dem Umgang mit der Spendenaffäre ihrer Partei. So bleibt die Unterstützung für sie instabil. Hier liegt der Unterschied der strukturellen Positionen von Merkel und Stoiber. Der Machtprogrammatiker vermag seine Partei zu begeistern, und nur die begeisterte Partei kann ihre Stammwähler halten und zugleich Wechselwähler hinzugewinnen. Weil viele CDU-Politiker das erkannten, folgten sie schließlich dem Machtprogrammatiker der CSU und kürten ihn indirekt zum Kanzlerkandidaten der Union.

Wie weit er noch kommt, ist eine andere Frage

Doch Machtprogrammatiker können in fast jeder Partei reüssieren. Edmund Stoiber hat in der CSU vorgemacht, wie man so einen Aufstieg ganz ohne Unterstützung der Medien hinbekommt, ohne deren Rückendeckung Politiker angeblich keine Chance mehr haben. Das verschafft ihm Kraft und Rückendeckung. Zugleich aber ergeben sich Stoibers Schwächen aus der Art seines Aufstiegs. Und in einer neuen Umgebung, in der die CSU keine dominierende Rolle spielt, könnten diese Schwächen fatale Folgen haben. Unterdessen spricht viel dafür, dass den Machtprogrammatikern auch die machtstrategische Zukunft in ihren Parteien gehört. Das immerhin hat Edmund Stoiber vorgemacht. Wie weit er noch kommen wird, ist eine ganz andere Frage.

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