Der Mann als Modernisierungsverlierer
Mädchen sind einfach pfiffiger“, witzelte vor kurzem Professor Gert G. Wagner vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung vor den Netzwerkern in Berlin und erklärte damit stracks, warum Mädchen im Vergleich zu Jungen auch ein geringeres Sozialhilferisiko darstellten. Die Netzwerker staunten. Mädchen seien also pfiffiger, wurde kolportiert, so dass mich in den USA irgendwann die Frage erreichte: „Was sagen Sie denn dazu? Sie haben doch gerade dieses Jungenbuch geschrieben.“
Grundsätzlich werden erfolgreiche, emanzipierte Frauen nichts dagegen einzuwenden haben, wenn Männer Mädchen „pfiffig“ finden. Im Gegenteil! „Stimmt doch!“ kontert vermutlich an dieser Stelle manch’ kluge Schöne. Doch erfahren genug, lässt sie sich nicht einlullen. Die charmante Kleinigkeit am Rande, das Bonmot des Professors, hat etwas süßlich Klebriges. Es steht für ein gedankliches Muster, eine Überzeugung, die sich in Jahrzehnten erfolgreicher Frauenbewegung durchgesetzt und inzwischen in den Rang des gesellschaftlichen Konsenses erhoben wurde. Die Folge: Der Blick für Neues scheint verstellt. Wenn es darum geht, die Herausforderungen einer entwickelten Wissensgesellschaft zu meistern und letztlich Demokratiefähigkeit zu erzielen, dann sind es nicht mehr die Mädchen, die der differenzierten Betrachtung und Unterstützung bevorzugt bedürfen. Es sind vielmehr die Jungen, die stärker ins Zentrum der Aufmerksamkeit von Entscheidern rücken sollten.
Jungen geben in fast allen hoch industrialisierten Ländern zunehmend Anlass zur Sorge. Intellektuell bleiben sie seit Jahren hinter ihren Möglichkeiten zurück, zeigen deutlich mehr Entwicklungsprobleme und neigen zunehmend zu extremem Verhalten – entweder zu vollkommener Lethargie („lieber Loser“) oder zu exzessiver Aggression („Amokläufer“). Es überrascht nicht, dass die erste PISA-Studie Jungen zur Riskogruppe erklärt hat, neben Kindern aus sozial schwachen Familien, Kindern aus bildungsfernen Familien und Kindern aus Einwandererfamilien. Der Wind hat sich gedreht. Bewusst ist das in Deutschland bislang nur den Wenigsten, vermutlich auch, weil nicht sein kann, was nicht sein darf. Während Mädchen weiterhin gefördert werden, gehen deutsche Vordenker wie selbstverständlich davon aus, dass Jungen sich optimal entwickeln können. Doch das ist nicht mehr so, wie das Leben nicht nur unter deutschen Dächern lehrt.
Nur noch 18 Prozent aller Jungen lesen gern
Die erste PISA-Studie, eng verknüpft mit der Evaluation der Schlüsselqualifikation der Zukunft, zeigt: Lesekompetenz wird gerade unter Jungen nur noch unzureichend ausgebildet. Jungen und Mädchen lesen – bezogen auf den so genannten fiktiven Roman – immer weniger, Jungen jedoch vergleichsweise noch weniger als Mädchen. Gaben im Jahr 2000 noch 29 Prozent der Mädchen und 55 Prozent der Jungen an, freiwillig kein Buch mehr in die Hand nehmen zu wollen, so sind es vier Jahre später bei den Mädchen bereits 31 Prozent und bei den Jungen 61 Prozent. Das ist das Ergebnis einer repräsentativen Umfrage unter 2.234 deutschen Schülern aus dem Jahr 2004. Im Alter zwischen 12 und 15 Jahren verbinden nur noch 18 Prozent der Jungen mit einem Buch „Freude“.
Nehmen wir als gesicherte Erkenntnis aus der Leseforschung hinzu, das Heranwachsende, die bis zu diesem Alter nicht mit Freude längere Texte gelesen haben, dies auch als Erwachsene nicht tun werden, so wird die Brisanz der Zahlen deutlich. James Shapiro, Professor für Englische Literatur an der Columbia University in New York appelliert: „Wenn wir davon ausgehen, dass Demokratie an Menschen geknüpft ist, die lesen, schreiben, denken und reflektieren können – und genau diese Fähigkeiten sind es, die Literatur entwickelt und fördert –, dann sollten wir dafür sorgen, dass diese Fähigkeiten auch ausgebildet werden. Andernfalls müssen wir um den gesellschaftlichen Konsens fürchten.“
Betulich schaukelt der Bildungsdampfer dahin
Ausdruck der verminderten Lese-, Lern-, und Leistungsbereitschaft von Jungen im Vergleich zu Mädchen ist der Umstand, dass sich die Leistungsschere zwischen beiden Geschlechtern immer weiter öffnet. Wissenschaftler im englischsprachigen Raum haben dieses Phänomen Boys´ underachievement genannt: Jungen schneiden immer öfter schlechter in Schule und Ausbildung ab – mit allen Konsequenzen für Berufswahl und persönlich empfundenes Glück. Weil es den Jungen an zukunftsträchtigen Fähigkeiten wie Lese- und Sozialkompetenz fehlt, ziehen Mädchen an ihnen vorbei. Je anspruchsvoller die Schulart, desto häufiger finden sie sich in der Überzahl. Während Jungen die unteren Bildungslevel dominieren, brillieren Mädchen auf den oberen. Weltweit studieren sie heute schneller und erzielen qualitativ höherwertige Abschlüsse. Inzwischen ergattern Mädchen auch die besseren Jobs.
Als der Spiegel im Mai 2004 von einer „Jungenkatastrophe“ schrieb, war dies keine Stimmungsmache aufgeregter Blattmacher. Es war ein ernst zu nehmender Warnschuss vor den Bug des betulich dahinschaukelnden Bildungsdampfers Germania. Während in den Vereinigten Staaten, Großbritannien, Australien und Kanada bereits erfolgreich nach Lösungen für das Phänomen des Boys´ underachievement gesucht wird, beginnt Deutschland gerade erst, das Problem selbst zu entdecken. Bildungsbürgerlich Bewegten dauert das alles viel zu lange. Institutionen wie die Stiftung Lesen, Die Zeit oder das ZDF sowie Prominente aus Politik, Kultur und Wirtschaft trommeln bundesweit zum Aufbruch. Lesen, Vorlesen ist wichtig! Tausende von Freiwilligen sind inzwischen landauf, landab als Botschafter der Leselust unterwegs. Doch die Crux sitzt tief und ist komplexer als lange angenommen. Erklärungen dafür, dass Jungen nicht mehr lesen, liefern Gehirn- und Leseforscher, Soziologen und Psychologen. Erst in der Summe wird der Umfang der gesellschaftlichen Herausforderung deutlich. Schauen wir zunächst in die Schaltzentrale Gehirn.
Glauben wir Leseforschern, sieht das Gehirn Lesen eigentlich nicht vor: „Lesen ist eine nicht artgerechte Tätigkeit“, schreibt Ernst Pöppel. Wenn wir dennoch lesen können, so liegt das daran, dass das Gehirn ersatzweise Funktionsbereiche nutzt, die für andere Fähigkeiten geschaffen wurden, zum Beispiel dafür, Spuren zu lesen oder Gefühlsschwankungen auszumachen, also gewissermaßen „zwischen den Zeilen“ zu lesen. Noch längst sind nicht alle Rätsel um die Leselust gelöst, unumstritten unter Wissenschaftlern ist jedoch: Entwicklungsgeschichtlich bedingt unterscheiden sich die Voraussetzungen, die Jungen und Mädchen für Lesekompetenz mitbringen, sehr deutlich voneinander.
Jungen lesen anders. Und sie lesen Anderes
Daraus erklärt sich der systematische Unterschied im Leseverhalten von Jungen und Mädchen. Jungen lesen anders, Jungen lesen Anderes, und Jungen bedeutet das Lesen nicht so viel wie Mädchen. Männliches Leseverhalten führt in der Konsequenz zu männlichem Lernverhalten. Wird diesem Umstand in der Schule nicht entsprochen, treibt sie Jungen unter das Problemdach des Boys’ underachievement. Leseforscher fordern deshalb schon lange: Der Deutschunterricht gehört auf den Prüfstand. Seit Jahrzehnten einem bildungsbürgerlichen Erziehungsanspruch verpflichtet, ist er überwiegend auf fiktiver Literatur aufgebaut und damit eher mädchenaffin. Gegen die Leseunlust bei Jungen kommt solcher Unterricht nicht mehr an. Lese- und Schreibkompetenzdefizite können so nicht aufgefangen werden.
Für Jungen ist das Bücherlesen „weiblich“
Was meinen Soziologen dazu? Während Mädchen noch einigermaßen zuverlässig in die Fußstapfen ihrer überwiegend begeistert lesenden Mütter treten – sie entsprechen damit dem gesellschaftlich erwünschten und vorgelebten Rollenverhalten von Frauen – wenden sich Jungen vermehrt vom Buch ab. Zwangsläufig, wie es heißt. Denn das Lesen empfinden Jungen als weiblich konnotierte Praxis, Schule als feminisiert. Von frühesten Kindertagen an sind Jungen überproportional umgeben von liebevoll vorlesenden Müttern, von Kindergärtnerinnen, Lehrerinnen und Bibliothekarinnen. Auf dem Weg zum „echten Kerl“ suchen sie nach Orientierung. Doch positive, männliche Rollenvorbilder gibt es immer weniger. Lesende Männer, die für ihre Söhne über längere Zeit verlässlich verfügbar sind, bilden die Ausnahme. Jederzeit verfügbar sind hingegen elektronische Medien. Zu Vorbildern für Jungen werden deshalb Stars wie der Rennfahrer Michael Schumacher, der Rapper Eminem, der TV-Moderator Stefan Raab oder Spiderman. Doch sie alle treten nicht mit einem Buch auf die Showbühne. Sie propagieren nicht das Abenteuer des Lesens. Vielmehr vermitteln sie: Reich, berühmt und erfolgreich wird man(n) auch ohne Buch.
Und schließlich: Jungen sehen sich auf der Suche nach ihrem Platz in der Gesellschaft einer unüberschaubaren Zahl von Lebensentwürfen gegenüber. Je größer die Vielfalt der Möglichkeiten, desto häufiger müssen sie sich richtig entscheiden. Sie spüren den steigenden Erwartungsdruck in Familie, Schule und Gesellschaft, vermissen hilfreich gesetzte Grenzen und reagieren irritiert. Die Folge: Aus Angst, etwas falsch zu machen, tun sie gar nichts mehr. Leistung wird als „uncool“ erklärt, „cool ist chillen“. Fragen des Lebens stellen sich nicht mehr: Das bekommt sowieso keiner mehr hin. Antworten suchen sie deshalb auch nicht mühevoll in Büchern – zu leicht gewährt der PC Entspannung, Selbstbestätigung und Lob. Alle Mediennutzungsstudien der vergangenen Jahre belegen: Der Beliebtheit des Lesens bei den Mädchen entspricht die Beliebtheit von Bildschirmspielen bei den Jungen – mit steigender Tendenz. Psychologen sprechen inzwischen von einem neuen Initiationsritus.
Die kommende globale Schwäche der Männer
Mit Blick in die Zukunft wird noch deutlicher, weshalb Jungen gefördert werden müssen. In der Wissensgesellschaft sind Fähigkeiten und Fertigkeiten nicht mehr gefragt, die über Jahrtausende hinweg gefordert waren. Aus Muskelkraft wird Hirnkraft, aus Handarbeit wird Kopfarbeit. Produktions- und Facharbeiterjobs, die bislang überwiegend von Männern ausgeübt wurden, fallen weg. Aus Fabrikarbeit wird Service. Hier haben die häufig teamfähigeren und kommunikativeren Frauen bessere Chancen. Sie werden angesichts sinkender Geburtenraten und der steigenden Zahl wissensorientierter Berufe zur strategischen Arbeitsreserve von Unternehmen. Die Ressource Bildung wird von jungen Männern auf junge Frauen umverteilt, Berufschancen und Erwerbseinkommen ebenso. Macht- und Einflussstrukturen ändern sich. „Die neue Stärke der Frauen führt zu einer globalen Schwäche der Männer, die sich in den nächsten Jahrzehnten als Quelle mannigfacher Konflikte erweisen wird“, schreibt der Trendforscher Matthias Horx. „Um überhaupt noch eigenen Identifikationsraum besetzen zu können, ziehen Jungen sich unverhältnismäßig stark auf archaische Tugenden zurück. Ihr Kraft-, Imponier-, und Protzgehabe nimmt zu, ihre Sozialkompetenzen nehmen ab.“ Familien brechen auseinander. Die daraus resultierende Erziehungs- und Bildungssituation wirkt sich nachteilig auf Jungen aus. Selbst finanziell gut gestellte Mütter, die sich liebevoll und psychologisch bewusst um ihre Söhne kümmern, können männliche Defizite nicht mehr kompensieren. Und die Literatur kann das? Nicht in Gänze, aber in Teilen. Warum?
Lesen ist unendlich viel mehr als die Fähigkeit, ausformulierte Rechenaufgaben zu lösen oder Fahrpläne zu deuten. Wer liest, lernt denken, kommunizieren, sich in andere Menschen hineinzuversetzen, Lebensentwürfe zu erkennen und zu verwerfen, eine Identität auszubilden. Wer liest, lernt Entscheidungen zunehmend selbständig zu treffen, sozial zu interagieren, politisch mündig zu werden. Lesen bedeutet deshalb auch nicht nur Bildung im begrenzten Sinne von Wissensvermittlung, sondern von Menschenbildung. Vor diesem Hintergrund ist Jungenförderung im Jahr 2005 in erster Linie mit dem Stiften von Leselust verbunden, zu Hause wie in der Schule, geschlechtsspezifisch. Wie sieht das im Alltag aus? Vier Forderungen:
Erstens: Lasst Jungen lesen, was sie interessiert! Das klingt simpel. Ist aber längst nicht deutsche Praxis, wie die Erfurter Studie zur Förderung der Lesemotivation von Grundschülern herausgefunden hat: Jungen mögen Sachbücher und Abenteuer. Pädagoginnen und Pädagogen aber setzen auf realistische Problemgeschichten mit ambitionierter Botschaft. Die Folge: Ein erster Leseknick. Noch bevor Fibelträger das Abenteuer Lesen wirklich erlebt haben, steigen sie aus dem Lesekontext aus. Untrainiert empfinden sie Schullektüre mit zunehmendem Alter als zu schwierig, zu langweilig – und zeigen sich frustriert. „Uninteressante“ Texte führen mit dem Übergang zur Pubertät noch einmal zum Ausstieg – dem zweiten Leseknick. Nun trifft es auch Jungen aus bildungsbürgerlichen Familien, die früher zumindest zu Hause gelesen haben. Der Grund: Jungen wollen „Themen lesen“ nicht Belletristik. Berücksichtigen wir dies nicht, wird der Höhenunterschied zwischen individuell gefühlter Lesehürde und gesellschaftlich erwünschtem Leselevel mit jedem Lebensjahr größer.
Warum Trash lesen nicht unbedingt schadet
Zweitens: Baut Lesetrainingsbrücken für Jungen! „Immer diese Comics. Lies doch mal was Anständiges! Das ist doch nur Trash!“ Wie oft müssen sich potenzielle Leseratten diese Vorwürfe anhören? Das Volk der Dichter und Denker steht sich in Sachen Leselustförderung gleichsam selbst im Weg. Statt künftige Bücherwürmer für das „Bewältigen von Texten“ aller Art zu loben, belegen wir lustbetontes Lesen mit dem Makel des Minderwertigen – und legen die Latte damit gleich noch ein bisschen höher. 200 Jahre Aufklärung verpflichten schließlich. Wir haben kein Problem mit dem „guten Buch“, wir haben ein Vermittlerproblem bezogen auf das „gute Buch“. Ein gutes Buch für Heranwachsende muss emotional nachhallen oder an ihre konkreten Interessen anknüpfen. Nur dann motiviert es zum Weiterlesen, nur dann werden Jungen auch wieder vermehrt lesen, wie erste Erfolge in Großbritannien und den USA zeigen. Bücher sind Spiegel der Persönlichkeit. Wer reif ist für das „gute Buch“, der wird es lesen. Doch auf dem Weg dahin gilt es, solide Lesetrainingsstrecken zu bauen, mit Zeitungen, Zeitschriften und Sachbüchern, mit Fantasy und Science-Fiction – alles zu seiner Zeit. Deshalb sind Comics kein Trash, sondern Teil realer Lebenswirklichkeit, Teil zu bewältigender Lesepraxis.
Drittens: Bildet Medienkompetenz bewusst bei Jungen aus! Gehirn- wie Leseforscher haben längst erkannt: Qualifizierte Internet- und Computernutzung in der Mittelstufe geht grundsätzlich mit langjähriger, erfolgreicher Bücherbildung einher. Je intensiver Schüler zuvor gelesen haben, desto umfangreicher nutzen sie später die Potenziale elektronischer Medien. Lesen Jungen nicht genug, bevor der erste PC ins Kinderzimmer einzieht, werden grundlegende Kenntnisse zur Produktion, Rezeption und Reflexion von Sprache nicht mehr ausgebildet. Dann verharren Jungen irgendwann widerstandslos in dumpfer Monotonie vor „Ballerspielen“. Wer lesekompetent werden will, muss zudem die dafür erforderlichen Fähigkeiten innerhalb der von der Natur vorgegebenen Zeit dominant trainieren. Nur wenn das „Sprach- und Lesefenster“ zwischen dem fünften und zwölften Lebensjahr geöffnet ist, kann die „soziale Hirnstruktur“ reifen. Sie hilft, die Defizite der „biologischen Hirnstruktur“ auszugleichen.
Viertens: Erkennt, dass Lesekompetenz in hohem Maß an Emotionen gebunden ist! Leselust beginnt mit den ersten Tagen im Leben eines Kindes – durch das Wiegen im Arm, durch freudvolle elterliche Zuwendung, gemeinsames Singen und Sprechen. Folgen wir Erziehungswissenschaftlern, so ist das bei Jungen noch ausgeprägter der Fall als bei Mädchen. Über Jahre hinweg gefühlte Liebe, Ruhe und Geborgenheit führen zu emotionaler Sicherheit – und das ist die Grundlage aller Leselust. Später sind es Rituale wie die abendliche Gutenachtgeschichte, die den Weg auch männlicher Leseratten ebnen. Bis zum Ende der Schulzeit lautet dann die Formel: „Das richtige Buch – zur richtigen Zeit – am richtigen Ort“ – immer abgestimmt auf das individuell erreichte Leseniveau. Das kommt einer gigantischen Erziehungsaufgabe gleich, vor der Eltern und Lehrer so noch nie gestanden haben.
Veränderte gesellschaftliche Verhältnisse erfordern veränderte Prioritäten in der Bildungs- und Familienpolitik. Geschlechtsspezifische Leseförderung für Jungen war noch nie so wichtig wie heute. Die Forderung, Jungen auf dem Weg ins Leben aufmerksamer zu begleiten, ist deshalb mitnichten eine platte Antwort auf die Frauenbewegung des 20. Jahrhunderts. Unterstützen wir Jungen von den ersten Kindertagen an, so unterstützen wir künftige Frauen. Büchergebildete Männer werden die bevorzugten Lebenspartner sein: Das Ziel lautet also nicht, Mädchen in die zweite Reihe zurückzudrängen, sondern sie nicht allein davonlaufen zu lassen. Erst wenn sich emanzipierte Frauen auch „Jungen fördern!“ auf ihre Fahnen schreiben, können sie wirklich als „pfiffiger“ bezeichnet werden. Denn dann erst verbinden sie tatsächlich die Kompetenz für Inhalte mit der Kompetenz für das Soziale.
Katrin Müller-Walde, Warum Jungen nicht mehr lesen und wie wir das ändern können, Frankfurt: Campus Verlag 2005, 220 Seiten, 19,90 Euro