Der Moslem mag es anders sehen

Der 11. September habe die Welt verändert, sagt man uns. Doch wenn nichts mehr ist, wie es war, gehört alles auf den Prüfstand - auch der Hochmut des Westens, den Islam als eigenständige Kultur nicht wahrzunehmen

Nur langsam weicht der Schock. Noch ist es zu früh, Antworten zu geben. Fragen aber müssen erlaubt sein. Fragen sind das Salz westlicher Gesellschaften. Sie legitimieren unsere Art zu leben und begründen unseren Überlegenheitsanspruch gegenüber Intoleranz und Fundamentalismus. Doch bei dem Versuch, Antworten zu finden, gab und gibt es eine merkwürdige Widersprüchlichkeit: Nichts wird mehr so sein wie es einmal war, hören wir. Seit dem 11. September habe das 21. Jahrhundert begonnen, und wir erlebten nun einen ganz neuen Krieg. Diese Fest-stellung geht einher mit einem "Weiter so!", mit einem "Globalisierung - was sonst". "Den Terror politisch verstehen zu wollen, läuft darauf hinaus, ihn zu relativieren", heißt ein Denkverbot. "Die Kritik an der Unkultur Amerikas ist Kulturkritik am eigenen Volk", lautet eine Verpflichtung, nun auch die zweifelhaften Seiten des amerikanischen Lebens geistig zu umarmen. Muss man also noch die letzten kommerzialisierten Auswüchse der amerikanischen Popkultur toll finden, um dem Vorwurf des Antiamerikanismus zu entgehen?


Wenn nichts mehr so ist, wie es früher war, gehört auch alles auf den Prüfstand. Doch das ist wohl nicht gemeint. Im Gegenteil: Es muss alles verteidigt werden, damit wir so weitermachen können, lautet die Botschaft der kulturellen Globalisierer. Und eben hier liegt das Problem. Neu ist seit dem 11. September nur die Erfahrung, dass unsere westlichen Gesellschaften so extrem verletzlich geworden sind, dass 400 oder 200 oder vielleicht auch bloß 50 Menschen ausreichen, sie so zu schädigen wie das bisher nur hochgerüstete Staaten vermochten. Was dem japanischen Kaiserreich 1941 noch nicht möglich war - einen Kamikazeangriff in das Herz Amerikas zu tragen -, schafft 60 Jahre später eine "privat" organisierte fanatisierte Gemeinschaft von wenigen hundert Menschen. Das ist das einzig wirklich Neue seit dem 11. September.

Der Islam ist mehr als Wahn und Mittelalter

Wer keine Chance sieht, die politischen und gesellschaftlichen Ursachen des Terrors zu bekämpfen, hat nur eine Option: Er muss unsere liberalen Gesellschaften in einer Weise aufrüsten und sichern, die sie zu unangreifbaren Festungen macht - und steht dabei in der Gefahr, ihr Wesen, ihren liberalen Kern zu zerstören. Auf lange Sicht ist eine offene Gesellschaft nur schwer vorstellbar, in der vom Atomkraftwerk bis zum Bankgebäude alles und jedes von einem Ring aus Beton, Polizei und Wachschutz umgeben ist. Wer diesen Weg nicht dauerhaft einschlagen möchte, muss eben genau dort nachfragen, wo es unmodern geworden ist, nach Ursachen zu forschen: in der Geschichte der letzten zweihundert Jahre.


Schon die Entschlüsselung des menschlichen Genoms löste bei manchen Kommentatoren Jubel darüber aus, dass eine geisteswissenschaftlich gebildete Elite "randständig" geworden sei, dass die beliebige Reproduzierbarkeit des Menschen und die kommerzielle Massenkultur ein neues Zeitalter der Freiheit von Philosophie, Geschichte und Theologie eingeläutet hätten, das in Freiheit von religiösen und ethischen Tabus zu ungehindertem Konsum einlade. Wenn es uns gelänge, alle Menschen mit den Segnungen des Massenwohlstandes zu überziehen, Markt, Menschenrechte und Demokratie durchzusetzen, so die Hoffnung der Globalisierer, würde sich die kulturelle Differenz in der gemeinsamen Zivilisation auflösen.


Eben daran aber bestehen seit dem 11. September erhebliche Zweifel. Dabei geht es nicht um den Dialog mit Osama Bin Laden und seinen terroristischen Gefolgsleuten, es geht um den Versuch, das Umfeld auszutrocknen, die Rekrutierung des Nachwuchses für den Terror zu stoppen. Dazu müssen wir allerdings einer Fehlsteuerung des aufgeklärten Denkens inne werden, die den Islam mit religiösem Wahn und Rückkehr des Mittelalters gleichsetzt.


Die Instrumente dazu sind vorhanden. Von Edmund Burke bis Johann Gottfried Herder haben Kritiker einer platten rationalistischen Aufklärung dazu beigetragen, Kultur im Plural zu denken und die sich daraus ergebenden Unterschiede aus der Umklammerung eines eindimensionalen Fortschrittsdenkens zu lösen. Denn indem wir Markt und Menschenrechte in unserem Sinne zu den unveräußerlichen Werten der einen Welt erklären, haben wir den Islam in die Rolle des Altmodischen, Abgestorbenen, Überlebten gedrängt. Nicht die kulturelle Eigenstän-digkeit des Islam, sondern seine angebliche Rückständigkeit ist das Thema unseres aufgeklärten und säkularen Denkens. Die darin liegende kulturelle Überwältigung hat einen Teil jenes Hasses hervorgebracht, in dem der Terrorismus Menschen fischt.


Im Jahre 1993 schrieb Botho Strauß: "Dass jemand in Tadschikistan es als politischen Auftrag begreift, seine Sprache zu erhalten, wie wir unsere Gewässer, das verstehen wir nicht mehr. Dass ein Volk sein Sittengesetz gegen andere behaupten will und dafür bereit ist, Blutopfer zu bringen, das verstehen wir nicht mehr und halten es in unserer liberallibertären Selbstbezogenheit für falsch und verwerflich." Darin liegt das eigentliche Missverständnis: Wir halten etwas für falsch und verwerflich, nur weil es uns unverständlich und anders ist. Jede Epoche ist unmittelbar zu Gott, hat der große deutsche Historiker Ranke einst dekretiert. Wir huldigen dagegen einem Fortschrittsbegriff, der andere Entwicklungsstufen ins noch nicht Aufgeklärte abdrängt. Solange wir von der arabischislamischen Welt die Anpassung an unsere Wertvorstellungen verlangen, gibt es genau jenen Kulturkampf, den jetzt alle verhindern möchten.

Die Regeln bestimmt allein der Westen

"Keine Subjekte zu kennen, sondern nur Kollektive, keinen öffentlichen Raum zwischen Familie und Staat oder die Trennung zwischen öffentlich und privat zuzulassen, keinen reflexiven Umgang mit den Quellen des Glaubens, dafür aber die stetige Ineinssetzung des Sakralen und des Politischen, was den Einzelnen zu steter Treue verpflichtet, ihn und vor allem ihr aber keine Rechte einräumt": Das mag uns westlichen Menschen unerträglich vorkommen, der gläubige Moslem darf es anders sehen. Für uns ist der globalisierte Kapitalismus aufklärerisch, grenzenlos und ohne Geheimnis, er verachtet alles aus Religion und Geschichte Überkommene, soweit es Markt und Konsum stört. Er zersetzt Mythen und Glaubenswelten und trennt den Einzelnen von Gott - ein unverzeihliches Verbrechen nicht nur in den Augen religiöser Fundamentalisten. Wir haben diese Welt zwischen New York und St. Petersburg errichtet, es ist trotz aller Reformationen und Säkularisationen eine im Kern lateinisch-christliche Zivilisation, an der Mohammed keinen Anteil hat und die weder in Indien noch in Saudi-Arabien Geltung beanspruchen kann.


Seit dem Ende Mehmet Alis in Ägypten in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts hat die arabisch-islamische Welt Demütigung auf Demütigung erlebt. Die großen kulturellen Leistungen des Islam in Granada und Cordoba bewundern wir als Touristen, unser Bild von der arabischen Welt haben sie nicht geprägt. Der Westen bestimmt die Regeln des Zusammenlebens. Erst waren es die europäischen Kolonialmächte, die Juden und Arabern gleichzeitig Gegenteiliges versprachen. Dann trat der Fremdkörper des Staates Israel in diese Welt, Reaktion auf europäisches, speziell deutsches Versagen. Und schließlich haben die Amerikaner die Rolle der allein gestaltenden Macht übernommen, die aus Sicht der Araber ganz auf Seiten Israels steht und ihr Lebensrecht einschnürt. Jetzt rächt sich, dass es nach dem Ausfall Russlands und angesichts der Schwäche Europas neben den Vereinigten Staaten keine weitere ordnende Weltmacht mehr gibt. Vom Suezkanal über die nachkolonialen Grenzen und die Kontrolle des Öls bis zur Befreiung Kuwaits durch amerikanische Truppen sind die Araber Objekte und ist der Westen das Subjekt der Weltgeschichte.

Ist der Hass wirklich so unverständlich?

Ist es wirklich so unverständlich, dass verletzter Stolz Hass hervorbringt und Terror gebiert? Die Amerikanisierung unserer Welt hat auch den metaphysischen Kern unserer abendländischen Zivilisation marginalisiert. Manches Lob der Popkultur, verbunden mit Warnungen vor den Gefahren eines kulturkonservativen Antiamerikanismus, gemahnt an das spätantike Rom, wo Brot und Spiele von den wenigen verbliebenen Sängern als kulturelle Leistungen gepriesen werden mussten. Schließlich starben auch Sokrates und Seneca weil sie die kulturelle Verflachung nicht preisen wollten. Doch während unsere Erfahrungen amerikanischen Freiheitswillen und amerikanische Glaubenstiefe umfassen, weil Amerika Fleisch von unserem Fleisch ist, fehlt der islamischen Welt diese kulturelle special relationship mit Amerika.

Wo Modernisierung zerstört, scheitert sie

Wenn wir also den Terror austrocknen und unsere Freiheit nicht aufgeben wollen, müssen wir den Eigenwert der islamischen Welt respektieren. Vielleicht hilft dazu der Rückblick in eine fernere, nicht so emotionsgeladene Vergangenheit. Nach einhundert Jahren Kolonialpolitik in Indien stand die britische Herrschaft in diesem Land 1857 vor dem Aus. Rücksichtslose Ausbeutung, wirtschaftliche Anpassung und kulturelle Unterdrückung hatten das Land in die Rebellion getrieben und die Briten beinah vom indischen Subkontinent gefegt. Edmund Burke hatte in den achtziger und neunziger Jahren des 18. Jahrhunderts in seinem berühmten Prozess gegen Warren Hastings genau diese Entwicklung vorhergesagt und vor einer Modernisierung gewarnt, die mit der Zerstörung religiöser wie kultureller Traditionen Hand in Hand geht. Doch begriffen hatte das damals niemand. Ein Gerücht, die Bajonette seien mit Schweineschmalz eingefettet genügte, die eingeborenen Soldaten von ihren britischen Offizieren zu trennen. Erst nach der Niederschlagung des sogenannten "Sepoy-Aufstandes" begann die britische Krone damit, das alte Indien vor den Zumutungen der ersten Globalisierung zu schützen und vor jenen Lebenswelten Respekt zu entwickeln, die den pragmatischen rationalistischen Kolonialherren fremd waren. Das Tadsch Mahal, das wir heute unweit von Delhi bewundern können, wurde von einem britischen Vizekönig, Lord Curzon, aus Trümmern wieder aufgerichtet und restauriert. Diese Politik sicherte die unangefochtene britische Herrschaft für weitere 70 Jahre bis zum Aufkommen des weltweiten Nationalismus. Lord Curzon galt selbst nach der Unabhängigkeit noch als Wohltäter Indiens.

Vieles wird sich ändern müssen

Der Vergleich liegt auf der Hand. Vielleicht sollten westliche Truppen nicht gerade unweit der Kabah stationiert werden und Frauen in Uniform nicht gerade in traditionell islamischen Gesellschaften auftreten. Vielleicht kann Amerika ja doch endlich durchsetzen, dass in Palästina Land gegen Frieden eingetauscht wird und der Traum von Judäa und Samaria, dem Land der Bibel nicht mehr die israelische Politik dominiert. Ein palästinensischer Staat und die Räumung der Siedlungen außerhalb der heutigen israelischen Grenzen wird den Sumpf des Terrors nicht sofort trocken legen, aber vielen Moslems vielleicht doch das Gefühl geben, dass wir auch ihren Gott und nicht nur den der Christen und Juden respektieren. Schließlich liegt es nur etwas über 50 Jahre zurück, dass in Jerusalem das King-David-Hotel mit britischen Offizieren in die Luft flog - ein terroristischer Anschlag, genau wie diejenigen, die die israelische Armee heute bekämpft. Die Erinnerung an die Haganah sollte es auch den Israelis möglich machen, mit der Hamas Frieden zu schließen. Vielleicht sollten wir uns auch unsere Verbündeten künftig etwas genauer anschauen, besonders wenn sie aus einem anderen Kultur-kreis stammen, damit wir in Mazedonien nicht die Waffen einsammeln müssen, die wir im Kosovo ausgegeben haben und nicht Kämpfer des Islam zur Strecke bringen, die wir gestern noch als Freiheitskämpfer gegen den Kommunismus gepriesen haben.


"Nichts wird mehr so sein, wie es war" - das bleibt eine leere Behauptung angesichts der Tatsache, dass fast noch alles so ist, wie vor dem 11. September. Aber es wird sich vieles ändern müssen, damit das meiste so bleiben kann wie es ist.

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