Der Mustersohn der alten Dame
Europa ist ergraut, in die Jahre gekommen und ziemlich müde geworden. Mit einer lebenslustigen Alten hat die Dame jedoch wenig gemein. Sie ist zwar rüstig und materiell immer noch gut bestückt, aber weder Ärzte noch Familie geben all zu viel auf sie. Der familiäre Zwist und die Auseinandersetzungen darüber, wie es mit dem großen Erbe weitergeht, zehren an Europas Nerven. Immer neue Verwandte aus dem Osten belasten den Geldbeutel. Keine Spur von Solidarität. Und vor der Tür steht ein neuer Cousin vierten Grades – kinderreich, arm und geeint im fanatisiert-fundamentalistischen Irrglauben des Islam.“ Diesen Eindruck vermitteln populistische Medien und eine Schar kenntnisloser Politiker.
Da kommt Jacques Delors, der durchaus als Europas Mustersohn gelten kann, mit seinem Buch zur rechten Zeit. Der langjährige Kommissionspräsident französischer Herkunft hat seine Biografie vorgelegt. Ein eindrückliches Werk von rund 550 Seiten, aus langen Gesprächen mit dem renommierten französischen Journalisten Jean-Louis Arnoud entstanden. Unprätentiös der Titel: Erinnerungen eines Europäers. Und unprätentiös ist auch der Inhalt. Da versucht sich kein elder statesman in peinlicher Selbstbeweihräucherung. Da wird nichts brutal zurechtgebogen, bis es dem Selbstbildnis für die Geschichtsbücher endlich entspricht.
Kleinbürgertum und Katholizismus
Jacques Delors wurde am 20. Juli 1925 in Paris geboren. Er wuchs in kleinbürgerlichen, bescheidenen Verhältnissen auf. Delors ist fest im Katholizismus – einem zweifellos aufgeklärten – verankert. Ohne diese eindrückliche Prägung ist sein politisches Engagement, allmählich auch im linken Spektrum, nicht zu erklären. Auch seine Begründungen des solidarischen und starken Sozialstaates lassen sich ohne Bezugnahme auf die katholische Soziallehre kaum verstehen. Ebenso wirkungsmächtig sind für Delors seine gewerkschaftlichen Aktivitäten und Ämter, über die er dann auch seinen Weg in die Politik findet. Er macht Karriere als Banker, dient als Gewerkschaftsfunktionär und gehört als Finanzminister zu den engen Weggefährten des französischen Staatspräsidenten François Mitterrand. Es ist ein langer, beschwerlicher Weg, der ihn in das Herz Europas nach Brüssel führt. 1985 wird er zum Präsidenten der Europäischen Kommission berufen, in einer Zeit, in der das furchtbare Wort von der Eurosklerose grassiert. Die EG befindet sich in einer ähnlichen Situation wie heute. Es mangelt an visionären Projekten, die dem vereinigten Europa wieder mehr Sympathie und Zustimmung bei den Bürgerinnen und Bürgern verschaffen. Und ebenso lassen es die Mitgliedstaaten, die „Herren der europäischen Verträge“, an zupackender Kompromissbereitschaft und mutigen Wegen aus der Krise vermissen.
Respektiert sogar von Maggie Thatcher
Delors’ Arbeitswut ist berüchtigt. Er erkämpft sich auch bei seinen härtesten Gegnern wie Margaret Thatcher zumindest Respekt. Er bringt den erlahmten Laden wieder in Schwung und ebnet historischen Projekten den Weg. Durchaus kann er als einer der wichtigsten Väter des Binnenmarktes, der Sozialcharta und der Europäischen Wirtschafts- und Währungsunion mit dem Euro als Krönung angesehen werden. Delors hat sich um die Vereinigung Europas verdient gemacht. Auch nicht vergessen werden darf sein Einsatz für den deutschen Vereinigungsprozess. Vor dem Hintergrund der öffentlich vorgetragenen Skepsis von François Mitterrand aber auch Margaret Thatcher, war sein mutiger Einsatz für einen Beitritt der DDR zur Bundesrepublik Deutschland und gleichzeitig zur Europäischen Gemeinschaft alles andere als selbstverständlich. Das scheint ihm auch der damalige Kanzler Kohl nicht vergessen zu haben. Der sorgte maßgeblich dafür, dass Delors nach seinem Ausscheiden aus dem Amt des Kommissionspräsidenten einen auch aus EU-Mitteln finanzierten Think Tank namens Notre Europe gründen konnte.
Jacques Delors gehört zu den großen Gestaltern Europas, die das Schiff unter widrigen Umständen in sichere Häfen zu manövrieren vermochten. Und sicher musste der Kapitän auch die eine oder andere Meuterei an Bord abwehren. Leider, leider ist von all diesen abenteuerlichen Zeiten, den Kabalen und Hieben beispielsweise zwischen Delors, Kohl, Thatcher, Gonzalez und Mitterrand kaum etwas zu lesen. Der Text wirkt trocken und spröde wie ein Kontoauszug der Kreissparkasse. Jacques Delors ist ein bedeutender Politiker, aber alles andere als ein fesselnder Autor. Er breitet seine Eindruck heischende Vita sorgfältig, gelegentlich allzu langatmig aus, vermag aber keine Rätsel zu lösen, die sich hinter zahllosen Persönlichkeiten und Ereignissen seiner Zeit verbergen. Zwar widmet Delors mehr als die Hälfte seiner Biografie den Brüsseler Jahren, aber das Buch scheint weniger für die europäische als für die französische Leserschaft geschrieben worden zu sein. Jacques Delors’ traumhafte Karriere hätte sich wahrscheinlich nach seinen Jahren als Kommissionspräsident fortsetzen lassen. Den Schritt hin zur Präsidentschaftskandidatur in Frankreich, die ihm seine Sozialistische Partei 1997 unermüdlich antrug, ist er aber nicht gegangen. Dass er dies offensichtlich nicht verwunden hat, zeigt die über lange Seiten und fortwährend bis in die kleinste Verästelung betriebene Erklärung seines damaligen Denkens und Handelns. Ist das heute wirklich noch von Belang? Sei’s drum, das Thema trieb und treibt ihn um. Trotzdem vermag auch dieses Kapitel seines Lebens leider kein wirkliches Lesevergnügen zu erzeugen.
Auf der Folie der gegenwärtigen Lethargie und der zunehmenden Konzeptionslosigkeit in Brüssel und allen europäischen Hauptstädten lassen sich hingegen seine abschließenden Gedanken zur Zukunft Europas gut lesen. Deutlich formuliert er seine Kritik am gegenwärtigen Zustand der EU: „Diese mangelnde Nachvollziehbarkeit für den Bürger und das Fehlen demokratischer Verantwortung sind ein umso größeres Ärgernis, weil Europa immer mehr in das Alltagsleben der Bürger eindringt. Unter diesen Bedingungen beunruhigt Europa mangels Erklärbarkeit und mangels Transparenz mehr, als dass es Sicherheit gibt, und es langweilt, statt zu begeistern.“ Ohne ein Grundmaß an Vertrauen in Institutionen und Prozesse kann Delors zufolge keine dauerhafte Legitimationsbasis zwischen Bürgern und EU entwickelt werden.
Über die „Vorhut“ wüsste man gerne mehr
Delors verspricht kein Allheilmittel, zeigt aber mit der „Avantgarde“ einen, wenn auch zerklüfteten Weg aus der Krise auf. Einzelne integrationswilligere Staaten könnten voranschreiten, damit das Tempo nicht mehr vom unwilligsten und langsamsten Partner vorgegeben werde. Stolz ist er darauf, dass Joseph Fischer im Jahr 2000 diesen Gedanken in seiner Humboldtrede aufgegriffen und weiterentwickelt hat. Dass Fischer mit seinem Ruf nach einem Europa „kontinentalen Ausmaßes“ davon nunmehr schon wieder Abschied genommen hat, scheint bei Fertigstellung des Buches nicht bekannt gewesen zu sein. Zu Delors’ Konzept einer „Vorhut“ Europas hätte man sich tiefergreifende Anmerkungen gewünscht, zumal nach dem nicht auszuschließenden Scheitern der EU-Verfassung in einigen Mitgliedstaaten Wege aus der Krise aufzuzeigen wären.
Als Verfechter des französischen Modells einer „Fédération d’Etat Nations“ fällt Delors über die EU-Verfassung ein differenziertes Urteil. Föderale Gedanken sind ihm suspekt, Dreh- und Angelpunkt bleibt für ihn der Nationalstaat klassischer Prägung. Gar nicht anfreunden mag er sich mit dem auch in Frankreich entwickelten Modell eines für zweieinhalb Jahre gewählten Präsidenten des Europäischen Rates, der für ihn nur zu einer weiteren Verkomplizierung des Institutionengefüges führt. Skeptisch beurteilt Delors die aus seiner Sicht blauäugigen Vorstellungen einer Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik, die durch einen Europäischen Außenminister zukünftig Gesicht und Stimme erhalten soll. Aufgrund der immer noch stark divergierenden außenpolitischen Traditionen und Konzepte der Mitgliedstaaten stellt er die Nützlichkeit eines solchen Ministers in Frage.
Angst vor den Wählern hat Delors nicht
Gleichwohl kämpft Delors nicht nur nachdrücklich für die Europäische Verfassung, wie jüngst innerhalb der Parti Socialiste, die an dieser Auseinandersetzung fast zu zerbrechen drohte. Vielmehr hält er als Kämpfer für ein unionsweites Referendum das Dokument bei den Bürgerinnen und Bürgern Europas auch für zustimmungsfähig. Dass ist in Zeiten, in denen selbst der deutsche Bundeskanzler und sein Außenminister Angst vor dem Votum aller Deutschen haben, eine ganze Menge. Jacques Delors gehört also auch nach seinem Ausscheiden aus höchsten Ämtern zu den Mustersöhnen Europas. Hätte die alte Dame doch mehr solcher Kinder und Enkel, dann gäbe es weniger Anlass an einer guten Zukunft für Europa zu zweifeln.
Insgesamt: Ein lesenswertes Buch, durchaus – für Frankophile und für Europaenthusiasten. Das Buch bietet eine Fülle von detaillierten Informationen über die französische Politik und eine wichtige Etappe in der europäischen Entwicklung. Wer aber von einer Biografie Spannung oder schlicht Lesevergnügen erwartet, wird von der Lektüre enttäuscht sein.