Der Mut wächst mit der Gefahr



Vor einigen Monaten besichtigte ich für eine Reportage die Werkstatt der Berliner Volksbühne: ein bröckeliges Gemäuer in Pankow, in dem die legendären Bühnenbilder des Kult-Theaters gebaut werden, vollgestopft mit DDR-Memorabilien, gigantischen Gemälden und den absurdesten Requisiten.

Der Leiter der Werkstatt erzählte mir, wie ihm der inzwischen ehemalige Intendant der Volksbühne, Frank Castorf, einst befahl, für eine Inszenierung von Georg Büchners Dantons Tod originalgetreue Ritterrüstungen aus dem Mittelalter nachzuschmieden. Diese seien aber so schwer geworden, dass die Schauspieler bei den Proben kaum ihre Bewegungen kontrollieren konnten. Der Bühnenbildner wandte sich daraufhin besorgt an seinen Regisseur: Was, wenn die Schauspieler bei der Vorführung stolpern und in den Orchestergraben rutschen würden? Gerade das sei das Ziel, erwiderte der Intendant. Inmitten der theatralischen Kunstwelt ein echtes Risiko, einen authentischen Kontrollverlust zu inszenieren, darin lag Castorfs Genie.

Ich muss in diesen Wochen immer wieder an diese Anekdote denken. Eine der Lehren, die aus dem desaströsen Ergebnis der SPD und der spektakulären Martin Schulz-Reportage im Spiegel gezogen wird, ist anscheinend, dass die Sozialdemokraten der Zukunft wieder authentischer werden müssen. Damit ein echter Neuanfang in der Opposition gelingt, will man sich weniger auf PR-Berater und Demoskopen verlassen und häufiger dem Bauchgefühl folgen. „Die Überinszenierung von Politik hat inzwischen eine Form erreicht, die deren Glaubwürdigkeit schadet“, kommentierte Spiegel-Autor Markus Feldenkirchen seine Reportage. Das hört sich gut an, folgt aber dem gleichen, typisch deutschen Dualismus von Schein und Sein, in dem die SPD seit Jahren gefangen ist.

Appelle für einen Blick über den deutschen Tellerrand hinaus sind nicht neu, aber gerade zu diesem Thema sehr erhellend. Jeremy Corbyn in Großbritannien, Emmanuel Macron in Frankreich und Sebastian Kurz in Österreich haben es geschafft, Gegenszenarien zum Untergang der europäischen Volksparteien zu zeichnen. Die Frage, ob die SPD sich das inhaltliche Programm von Macron, Corbyn oder gar Kurz als Vorbild nehmen sollte, ist allerdings weniger interessant als die Erkenntnis, dass der Aufstieg dieser Politiker der gleichen Dramaturgie folgt. Alle drei traten nämlich nicht nur gegen die Opposition an, sondern auch gegen ihre eigene Partei.

Macron kandidierte gegen eine Parti Socialiste, in die er als 24-Jähriger eingetreten war. Corbyn sucht den offenen Konflikt mit den Blair-Getreuen der Labour Party. Und Sebastian Kurz entmachtete mit seiner „Liste Sebastian Kurz“ den Parteivorstand der ÖVP. Ein Bruch mit der eigenen Parteifamilie ist eine emotional schwierige Entscheidung und kann leicht zum abrupten Ende der eigenen Karriere führen. Gerade deshalb strahlten aber diese drei Wahlkämpfe viel stärker über die bubble des politischen Geschäfts hinaus als die zigste Debatte in einer Grundwertekommission.

Alle drei Kandidaten wirkten wegen, nicht trotz der dramatischen Qualität ihrer Kandidatur so authentisch. Ein Theaterpublikum ist nur dann überzeugt von einer schauspielerischen Leistung, wenn es merkt, dass Risiken eingegangen werden. In seinem Buch Heldenreise schreibt Mythenforscher Joseph Campbell, dass der Protagonist einer Geschichte erst die Schwelle des eigenen Heims überqueren muss, bevor er als gefeierter Held in die Heimat zurückkehren und sich mit dem Vater versöhnen kann.

Deshalb mein Rat für Martin Schulz oder seinen Nachfolger: Feuert nicht die Berater, sondern heuert welche mit mehr Fantasie an. Frank Castorf zum Beispiel hat ja bekanntermaßen im Augenblick keinen Job. Als Improvisationsgrundlage für die erste Saison wären zum Beispiel Schillers Räuber geeignet: ein Stück, in dem der Konflikt zwischen Vater und Söhnen als Symbol für die Sehnsucht einer Generation nach einer faireren Gesellschaft steht. Die Suche nach mehr sozialer Gerechtigkeit treibt Karl Moor in die Anarchie des Räuberwaldes, er verspielt durch diesen Gang die Zukunft der eigenen Familie: In das bürgerliche Elternhaus, das er hinter sich ließ, kann er nie wieder zurück, ohne es zu zerstören. Trotzdem ist sein Schritt unverzichtbar. „Der Mut wächst mit der Gefahr“, sagt einer seiner Räuberkollegen. „Die Kraft erhebt sich im Drang.“

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