Dichte Fenster
Als am 27. September im Konrad-Adenauer-Haus die Wahlergebnisse für die Union über die Bildschirme liefen, reagierte das CDU-Publikum eher verhalten. Man applaudierte höflich – zu mehr bestand angesichts der Verluste auch kaum ein Anlass. Man hatte es eben, with more than a little help from the FDP-friends, nochmal so gerade eben geschafft: „Wir bleiben Kanzlerin“. Aber als die niederschmetternden Werte der SPD eingeblendet wurden, da jubilierte das ganze weiße Zelt. Dem Jubel war die klammheimliche Erleichterung anzuhören: Das hätte uns um ein Haar auch passieren können.
Hätte es? Was hat die CDU, was die SPD nicht hat? Wie kann es sein, dass die SPD bitter für Arbeitsmarktreformen bluten muss, von denen die CDU profitiert? Wie kann es angehen, fragen sich viele Sozialdemokraten haareraufend, dass eine Frau, die persönlich nie so viel riskiert hat wie Gerhard Schröder mit seinen Hartz-Gesetzen, so unangefochten weitermachen kann, als wäre nie etwas mit Steinbrück und Steinmeier gewesen? Den auf die SPD bezogenen Teil der Antwort müssen andere versuchen. Hier ein paar Überlegungen zur CDU.
Als die heutige Bundeskanzlerin Angela Merkel 1999 den öffentlichen Abschiedsbrief an ihren Ziehvater Helmut Kohl schrieb – ihr größtes persönliches Risiko bislang –, da war mehr oder weniger klar, was man künftig als Partei hinter sich lassen wollte. Aber wohin die Reise gehen würde, das stand in den Sternen. Die CDU „muss laufen lernen“, hatte Merkel damals geschrieben, sich „wie jemand in der Pubertät von zu Hause lösen“, ohne dabei allerdings „ihre Kernüberzeugungen“ aufzugeben.
Damals begann ein Abenteuer mit offenem Ausgang. Keine andere Partei in der Bundesrepublik hat sich – oft unfreiwillig – einer derartigen Generalrevision unterzogen wie die CDU. Aber darin, und das ist das Paradoxon der deutschen Christdemokraten, ist sich keine so treu geblieben wie die Partei Konrad Adenauers.
Als die Überzeugungen laufen lernten
Denn zur CDU gehörte von Anfang an die Bereitschaft, noch die radikalsten Innovationen zur Tradition umzudeuten. Der Slogan „Keine Experimente“ konnte nur notdürftig verdecken, welche enormen Umwälzungen man vorhatte. Von der Westbindung über die soziale Marktwirtschaft bis zur Einführung des Euro hat die Führungsspitze der Christdemokraten an den Wendemarken der Bundesrepublik schon immer von Geschichte oder Leitkultur gesprochen, wenn eigentlich etwas absolut Neues zu bewerkstelligen war.
Es waren gerade die „Kernüberzeugungen“, die das Laufen lernten. So soll es zwar in den Grundsatzprogrammen der vergangenen Jahre noch immer beim staatlichen Schutz von Ehe und Familie bleiben. Aber angesichts einer gesellschaftlichen Wirklichkeit (und einer Parteispitze), in der es immer häufiger Geschiedene, Kinderlose, Singles und Homosexuelle gibt, entdeckt die Partei plötzlich eine atemberaubende Qualität des Zusammenlebens: Auf einmal ist von „Lust auf Familie“ die Rede, wo man früher von der „Keimzelle des Staates“ sprach. Man gesteht zu, dass auch in gleichgeschlechtlichen Partnerschaften „Werte gelebt werden, die grundlegend für unsere Gesellschaft sind“. Entscheidend sei die Verantwortung füreinander.
Seit 2007 ist Deutschland „Integrationsland“
Und weil man auch im neuen Parteiprogramm noch nicht einräumen mochte, dass Deutschland ein Einwanderungsland ist, ist man einfach gleich zur nächsthöheren Stufe übergegangen: Im 2007 verabschiedeten Text heißt es nun, Deutschland sei ein „Integrationsland“. Wo man sich früher über die „Ökospinner“ lustig machte, ist nun mit der größten Selbstverständlichkeit von der „Bewahrung der Schöpfung“ die Rede, als wäre der Klimaschutz von Anfang an in die DNA einer christlichen Partei eingebrannt gewesen, und man hätte im Grunde nie etwas anderes gedacht.
Über diese Wendigkeit könnte man sich lustig machen, aber abendfüllend ist das nicht. Interessanter ist es, die Menschen zu beobachten, die diese Innovationen in Gang setzen: ein als Hardliner geltender Innenminister, der erbittert mit seinem Amt zu fremdeln scheint, bis er plötzlich in einem Prunkschloss des aufgeklärten preußischen Absolutismus eine Islamkonferenz eröffnet, für die es in ganz Europa kein Pendant gibt; die Mutter von sieben Kindern, von Linken als „Magda Goebbels“ und von Konservativen als „Emanze“ tituliert – Ursula von der Leyen hat die neue Familienpolitik der Union schon verkörpert, bevor sie sie „erfand“ (wofür sie auf Vorarbeit der SPD zurückgreifen konnte); oder eine Pastorentochter aus der Uckermark, die gelegentlich lächelnd von sich sagt, auch sie habe „einen Migrationshintergrund“. Auf dem Koordinatenkreuz der westdeutschen Politik – wo alle Akteure irgendwie zwischen 1945 und 1968 standen – war die Kanzlerin der Bundesrepublik einfach nicht einzusortieren.
Mit den Kämpfen um die Vergangenheitsbewältigung, die Studentenbewegung, den Antisemitismus oder die RAF, mit denen man in Westdeutschland Jahrzehnte verbrachte, hatte sie einfach nichts zu tun. Der „Merkelismus“ brachte eine ganz neue Tonart ins Spiel, auch auf internationalem Parkett: einen Pragmatismus, der sich selbst nicht beim Namen zu nennen wagt. Man muss deshalb schon ziemlich genau hinsehen, um zu erkennen, dass dieser Pragmatismus womöglich prinzipienfester ist als Leitkulturen, die bei Bedarf einem persönlichen Ehrbegriff geopfert werden. Auf die Frage, welches Empfinden Deutschland in ihr wecke, antwortete Angela Merkel der Bild-Zeitung einmal: „Ich denke an dichte Fenster! Kein anderes Land kann so dichte und schöne Fenster bauen. Ich denke auch an eine bodenständige und herzhafte Küche. Ich denke an Laubbäume, an Buchen und Eichen. Ich denke an bestimmte Vögel, zum Beispiel an Kraniche, Störche.“
Dichte Fenster! Damit können viele in der CDU gar nicht gut leben. Auch außerhalb der CDU ringen Leitartikler, von denen man bisher gar nicht wusste, wie lieb und teuer ihnen das konservative Element der Unionspolitik ist, sorgenvoll die Hände und können die CDU-Vorsitzende aus dem Osten nicht streng genug darauf hinweisen, was unter ihr alles verloren gegangen ist. Immer wieder heißt es, dem Merkelismus sei der Kernbestand der Christdemokraten geopfert worden. Bis zur Ununterscheidbarkeit sei die CDU an die SPD herangerückt; verschreckt würden sowohl die konservativen als auch die marktliberalen Wähler. Die sichtbarsten Ergebnisse, da jeweils bessere Vorschläge zu machen, waren das Betreuungsgeld für daheim erziehende Eltern und die Forderung nach umfassenden Steuererleichterungen – beides ordnungspolitisch nicht unbedingt bestechende Leistungen.
In Davos sieht man klarer als in Eschborn
Als Angela Merkel noch Kanzlerkandidatin war, ist sie einmal auf den schwäbischen Abgeordneten Georg Brunnhuber zugegangen. „Bin ich konservativ genug für euch da unten im Süden? Wird das gehen?“, hat sie ihn gefragt. Und Brunnhuber, der seit 40 Jahren in der CDU Politik macht, hat ihr geantwortet: „Lass mal. Konservativ sind wir schon allein. Sieh du zu, dass unsere Töchter bei der Stange bleiben.“ Das war der „Deal“, den die Partei mit der Vorsitzenden aus dem Osten damals schloss, als man aus verschiedenen Gründen in Trümmern lag. Merkel hat sich an ihren Teil des stillen Abkommens gehalten – aber die Gegenseite hatte oft nicht die cojones, ebenfalls zu liefern. Welcher der Ministerpräsidenten, die von Merkel regelmäßig mehr konservatives Profil einklagen oder „CDU pur“, wie es der saarländische Ministerpräsident Peter Müller gern nennt, ist selbst damit in einen Wahlkampf gezogen?
Regierungsoberhäupter wie Angela Merkel, Nicolas Sarkozy oder Barack Obama stehen am Ende einer Entwicklung, in der der Konservatismus weltweit zu Boden gegangen ist, während sich die Sozialdemokratie im Großen und Ganzen mit dem Markt ausgesöhnt hat. Es ist nicht ganz einfach, in solcher Lage markante Abgrenzungen vom politischen Gegner zu finden, zumal man auf der internationalen Bühne schon froh sein kann, wenn sich neue Akteure wie China oder Russland auch nur an minimale Spielregeln fairen Handelns und Produzierens halten.
Früher hat Hans Magnus Enzensberger den Politiker immer als jemanden beschrieben, der in einer Blase lebt, nur gefilterte Luft atmet, nur seines gleichen trifft und so weiter. Womöglich ist es heute umgekehrt: Auf den Gipfeln von Davos, Heiligendamm oder Washington sieht man die Lage womöglich klarer als in Eschborn. Wer es vorher nicht gespürt hat, dem hat die Finanzkrise im schwarzen Herbst 2008 klargemacht, wie abhängig wir weltweit davon sind, dass diese Spielregeln gelten. Es gehört zu Merkels wichtigsten Anliegen, ihrer Partei das klarzumachen.
Seit 2005 hat die CDU bei jeder Wahl Stimmen verloren. Regelrechte Erdrutsche waren dabei, wie der von Roland Koch in Hessen oder jener von Peter Müller im Saarland, mit Einbußen von zwölf Prozent – beide sind unerschrocken an der Regierung geblieben. Und trotzdem. Im Juni 2008 hatte die CDU erstmals mehr Mitglieder als die SPD, inzwischen sind es 525.647. Der Anteil der Arbeiter unter den Wählern der CDU ist im Laufe der Jahre stetig angestiegen: Waren es 1998 noch 29 Prozent bei der CDU und 49 Prozent bei der SPD, hat sich der Anteil heute fast völlig nivelliert: 2005 waren es bei beiden Parteien rund ein Drittel.
Offener Wandel? Nicht in der SPD!
Die unionsinternen Unruhen, die Wut auf Angela Merkel – das alles ändert letztlich nichts daran: Die CDU ist unter allen Parteien diejenige mit dem am stärksten ausgeprägten Verantwortungsgefühl für Deutschland. Das liegt auch daran, dass sie sich oft benimmt wie ein träger Monarch, der das Gefühl hat, natürlicher Regent zu sein, und Zeiten in der Opposition nicht einfach für „Mist“ hält, sondern für eine Aberration. Aber es liegt eben auch daran, dass es in der SPD nicht eine einzige Person gibt, die öffentlich und mit dem wohlwollenden Rückhalt der Restpartei eine Wandlung vollzogen hat wie etwa Wolfgang Schäuble. Die SPD hatte immer schon Recht. Die anderen haben ihr immer Unrecht getan.
Es gibt in der SPD niemanden, der den Wandel eines antiquierten Familienbegriffs aus den siebziger Jahren, in dem die Familie letztlich als Last gilt, von der man die Frauen befreien muss, über den Haufen werfen könnte. In der CDU unter Merkel konnte Ursula von der Leyen solch einen Wandel (mit anderer Stoßrichtung) sehr wohl vorantreiben. In der SPD finden Richtungsschwenks hinter verschlossenen Türen statt. Der Vorwurf, unter Merkel sei die CDU erstarrt, ist ein ziemlich dicker Hund, wenn er aus einer Partei kommt, in der sich ein Wahlverlierer mal eben so den Fraktionsvorsitz greifen kann. Die SPD wird keinen Trost darin finden, der CDU nachzuweisen, dass sie eigentlich ebenso am Boden liegen müsste. Sich aus dem Elend zu erlösen, kann sie eben nur selber tun.