Die alten Parteien in der neuen Gesellschaft
In Deutschland gibt es die Neigung, von kleinen Veränderungen revolutionäre Wirkungen zu erwarten, weil man die Revolution selbst bekanntlich scheut. Das macht Enttäuschungen unvermeidlich. Zur Zeit entdecken die deutschen Parteien das Leben und die menschliche Existenz jenseits ihrer Grenzen und Gremien, und sie erwarten Großes. Die Parteien dagegen seien "unfruchtbar, sind nicht fortpflanzungsfähig im Sinne wissenschaftlicher, kultureller Neugierde", sagt Joseph Fischer. "Das müssen andere machen." Aber wer sind diese anderen? Sind es die Kirchen? Ratzinger wird es wohl nicht richten. Oder die evangelischen Akademien, die jedes brennende Thema rundlutschen, bis es durch alle Talk-Shows flutscht? Oder die NGOs, die endlich die Betroffenen, die Bürger bis in jede UNO-Klimakonferenz vordringen lassen? Ach, mag man da - frei nach Churchill - seufzen: die Parteien sind die schlechteste Form der demokratisch-politischen Willensbildung, nur gibt es leider keine bessere.
Nun juckt es also einige Parteimanager, die Neugierde wieder stärker in die Parteien zu holen. Nichtmitglieder, also die übergroße Mehrheit, sollen gewonnen werden und wenigstens für einzelne politische Projekte ihr Know-how und begrenztes Engagement zur Verfügung stellen. Projektförmige Arbeit soll die ermüdenden Geschäftsordnungssitzungen in Ortsvereinen und Stadtverbänden ergänzen, wenn nicht sogar ablösen. Per Internet will man brachliegende Ideen und unentdeckte Diskurse in die Willensbildung einspeisen. Doch was bekommen die Nichtmitglieder dafür? Wohl kaum die Mitgliedschaft, denn die wollen sie ja gar nicht.
Mitsprache und Mitentscheidung? Dann wären sie eigentlich schon Mitglieder. Bleiben Dienstleistungen wie Rhetorikseminare, mundgerechte Informationen oder andere Weiterbildungsmaßnahmen. Die deutschen Parteien sind sich verdächtig einig: Wir wollen uns reformieren. Das wollten sie schon Anfang der neunziger Jahre, als die letzte große Parteienverdrossenheitsdebatte die Funktionäre nass machte, und natürlich in den siebziger und achtziger Jahren war Parteireform immer wieder angesagt. Das ist nicht überraschend. Denn Parteien sind die krisenanfälligsten Organisationen überhaupt. An der Nahtstelle zwischen Staat und Gesellschaft balancieren sie ständig zwischen Verstaatlichung und Vergesellschaftung. Sie müssen den Spagat aushalten und deshalb stehen sie, seit Robert Michels 1911 sein "ehernes Gesetz der Oligarchie" erfand, im Focus der Öffentlichkeit.
Schafft die Anpassung an Trends Mehrheiten
Die eigentliche Zielscheibe hinter diesen Megatrends der Parteireform ist der Wähler, die wichtigste Variante des Nichtmitglieds. Auf ihn kommen in Zukunft die eigentlichen Parteireformen zu. New Labour hat in Großbritannien nicht nur als wahlkämpfende Truppe, sondern auch als Regierungspartei permanent auf Focus-Gruppen und Demoskopie zurückgegriffen. Tony Blair und seine Mitstreiter forschen Wünsche und Orientierungen der Wähler aus und versuchen sie zu Mehrheiten zu bündeln. Aber entstehen Mehrheiten aus der Anpassung an Trends? Manch einer wittert hier - zu Unrecht? - Populismus, sieht die Parteien als konsumforschende Markenartikler. Andere wiederum befinden, dies sei gerade in Deutschland überfällig, viel zu lange schon klüngelten die Parteien als politische Klasse vor sich hin, ohne sich mit den wirklichen Wünschen der Wähler auseinanderzusetzen. Aber warum werden sie dann immer noch gewählt?
Wähler wollen noch immer Orientierung
Sicherlich wählen die Wähler immer häufiger Personen als die hinter ihnen stehenden Parteien. Trotzdem erwarten die meisten von den Parteien immer noch etwas, das sie den Personen so nicht abverlangen: ein Programm, eine Orientierung. Nicht im Sinne einer gesinnungsgetränkten Fibel oder eines durchbuchstabierten Wahlkataloges. Aber im Sinne einer Grundkomposition, einer hörbaren politischen Melodie. Und die lässt sich nicht in Focus-Gruppen arrangieren, auch nicht durch neue Impulse von außen: Die Orientierung wird durch die Parteiorganisationen - hoffentlich - selbst geschaffen und schließlich zur Wahl gestellt.
Diese Funktion erfüllen die deutschen Parteien, aber auch ihre Schwestern anderswo, nicht überzeugend. Dabei gehört sie zum Kernbereich politischer Führung, die man neben der Rekrutierung von Kandidaten für öffentliche Ämter ebenfalls von den Parteien erwarten darf. Der Konservativismus ist seit der Abwahl Helmut Kohls erkennbar in der Krise und gestaltet keine relevanten Debatten. Der Liberalismus reduziert sich in weiten Bereichen auf marktliberale Glaubensbekenntnisse. Die Grünen sind überkreuz mit ihren alten Themen und finden keine neuen. Die Sozialdemokraten schwanken unvermittelt zwischen dem glattgeschliffenen Profil der neuen Mitte und traditionellen sozialdemokratischen Überzeugungen vieler Mitglieder vor Ort.
Die Nebelkerzen der Parteireformer
Parteien sind in Deutschland weiterhin mehr als Wahlvereine. Wohin die Parteireformen die Parteien führen, ist offen. Organisationsreformen sind zunächst nichts als kommunikatives Updating. Dies verraten auch alle Ansätze, die derzeit als Parteireformen diskutiert werden. Im Endeffekt zielen alle darauf ab, die Kraft der Parteiführungen gegen die mittlere Ebene der Funktionäre zu stärken. Das ist in Zeiten neuer Medien, höherer Bildung und Beschleunigung ein allgemeines Erfordernis und liegt nicht unbedingt quer zu den Bedürfnissen der Basis. Entscheidend ist, wofür die Führungen ihre Macht nutzen. Gerade Tony Blair hat mit Mitgliederbefragungen und der Macht der Demoskopie seine innerparteilichen Gegner schachmatt gesetzt. Parteireformen sind Machtprozesse, sie können aber auch die programmatische Funktion von Parteien gefährden, wie gerade Blairs aufbegehrende Partei zuweilen demonstriert.
Mit ihren Nebelkerzen trüben die hauptamtlichen Reformer in Deutschland jedoch den Blick für solche Prozesse. Die sprachlichen Mythen der Parteireform-Diskussion sind Spielzeuge. Jeden Tag wird ein neuer Ball in die Luft geworfen, sei es die "professionalisierte Wählerpartei" oder auch die "Netzwerkpartei". Aber die aktuellen Begriffe helfen nicht wirklich weiter. Das Wort Netzwerk ist so abgegriffen, wie eine alte Türklinke. Wörtlich genommen ist es etwas schön demokratisches. Ein Netz hat keine Hierarchie, kein Zentrum, nur ein paar Knoten und dazwischen einen Strick. Das Internet ist ja so ein tolles Netzwerk, und überhaupt networken nun auch die Frauen, um den old boys networks endlich Paroli bieten zu können. Aber soll es in einer Parteiorganisation keine Vorstände und Strukturen mehr geben? Keine verbindlichen Entscheidungen? Das kann in Wahrheit nicht funktionieren. Was dann bleibt, ist nicht neu. Dasselbe nannten die Jusos vor 30 Jahren Doppelstrategie: In Partei und Gesellschaft gleichzeitig präsent sein. Warum nicht? Solche Begriffe lenken den Blick in den Himmel, anstatt ihn auf die Erde zu richten, weil sie das Problem der politischen Führung und der tatsächlich nicht verzichtbaren Strukturen unsichtbar machen. Die Pointe gesellschaftlicher Wandlungsprozesse besteht ja gerade darin, dass genau diese gesellschaftlichen Entwicklungen die Parteien und ihre Führungen als Brennpunkt von Erwartungen und Interessen umso nötiger machen.
Der Netzwerkbegriff hilft nicht viel weiter
Die Aufgabe ist schwierig zu lösen: Je unübersichtlicher die Wählerlandschaft wird, desto stärker wachsen die strategischen Anforderungen an die Parteiführungen. Die Unübersichtlichkeit der Wählerschaft muss aber nicht die Parteien zwingen, selbst ebenfalls unübersichtlicher zu werden. Es wächst die Abhängigkeit von Stimmungen, Wechselwählern und Medien. Das erfordert eine intensive und breite innerparteiliche Kommunikation. Es müssen viel mehr Impulse in die Parteien eingespeist werden als früher. Für solche Aufgaben braucht es vor allem politische Führung. Da hilft der Netzwerkbegriff nicht weiter. Zusätzlich besteht ein zentrales Dilemma moderner Parteien darin, strategische Handlungsfähigkeit und politische Orientierungskraft mit deutlich verbesserter Kommunikation und Willensbildung in Einklang zu bringen. Es wächst kein Kornfeld auf der Hand: Keine der Volksparteien hat klare und konsistente Reformkonzepte im Gepäck.
Vom grünen Tisch aus betrachtet, scheint es drei verschiedene Reformansätze zu geben: den plebiszitären, den basisdemokratischen und den elitären. Oder als Karikatur: Alle Macht den Wählern, alle Macht den Mitgliedern, alle Macht den Funktionären. In der politischen Wirklichkeit haben die Parteireformer natürlich alle drei Werkzeuge in ihren Kasten gepackt. Das Verhältnis zwischen diesen drei Ansätzen auszutarieren ist die eigentliche Kunst.
Alle Macht den Wählern heißt: Vorwahlen nach dem amerikanischen Muster der Primaries, und Kumulieren und Panaschieren ohne Ende, so dass die Parteien nicht mehr selbst über die Rekrutierung des politischen Personals verfügen können. Klingt gut, aber wer verfügt dann? Der Wähler? Wer ist das? Sind Parteien nicht gerade dazu da, den Wählerwillen zu bündeln und zu helfen, politische Alternativen in Personalvorschlägen zu bündeln? Wenn überhaupt, dann würde für den Wähler auch eine Vorzugsstimme, die er auf einer offenen Liste frei vergeben kann, völlig ausreichen. Kumulieren, Panaschieren und Vorwahlen sind als Vorschläge unausgegoren, denn sie sind nicht kompatibel mit dem Konzept der Mitgliederpartei. Sie würden sie empfindlich schwächen.
Warum überhaupt noch Mitglied werden?
Alle Macht den Mitgliedern der Parteien bedeutet, dass die Funktionäre als Delegierte abdanken müssen. Die Gesamtmitgliedschaft kann in Urwahlen oder Kreisversammlungen über Wahlkreiskandidaten und Themen entscheiden. Das haben die Parteien bereits Anfang der neunziger Jahre versucht, sind aber gescheitert, weil Mitglieder nur dann befragt wurden, wenn es opportun war. Hier liegt ein tatsächliches Reformpotential. Wenn man es konsequent nutzen würde, wäre die klassische repräsentative Parteiendemokratie obsolet. Das zeigte sich schon an dem Konflikt Scharping gegen Lafontaine und wie er auf dem Mannheimer Parteitag mit einem populistischen Coup gelöst wurde. Wenn die Parteien überleben wollen, müssen sie ihren Mitgliedern echte, exklusive Entscheidungsbefugnisse sichern, sie ernst nehmen und mit Kompetenzen ausstatten. Aber wenn Primaries, Kumulieren und Panaschieren die Politik bestimmen, warum soll ich dann überhaupt Mitglied werden?
Widerstände gegen Parteireformen erwachsen aus der Angst vor Machtverlust. Diese Angst befällt vor allem die Funktionäre und Parteifürsten der mittleren Ebene, wie zum Beispiel in den SPD-Bezirken Nordrhein-Westfalens, die zur Disposition gestellt wurden, um die Landesebene schlagkräftiger zu machen und die Ortsebene professioneller auszustatten. Nach und nach lösen sich die einzelnen nordrhein-westfälischen Bezirke selbst auf. Nur der größte SPD-Bezirk Deutschlands, Westliches Westfalen, kämpfte heroisch bis zuletzt gegen die modernisierenden Vandalen, die seine historischen Verdienste missachten. Diesen Widerstand gegen Parteireformen sehen viele in der Partei als bloße Verteidigung personeller und finanzieller Pfründe. Doch dahinter verbirgt sich mehr: Eine Identitätskrise, die aus nicht diskutiertem und unverarbeitetem Wandel von Positionen, also aus mangelnder Orientierung, resultiert.
Die Aktivisten kühlen in der Macht aus
Denn in Wahrheit wird die Erneuerung der SPD als Regierungspartei von vielen innerparteilichen Aktivisten innerlich noch nicht akzeptiert. Sie vermissen den Einsatz für den traditionellen Sozialstaat, die traditionelle Bildungspolitik der siebziger Jahre oder für das Asylrecht - ganz so, als kämpfte man noch in der Opposition. Sie kühlen in der Macht aus. Gerade weil wichtige Veränderungen in Gesellschaft und Politik als Sachzwänge wahrgenommen werden, statt sie in großen Debatten der Volksparteien vorzubereiten und zu begleiten. Parteipolitik erlebt sich so als ohnmächtig. Selbst das, was gestaltbar wäre, wird oft nicht angepackt. Wo sind und bleiben die großen Debatten der großen Parteien, und gerade der SPD, nicht als Teil von Regierungen, sondern als Partei?
Die Themen kann man mit Händen greifen: Mehr private Verantwortung für die soziale Sicherung und/oder neue Verantwortung für privilegierte gesellschaftliche Gruppen, mehr Eigeninitiative der Arbeitslosen statt traditioneller ABM, eine Politik der zweiten Chance, grenzenlose Gentechnik oder neuer Wertekonsens, "nur" eine Reform der Betriebsverfassung oder Steuerung eines globalen Kapitalismus durch Fusionskontrolle, "nur" eine neue Währung für Europa oder verbindliche Standards für Umwelt und Soziales - wo sind die lebendigen Diskussionen über solche Themen in den großen Parteien, die sie stellvertretend für die gesamte Gesellschaft ausfechten können?
Was wir brauchen, sind spannende Debatten
Die organisatorische Parteireform schleift nach Meinung der Kritiker zugleich auch Ecken und Kanten des sozialdemokratischen Erbes ab. Sie befürchten, die Parteiführungen im Land und im Bund könnten den Wagon abhängen, in dem sie fahren und um Inhalte und weltanschauliche Orientierung ringen. Diese Befürchtungen könnte man ihnen nehmen, damit sie ihre Kritik nicht auf dem falschen Feld, nämlich der Organisation, ausleben. Wenn die Parteien ihre Aufgabe ernst nehmen, verständliche Ideen und Orientierungen zur Wahl zu stellen, kommen sie allein mit sicher notwendigen Organisationsreformen und dem Stethoskop der Demoskopie nicht weiter. Sie müssen ihre Flügel schlagen lassen, müssen ihr eigenes Konfliktpotential akzeptieren und zum Programm spitzen.
Neue Grundsatzprogramme zu erarbeiten, ist parteinintern sicherlich eine wichtige Befriedungstaktik. Doch die eigentliche programmatische Funktion liegt darin, ein interessantes parteipolitisches Profil oder auch eine prägnante Facette abzubilden. Was wir also brauchen, ist nicht weniger Parteipolitik. Was wir brauchen, sind bessere Parteien, die mehr wollen als gute Regierungstechnik, die spannende Debatten zu wesentlichen gesellschaftlichen Fragen organisieren können. Das Publikum hätte es verdient.