Die anständige Gesellschaft

Die niederländischen Sozialdemokraten haben ein neues Grundsatzprogramm. Auf zehn Seiten hat die PvdA kompakt zusammengefasst, wie ein modernes Konzept sozialer Demokratie jenseits von Flower Power und Marxismus aussehen kann

Am 29. Januar dieses Jahres vollbrachten die niederländischen Sozialdemokraten unter Führung von Wouter Bos eine Mission Impossible. Was war geschehen? Nach einer Verzögerung von mehr als einem Jahrzehnt gab sich die niederländische Sozialdemokratie endlich ein neues (kompakte zehn Druckseiten umfassendes) Grundsatzprogramm. Alle früheren Versuche waren fehlgeschlagen. Einen vorausgegangenen Entwurf hatte der Parteitag des Jahres 2001 sogar abgelehnt. Lange Zeit war es in den Niederlanden buchstäblich für unmöglich gehalten worden, das alte sozialdemokratische Parteiprogramm aus dem Jahr 1977 zu erneuern und zu modernisieren.

Das Programm von 1977 lässt sich als ein neomarxistisches Flower-Power-Programm beschreiben, aus dem der Geist der sechziger Jahre atmete. Einer seiner Abschnitte betonte sogar die Notwendigkeit, Industrien und Banken zu nationalisieren. Ferner enthielt das Programm konfuse theoretische Begriffe von Freiheit und Gleichheit, viel finsteres Geraune über die bevorstehende ökologische Apokalypse sowie eine Überdosis Feminismus.

Für das alltägliche Leben der niederländischen Sozialdemokraten besaß das Parteiprogramm von 1977 zu keiner Zeit eine nennenswerte Bedeutung – nicht einmal in den siebziger Jahren. In gewisser Weise war es von Anfang an eine Anomalie, ein Fremdkörper in der Geschichte der PvdA. Denn bis in die sechziger Jahre hinein war die niederländische Sozialdemokratie eine eher moderate, reformistische Partei gewesen, zusammen mit den Christdemokraten die stolze Mitbegründerin des niederländischen Nachkriegs-Wohlfahrtsstaates und der parlamentarischen Demokratie. Im Laufe der Jahre nach 1977 war der Partei das eigene radikale Programm (über das die politischen Gegner obendrein Witze rissen) daher selbst immer peinlicher geworden. Doch zugleich schien es unmöglich, das Dokument durch ein neues zu ersetzen. Warum war das so?

Zum einen gab es in der PvdA ständige Diskussionen über die Bedeutung von Grundsatzprogrammen an sich. Das ist eine absonderliche Angewohnheit, welche die niederländischen Sozialdemokraten aus der deutschen Tradition ihrer „Mutterpartei“ SPD übernommen haben. Viele europäische Schwesterparteien tragen nicht so schwer an lastenden Traditionen gewichtiger Grundsatzprogramme. Besonders Politiker mit wenig ausgeprägten ideologischen Neigungen haben verstärkt pragmatische Einwände gegen diese Art von hochgestochenen Texten erhoben.

Konflikte wie in der SPD auch

Zum anderen machten sich gleichzeitig Zweifel in den intellektuellen Zirkeln der Partei breit. Die Debatten über Postmoderne und postideologisches Zeitalter – Fukuyamas „Ende der Geschichte“, Giddens’ und Bobbios Vorstellungen über Politik „jenseits von rechts und links“ waren, um es sehr vorsichtig zu formulieren, wenig geeignet, irgendjemanden zur Wiederaufnahme altmodischer ideologischer Diskussionen zu animieren.

Drittens schließlich bestanden politische Spannungen zwischen verschiedenen Flügeln der Partei: zwischen Sozialliberalen und dem Gewerkschaftsflügel, zwischen Modernisierern und Traditionalisten. Diese besonders in den späten neunziger Jahren virulente Situation war in gewisser Weise vergleichbar mit der späteren Lage innerhalb der SPD, wo ebenfalls ein Patt im Hinblick auf das neue Grundsatzprogramm entstand: Den Traditionalisten stehen die Modernisierer um Sigmar Gabriel und das Netzwerk Berlin gegenüber, die sich in Gerhard Schröders „Neuer Mitte“ positioniert haben.

Ein vierter Grund, der es so aussichtslos erscheinen ließ, das alte Grundsatzprogramm zu überwinden, war der Führungsstil des früheren PvdA-Vorsitzenden und Premierministers Wim Kok. Dieser zog (wie Gerhard Schröder) die programmatische Erneuerung durch Regierungspraxis der Konfrontation mit der Partei vor (wie sie Tony Blair bei der Begründung von New Labour mit Erfolg gesucht hatte).

Dennoch wurde unter dem Parteivorsitz Wim Kok nach langem Hin und Her eine Grundwertekommission eingerichtet. Den Entwurf, den diese Kommission vorlegte, lehnte der Parteitag von 2001 ab. Das ganze Vorhaben scheiterte am fehlenden Interesse der Parteiführung an programmatischen Debatten im Allgemeinen, am komplizierten und intellektuell vagen Charakter des Textes selbst, und auch an der Spaltung innerhalb der Grundsatzprogrammkommission zwischen sozialliberalen und traditionelleren Sozialdemokraten.

Seitdem haben sich zwei entscheidende Dinge ereignet: das Wahldesaster der PvdA unter Führung von Ad Melkert, ausgelöst durch die Bürgerrevolte der Pim-Fortuyn-Bewegung von 2002 sowie das elektorale Comeback der PvdA unter ihrem neu gewählten Parteiführer Wouter Bos.

So unternahmen Wouter Bos und PvdA-Organisationschef Ruud Koole einen weiteren und finalen Versuch, die Grundwerte der Partei neu und anders zu formulieren. Gemeinsam übernahmen sie den Vorsitz einer neuen Programkommission, und es gelang ihnen, einen Entwurf erfolgreich durch den Hindernisparcours der Parteibasis zu steuern. Dabei half ihnen die neu erwachte Ernsthaftigkeit der Nach-Fortuyn-Ära.

Das Grundgefühl der Unsicherheit

Für die PvdA ist das neue Programm wichtig. Indem es der Partei hilft, die Verbindung zu ihrer eigenen Vergangenheit und ihren historischen Transformationen wiederherzustellen, prägt es eine neue Selbstwahrnehmung der PvdA. Die beiden zentralen Leistungen des neuen Parteimanifests sind:

Erstens bedeutet das neue Grundsatzprogramm eine Art Normalisierung angesichts der Prinzipien, die im alten Programm aus den siebziger Jahren formuliert wurden.

Zweitens spiegelt das neue Programm die Erfahrungen der Partei während ihrer Regierungsjahre der jüngeren Zeit wider. Die lila Koalition aus Liberalen und Sozialdemokraten bedeutete den Höhepunkt des kompromissorientierten niederländischen Poldermodells – eines Modells, das mit ungeheurem Kater und dem Bürgeraufstand der Fortuyn-Bewegung ruhmlos zu Ende ging. Der neue Text bedeutet eine Selbstkorrektur der PvdA im Hinblick auf ihren allzu technokratischen Regierungsstil in der Zeit von Wim Koks lila Koalition und auf die materialistische Fixierung der sozial-liberalen Koalitionen. Diese Koalitionen schienen die wachsenden Spannungen innerhalb der multikulturellen Gesellschaft nicht wahrzunehmen. Aus Sicht der Wählerschaft war das zunehmende Grundgefühl der Unsicherheit aber oft wichtiger als der Zustand der Wirtschaft.

Insgesamt könnte man sagen, dass das neue Programm eine Mischung aus Modernisierung und Tradition herstellt. Es mag sein, dass Wouter Bos das fehlende Verbindungsstück zwischen Tony Blairs New Labour und Gerhard Schröders SPD ist. Die folgenden Punkte geben einen kurzen Überblick über einige der Leitlinien des neuen Programms:

• Eindringlich hervorgehoben wird im Text die Konzeption des Rechts auf ein „anständiges Leben“ im Sinne von Avishai Margalit.* Für manche Traditionalisten riecht dieser Diskurs des Anstands zu sehr nach Christdemokratie, doch wird hier eine starke und eindeutige sozialmoralische Haltung eingenommen, die sich in Wirklichkeit weit eher als radikal deuten lässt: Jeder Bürger hat das Recht auf ein anständiges Leben, auf volle Partizipation in der Gesellschaft, sowohl in wirtschaftlicher wie in politischer Hinsicht. Dies lässt sich als harter Mindeststandard gegen die weitere Amerikanisierung europäischer Gesellschaften verstehen und zugleich als Mittel zur Inklusion und sozialen Integration von Einwanderern.

• Das Programm enthält im Sinne des britischen Dritten Weges das blairistische Bekenntnis zu starker Marktwirtschaft und starkem Unternehmertum. „Die sozialdemokratische Methode basiert auf einer starken Wirtschaft und einem vitalen Markt“, heißt es im Programm. Um dies zu erreichen, plädiert der Text für einen „zivilisierten“ und „gebändigten“ Kapitalismus: Das ist das Konzept einer modernisierten sozialen Marktwirtschaft in Europa.

Das Recht auf ein anständiges Leben

• Das Programm bekennt sich zum empowerment, zur „Ermächtigung“ der Menschen und lehnt paternalistisch-technokratische staatliche Bürokratien ab. Heute kommt es darauf an, die Menschen mit maximalen Fähigkeiten und Fertigkeiten auszustatten, damit sie sich in der wissensintensiven globalen Wirtschaft behaupten können: „Wir befürworten die Umverteilung von Chancen und Ressourcen, um ein möglichst ebenes Spielfeld zu schaffen; wir stehen für Solidarität, um allen die Möglichkeit zu geben, ein anständiges Leben zu leben.“ Das Programm bekräftigt dies nochmals, indem es erklärt: „Freiheit ist keine Belohnung, sondern ein Recht.“

• Das Programm spricht sich gegen übermäßige Spitzengehälter, gegen eine Kultur der Selbstbereicherung neuer Kultur- und Wirtschaftseliten sowie gegen unverhältnismäßige Einkommensungleichheit aus. Dies sind Phänomene, die das sozialmoralische Gewebe der Gesellschaft bedrohen.

Subsidiarität und Dezentralisierung

• Das Programm plädiert für die Dezentralisierung der Politik – sowohl in Europa wie in der nationalen Politik. Die PvdA sollte demnach „europakritischer“ sein und die Rückübertragung von Kompetenzen an die Nationalstaaten anstreben. Die niederländische Sozialdemokratie bekennt sich zum europäischen Kulturideal, das nationale Vielfalt fördert und respektiert, aber zugleich gegen aggressiven Nationalismus eintritt. Friedliche Zusammenarbeit ist hierfür immer wesentlich gewesen. Europa sollte sich entschlossen und demokratisch weiterentwickeln. Ein entschlossenes Europa erfordert die Anerkennung von Mehrheitsentscheidungen und Flexibilität hinsichtlich der Methoden, nach denen es gemeinsam voranschreiten will. Ein demokratisches Europa braucht starke nationale Parlamente und ein starkes Europäisches Parlament. Es erfordert die Investition in Wissen und den öffentlichen Diskurs über Europa. Die Beseitigung von Handelsschranken innerhalb Europas hat beträchtlich zum Wachstum des Wohlstands beigetragen. Hinsichtlich der Frage, ob mehr oder weniger Integration richtig sei, sollten das Prinzip der Subsidiarität und das öffentliche Interesse den Ausschlag geben. Auf mehreren Gebieten folgt hieraus ein Plädoyer für verstärkte Integration: beispielsweise in der Außen- und Sicherheitspolitik, der Bekämpfung von Kriminalität und Terrorismus. Intensiviert werden sollten auch die Anstrengungen, größere politische und militärische Übereinstimmung Europas innerhalb der atlantischen Allianz zu verwirklichen. Auf anderen Gebieten hingegen folgt aus den genannten Punkten umgekehrt die Argumentation für weniger Integration: Das Fortschreiten des einheitlichen europäischen Marktes droht die Fähigkeit von Staaten und Parlamenten unnötig einzuschränken, die Beziehungen zwischen Staat und Märkten zu regeln. Das ist bei denjenigen Themen nicht wünschenswert, bei denen wichtige öffentliche Interessen wie Bildung, Gesundheit und soziale Sicherheit auf dem Spiel stehen.

• Das Programm plädiert für Konzepte des community building und der Bildung von sozialem Kapital. Das bedeutet, dass eine starke Bürgergesellschaft und beispielsweise Formen ehrenamtlicher Organisation unterstützt werden müssen. Ebenfalls befürwortet das Programm eine möglichst entspannte und unangestrengte Gesellschaft ohne hyperindividualistische Züge. Die soziale Demokratie kann den Begriffen des sozialen Zusammenhalts und der öffentlichen Moral Inhalt verleihen, ohne dabei paternalistisch zu agieren.

Als die Kommission die Arbeit aufnahm, erklärte Wouter Bos, dass ein gut formuliertes und gründliches Grundsatzprogramm zum erneuerten Kern der sozialdemokratischen Prinzipien werden könne. Hieraus würden sich dann zukünftig Wahlprogramme und politische Entscheidungen entwickeln lassen. Mit der Verabschiedung ihres neuen Programms hat die PvdA gezeigt, dass sie nunmehr eine wirklich modernisierte Partei ist. Weil die niederländische Sozialdemokratie ihre Schlüsse aus den Erfahrungen der Vergangenheit gezogen hat, kann sie den in zwei Jahren bevorstehenden Wahlen zuversichtlich entgegensehen.

Aus dem Englischen von Tobias Dürr

Der Text des neuen Programms der PvdA kann auf Niederländisch und demnächst auch in englischer Übersetzung unter www.pvda.nl heruntergeladen werden. Die Berliner Republik dankt dem Policy Network (London) für die Erlaubnis zum Druck dieses Textes.

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