Die Asymmetrie der Chancen

Ein knappes Jahr vor den Bundestagswahlen stehen die Unionsparteien richtungslos und ohne Thema am Rande. Die große Mehrheit der Wähler setzt auf Sicherheit und Mitte, den Kanzler und die SPD

Einer Umfrage von Emnid zufolge erwartete im Frühherbst 2001 eine Mehrheit von 60 Prozent der Wähler, die SPD werde die Bundestagswahlen 2002 gewinnen. Darunter waren auch mehr als ein Viertel der Anhänger der Unionsparteien. Nur 11 Prozent der Wirtschaftseliten konnten sich Mitte September 2001 einen Wechsel an der Regierungsspitze vorstellen. Fast 85 Prozent der im Business Monitor repräsentativ befragten Führungskräfte nahmen an, dass Gerhard Schröder Kanzler bleiben wird - wobei sie ihn zu je gleichen Teilen als Vormann einer rot-grünen oder rot-gelben Koalition sahen.

Das sind für diesen Zeitpunkt, knapp ein Jahr vor der Wahl, hervorragende Daten für die größere der beiden Regierungsparteien. Sie werden durch die Erkenntnisse anderer Meinungsumfragen gestützt. In besonderer Weise gilt das für die regelmäßige Kanzler-Frage. Selten war ein Bundeskanzler über Parteigrenzen hinweg so angesehen. Zwar fällt die Zufriedenheit mit der Regierung - so Infratest und Forsa - im Augenblick recht gedämpft aus. Wichtiger aber ist, dass mehr als zwei Drittel unzufrieden sind mit dem Angebot der Union. Unabhängig von der Notierung bei wöchentlichen Umfragedaten steckt die Union in einem Trilemma aus Profilschwäche, Führungskrise und Randposition im Parteienspektrum.

Die Bedingungen der Mediendemokratie erfordern ein Gesicht (Personifizierung), ein Etikett (Botschaften), ein Aroma (Stilistik) und als wichtigsten Faktor einen Markenkern (Leitbilder). Die Unionsspitzen reden zwar beständig davon, dass Wahlen in der Mitte gewonnen werden - sie wissen aber nicht, wie sie diese Mitte gewinnen sollen. Klar ist allenfalls: "Wechselwähler werden nicht angezogen von den Themen, die in der Union die eigenen Reihen schließen" (Allensbach, Sommer 2001). Die Union hat kein neues Leitbild. Sie hat kein Thema, das der SPD die politische Macht ernsthaft streitig machen könnte.

Zustände wie im deutschen Fußball

Die SPD hat manches "enteignet" und lässt durch Personen, Verfahren und Positionen der CDU wenig Raum zum Aufbau klarer Alternativen. Das kleine politische Wunder, das Gerhard Schröder (gemeinsam mit Joseph Fischer) in drei Jahren vollbracht hat, besteht darin, dass er qua Regierungskurs jene beiden Parteien in die Mitte gesteuert hat, deren ideologischer Überschuss notorisch war. Kommentare, die Stil und Richtung dieser Politik hartnäckig weiterhin als etwas der SPD eigentlich Fremdes auffassen, zeugen von Unkenntnis der Partei. Gewiss, es gibt Unbehagen, es gibt Kritik. Aber ein Zurück in die sozialdemokratische Wagenburg gibt es nicht.

Von der Steuerreform bis Mazedonien - seit 1999 geht es in der Union ungefähr so zu wie im deutschen Fußball. Die CDU hat in der Bewertung der Medien eine autoritätsarme Vorsitzende, einen überforderten Generalsekretär und eine unauffällige Parteizentrale. Die einflussreichen Personen - neben den beiden Vorsitzenden auch Jürgen Rüttgers, Roland Koch, Volker Rühe und Christian Wulff - handeln nicht miteinander, sondern in durchsichtigem Eigeninteresse gegeneinander. Ein steuerndes strategisches Zentrum, das schon im Wahlkampf 1997/98 fehlte, ist nicht neu entstanden. Elitenversagen kann man das wohl nennen. Sämtliche dieser negativen Faktoren gab es schon in den neunziger Jahren zu besichtigen - bei der SPD. Und mit fatalen Folgen für deren Wahlergebnisse.

Wenn eine Partei scheitert, scheitert sie immer auch an sich selbst. Ein Duo Merkel/Stoiber hätte eine Idealbesetzung werden können. Der Wirtschaftsmann Stoiber galt als das "optimale Angebot an das eigene Lager" (Emnid, Juli 2001), Merkel dagegen ist - so Emnid - eine Kandidatin für die Wechselwähler. Doch die Chancen dieser Doppelspitze weiß die Union offenkundig nicht zu nutzen. Ein konstruktiver Dualismus mit Spannungseffekt à la SPD 1997 gelingt ihr nicht. Wahlentscheidende Zuweisungen von Kompetenz lassen sich nicht kurzfristig herstellen. Die Zeit läuft der Union davon. Denn was zum bevorstehenden Jahreswechsel nicht steht, kann sie aus eigener Kraft nicht mehr leisten.

Einige Unionsanhänger finden Merkel gut

Im direkten Vergleich setzen im Oktober 2001 rund 60 Prozent der Unionsanhänger auf Edmund Stoiber. Keine 20 Prozent sind es mehr, die Angela Merkel bevorzugen (Forschungsgruppe Wahlen). Und beide Kandidaten schwächeln, wenn der Amtsinhaber zum Vergleich steht. Ein freiwilliger Verzicht wäre für Angela Merkel das Ende ihrer Karriere. Ein erzwungener Verzicht dagegen wäre angesichts der fortgeschrittenen Zeit im Hinblick auf die Wählerreaktion unkalkulierbar. In beiden Unionsparteien geht es derzeit um mentale Schadensbegrenzung.

Die Union wird, mangels eigener Kraft, im Wahlkampf auf diejenigen Themen setzen, bei denen der Regierung Schwäche zugeschrieben wird. Die konjunkturelle Flaute, die Arbeitslosigkeit, die Gesundheitskosten und Euro-Ängste - das alles bildet potentielle Zutaten für ein oppositionelles Szenario. Doch nicht viel davon hat unmittelbar mit der Regierungspolitik zu tun. Auch mit Abstand betrachtet ist beeindruckend, in welchem Maße die rot-grüne Regierungsmehrheit in drei Jahren den Stillstand aufgelöst und konstruktiv bewältigt hat. Zu ihren Leistungen zählen die Konsolidierung des Haushalts, der Länderfinanzausgleich, der Solidarpakt Ost bis 2020, der Systemwechsel bei der Rente, der Atomausstieg im Konsens, die wirtschaftsankurbelnde Steuerreform, der Realismus bei Staatsbürgerschaft und Zuwanderung, die Fairness bei unterschiedlichen Lebenspartnerschaften, die bessere Familienförderung, die erhöhten Mittel für Hochschulen und Forschung, der Verbraucherschutz und die Entschädigung für Zwangsarbeiter.

Eine diffuse Stimmung hat sich breit gemacht

Das Bündnis für Arbeit hat nach öffentlichen Voten beider Tarifpartner weiter eine hohe Bedeutung. So plädieren rund zwei Drittel der Führungskräfte nachdrücklich dafür, das Bündnis fortzusetzen. Laut Business Monitor von September 2001 sind es somit genau so viele wie 1998. Von großer Bedeutung wird sein, ob die Absprachen im Bündnis ein Klima schaffen, dass vernünftige Tarifabschlüsse im Frühjahr 2002 ermöglicht.

Das 1998 angekündigte Reformprogramm ist weitgehend erfüllt. Manche Wohltaten sind verteilt worden, Ungerechtigkeiten wurden beseitigt, Unmodernes wurde korrigiert. Doch Menschen sind Menschen. Wie der Wähler nun einmal beschaffen ist, nimmt er das, was gelang, bald als gegeben hin und vergisst schnell, was zu Zeiten der CDU/FDP-Regierung einmal schlechter war. Umso mehr schmerzt ihn, was nicht wie erwartet eintraf. Eine diffuse Stimmung hat sich im Wahlvolk breitgemacht. Freilich sah sich noch fast jede Bundesregierung zu Beginn des letzten Jahres der Wahlperiode mit ähnlichen Stimmungen konfrontiert. Üblicherweise stand allerdings die Opposition zu diesem Zeitpunkt deutlich besser da.

Ein plausibles Szenario betont folgerichtig die Unwahrscheinlichkeit, dass die Union statt der SPD mit der Bildung der Regierung beauftragt wird. Tatsächlich ist politische Opposition - im historischen Längsschnitt betrachtet - in Deutschland ziemlich chancenlos. Sieht man sich die Regierungswechsel im Bund an, zeigt sich bei den sieben Kanzlern in der fünfzigjährigen Geschichte der Republik eine einzige Ausnahme. Nur 1998 kam es zum kompletten Machtwechsel nach 16 Jahren. Als Faustregel gilt: Nicht die Opposition wird gewählt, sondern Regierungen werden abgewählt - und dafür gibt es beim gegenwärtigen Stand der Dinge keinen wirklichen Grund. Eine Studie der Adenauer-Stiftung vom August 2001 führt aus, dass die Situation vom Wähler bei weitem nicht so belastet eingeschätzt wird wie zwischen 1996 und 1998. Eine Wechselstimmung ist im Herbst 2001 nirgendwo erkennbar.

Die Mitgliederpartei wird wieder wichtiger

Die SPD weiß aber, dass noch einiges getan werden muss, ungeachtet der Asymmetrie in der Verteilung der Chancen. In den frühen neunziger Jahren sprachen Wahlforscher von einer neuen Beweglichkeit der Wähler. Heute lässt sich mit einiger Berechtigung eine zugespitzte Kennzeichnung aus der kommerziellen Marktforschung verwenden, die von "hybriden Konsumenten" spricht. Der Wahlerfolg der Schill-Partei in Hamburg gehört in diesen Kontext. Deutlich ist die feste Wählerschaft aller Parteien geschmolzen. Als harter Kern des sozialdemokratischen Potenzials gelten - nach Studien der SPD - noch 13 Prozent (Union: 12 Prozent). Als Randwähler werden 12 Prozent gezählt (Union: 11 Prozent).

Die Adenauer-Stiftung präsentierte im August dieses Jahres ähnliche Daten zur Unbestimmtheit der Wähler. Es gibt einen bescheidenen Grundstock, mehr nicht. Noch nie haben so wenige Wähler gesagt, sie würden "ganz sicher" zur nächsten Bundestagswahl gehen. Der Rest muss auf weiter Flur eingesammelt werden. Die SPD hat seit den Wahlen des Jahres 1999 mit einer spezifischen Wahlabstinenz zu kämpfen. Durch politische Regelungen, mehr noch durch den sie begleitenden Jargon war ein Teil der Anhänger spürbar irritiert. Auch deshalb wird die Mitgliederpartei diesmal im Wahlkampf wichtiger sein als 1998.

Sofern es wieder bessere ökonomische Daten gibt, Mitte 2002, wird die Stimmung weiter zu Gunsten der Koalitionsparteien ausschlagen. Schon ein leichtes Plus beim Wachstum und ein leichtes Minus bei den Arbeitslosenzahlen werden dann das Meinungsklima verändern. Eine zugespitzte Personalisierung ist im Wahljahr 2002 so ziemlich das letzte, was die SPD zu fürchten hat. Gerhard Schröder verkörpert in einer Person drei politische Wesen zugleich - und diese Leistung ist auch seine vielleicht wichtigste Botschaft: Er ist der Bundeskanzler, der führt. Er ist der sozialdemokratische Parteichef. Und er ist "Volkes Stimme."

Was wichtig ist oder werden soll, das nimmt der Kanzler demonstrativ in die Hand. "Chefsa-che" lautet seine bekannte Antwort auf die Ereignisdemokratie. Ein Bedürfnis nach politischer Führung ist in der Bevölkerung vorhanden. Die Formel von der "ruhigen Hand" wird symbolische Politik - Beispiel VW - genauso wenig behindern wie reale Politik, zum Beispiel im Fall des Job-Aktiv-Gesetzes. Dem "Medienkanzler" arbeitet ein gut abgestimmtes politisches Management zu. Sowohl die Koalitionsparteien untereinander als auch die SPD (mit Abstrichen ebenfalls die Grünen) weisen hier im Augenblick keine durchschlagenden Defizite auf. Das ist von hoher Bedeutung, weil für die Wähler Geschlossenheit und Handlungsfähigkeit eng zusammenhängen.

Das große Thema heißt Sicherheit

Die Masse der Wähler und Wählerinnen wird 2002 anhand der Fragen entscheiden, ob es ihnen einigermaßen gut geht und ob Reformen gewagt werden, ohne dass Veränderungen überstürzt werden. In der Vorbereitung des Parteitages im November hat die SPD dieser Stimmung mit der Formulierung "Sicherheit im Wandel" gerecht zu werden versucht. Wandel ist ein sanftes Wort für Veränderung. Der Wunsch nach Sicherheit existiert in allen Schichten und Milieus, bei den offenkundigen Gewinnern des Wandels wie bei seinen mutmaßlichen Verlierern.

Die fragile Achtundneunziger-Allianz von Neue-Mitte-Wählern, die mehr Bewegung wollen, und verunsicherten Stammwählern, die zu viel Bewegung fürchten, soll auf diese Weise ein weiteres mal zusammengeführt werden. Schon im Frühjahr 2001 haben die Untergliederungen der SPD auch die Entwürfe für die übrigen Leitanträge des Parteivorstandes erhalten. Das verschaffte Zeit für eine intensive Diskussion und die Mitnahme der Partei. Weitere gesellschaftspolitische Schwerpunkte des Parteitags besetzen das Terrain Zukunft: Europa, Familie sowie Jugend und Bildung.

Starkes Quartett, schwache Union

In Reden und Interviews hat Gerhard Schröder im Sommer 2001 zentrale Argumente dargelegt. In-dem er an der Haushaltskonsolidierung festhält, spricht er die Sparsamen an. Das Versprechen, "keine amerikanischen Verhältnisse auf dem Arbeitsmarkt" einreißen zu lassen, richtet er an die, die um ihre soziale Sicherheit fürchten. Der soziale Zusammenhalt wird ein zentrales Kanzlerthema im Wahljahr 2002. Gerhard Schröder wählt eine Botschaft, die mehr ist als "Auf den Kanzler kommt es an" - so sehr es auf ihn auch ankommt. "Der Ausgleich zwischen Modernität und sozialer Verantwortung, das ist das Markenzeichen unserer Politik", sagt Schröder.

Fragen der inneren und äußeren Sicherheit haben nach den Anschlägen in Amerika am 11. September eine neue Bedeutung bekommen. Die politische Kommunikation und sachliche Steuerung bewährten sich in den Augen der Bevölkerung in einer ersten Phase extremer Belastung. Gerhard Schröder gab dem Land, was es brauchte: Sichere Führung ohne Pathos. Es war das Privileg der Regierung, dass sie in den Krisentagen im Zentrum des Handelns und der Kommunikation stand. Neben Gerhard Schröder waren es Joseph Fischer, Otto Schily und Hans Eichel. Der direkte Vergleich mit diesem starken Quartett offenbarte auf brutale Weise die große Schwäche der Unionsparteien.

Die SPD - von möglichen Partnern umstellt

Der "Vertrauensfaktor", den Demoskopen für entscheidend halten, kommt über den Kanzler der SPD zugute. Es geht um die Frage, wem es die Wähler zutrauen, mit den Problemen fertig zu werden und dem Land Perspektiven zu geben. Der Bundeskanzler wird im Wahljahr nicht nur als Sympathieträger im Vordergrund stehen, sondern auch als Politiker, der für längerfristige Ziele steht und sie energisch durchsetzt. Seine Botschaft lautet: "Es hat sich vieles seit 1998 zum Besseren entwickelt." Die Sozialdemokraten werden im Wahlkampf "Antworten ... geben, nämlich was diese Regierung 2002 bis 2006 machen will" (Gerhard Schröder).

Die SPD ist im Unterschied zur Union umstellt von möglichen Partnern. Wenn es eine Kennziffer gibt, die den Erfolg des sozialdemokratischen Projekts anschaulich macht, die Mitte zu reklamieren, dann ist es die Zahl vier: Sie bezeichnet die Koalitionsoptionen der SPD. Die Wahlen in Berlin haben diese komfortable Situation noch einmal anschaulich illustriert. Ungeachtet dessen gibt es eine durch Gerhard Schröder und Franz Müntefering bekräftigte Koalitionspräferenz. Der Eindruck von Beliebigkeit wird so vermieden, die eindeutigen Wünsche der sozialdemokratischen Parteimitglieder werden in Rechnung gestellt.

Im Jahr 1998 passte für die SPD alles zusammen: Personen und Programm, Stimmung und Inszenierung. Es gelang der SPD, die Wähler anzusprechen und festzuhalten. Die Konstellation vor er kommenden Bundestagswahl bietet gute Voraussetzungen dafür, dass dies auch 2002 wieder gelingen wird. Wie 1998 kann die SPD aus eigener Kraft gewinnen.

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