Die Überlebenden von Mitte
Marianne und Siegfried Worm betreiben ihre kleine Kneipe seit Anfang der achtziger Jahre. Alles dort hat die Wende überlebt: die Holzimitat-Tapete, der Putzmittelgeruch auf dem Klo und die Menschen am Tresen. Ihre Getränke ordert Marianne Worm am liebsten aus ostdeutschen Landen. Auch "Kauli" gehört dazu, ein Kräuterlikör aus Kaulsdorf. Er ist hier der Renner. Marianne und Siegfried genehmigen sich auch gerne mal einen "Um 14 Uhr machen wir den Laden auf. Das ist garantiert", sagt Frau Worm. Und bis zwei Uhr ist das Pilsener Stüb′l mindestens offen. Meistens länger.
Die Stammgäste sitzen gemütlich am runden Tisch vor der Theke. Sie dürfen dort auch mindestens einmal im Monat um diverse Preise Skat kloppen. Selbst Silvester verbringen die Gastwirte gemeinsam mit ihrer Nachbarschaft. "Bislang immer ohne Drama. Wir wissen eben, wer da kommt." Im hinteren Teil des Lokales liegt ein Dart-Raum. Der ist immer besetzt - man trainiert. Deshalb schmücken unzählige Pokale die kleine Kneipe. "Manche wollen die eben nicht mitnehmen", klärt Marianne Worm über den Stolz echter Profis auf. Die Dart-Spieler tapern nur ab und zu nach vorne an die Theke. Da ordern sie noch ein Herrengedeck - oder eben einen Kauli, pur.
Die 0,2 Liter Bier kosten hier noch 1,60 Mark. Ein ehrlicher Preis, obschon mittlerweile auch hier in Westmark zu begleichen. Im Hintergrund animiert eine gerahmte Headline der Bildzeitung: "Wer Bier trinkt, lebt länger." Nicht ganz. "Viele sind seit der Wende auf der Strecke geblieben", sagt Marianne. "Manche von denen, die noch leben, sind heute froh, wenn sie sich noch ein Bier am Kiosk leisten können."
Napoleon saß auf dem Kachelofen
Für die, die den Weg ins Stüb′l noch finden, kochen Marianne und Siegfried Worm "deutsche Küche nach Hausmacher Art". Meistens jedenfalls. Nur die Sol-Eier, die sind gekauft. Eine Soljanka, Schweinebraten oder eine "Currywurst mit Salat" bekommt der hungrige Gast auch noch um kurz vor zwei. Natürlich nur, wenn er nett fragt. Rheinländer sind im Vorteil: "Die sprechen so lustig - ick mag det", sagt Marianne Worm.
Jacques Chirac hat das Pilsner Stüb′l noch nicht betreten. Aber dafür war der schon in Berlins "ältester Gaststätte". Zur letzten Instanz heißt die, und liegt versteckt nahe dem ehemaligen DDR-Vorzeigestadtteil Nikolaiviertel. Laut Speisekarte existiert die Gaststätte seit 1621 - und erlebte seither mehrere Systemwechsel. Ein ehemaliger Reitknecht des Kurfürsten soll sie als Branntweinstube eröffnet haben, später wurde sie zum "Biedermeierstübchen" - und das ist sie im Grunde heute noch. Napoleon soll hier auf dem "200 Jahre alten Majolika-Kachelofen" gesessen haben, späterHeinrich Zille und Maxim Gorki. Entsprechend hochklassig sind die Preise.
In der Letzten Instanz kehrt man vor allem wegen des Eisbeins ein, das hier verspielt "Gerichtsschreiber-Eisbein" heißt und 22 Mark kostet. Zu DDR-Zeiten, sagt Peter, der "Ersatzwirt", habe man noch eine "Rezeptur erstellt", das Eisbein gewogen und nach Gramm abgerechnet. Irgendwie sei das ehrlicher gewesen, auch wenn damals Quantität statt Qualität im Vordergrund gestanden habe. Doch diese Quantität sei "mindestens einmal die Woche durch Arbeiter-und-Bauern-Inspektio-nen geprüft" worden. 1985 sei der ganze Laden dann renoviert worden, "Pressspahn-wände raus und so", sagt Peter. "Der Ober konnte eine Fremdsprache, es gab Stoffservietten und die Alu-Bestecke wurden abgeschafft." Zu dieser Zeit muss es gewesen sein, dass Egon Krenz einmal "mit 40 Wagen" vorgefahren sei. Die hätten auch einen Laborwagen mitgebracht und die Speisen getestet. Heute gibt es wieder Papier-servietten, und in Berlins ältester Kneipe verkehren eher Reisegruppen.
Auch das Alt Berlin - Bei Inge und Klaus ist auf den ersten Blick keine Kneipe, in die wir einfach mal so einkehren würden. Klein und unscheinbar liegt es abseits der hippen Mitte-Kneipen. Ist die Schwellenangst überschritten, erwarten den Gast drei komplett mit Eichenholz vertäftelte Räume. Die Legende weiß, dass die ursprünglichen Besitzer kurz nach dem Krieg das Holz aus der alten Reichskanzlei abtransportiert und hier eingebaut haben.
Die Holzvertäfelung aus der Reichskanzlei
Kommt man am frühen Abend sitzen an der Theke Menschen, die schon vor 30 Jahren zum Inventar gehörten. Je später es wird, desto jünger die Gäste. Ein zweite Legende besagt, dass auch Bert Brecht von der dunklen Spelunke angezogen war. Gegenüber vom Eingang steht ein alter Theaterhocker, auf dem er gesessen haben soll. Die Frage nach Cocktails oder Milchkaffee wird mit einem Lächeln quittiert. Es gibt Bier (den halben Liter zu6 Mark) oder Schnaps. Inzwischen auch Rotwein. Auch die Snacks bleiben Berlin-typisch, übersichtlich und gut. Bouletten zu 5 Mark, Schmalzstullen, Gurken oder Knacker. Das Sol-Ei zu 2 Mark 50 ist ungeschlagen und wird stilecht mit Essig, Öl und Senf serviert.
Die junge Thekencrew begrüßt Unbekannte freundlich, steht aber der Veröffentlichung der Adresse des Alt-Berlin skeptisch gegenüber: Zu viele fremde Gesichter auf einmal könnten die Stammgäste verstören. Singles versammeln sich stehend im vorderen Thekenraum, hinten treffen sich kleinere Gruppen. Wer auf dem Pissoir Frauen trifft, weiß warum: Hier hängt der Zigarettenautomat. Und manchmal wird im Durchgang musiziert. Dann wird es eng.
Weitere Kneipen aus der alten Zeit? "Da gibt es hier nichts mehr", sagt man uns. Doch noch muss unser geld in Mitte nicht verschimmeln.
ALT BERLIN - BEI INGLE UND KLAUS - Kneipe - täglich ab 19.00 Uhr
PILSNER STÜB´L - Gaststätte - Rosenthaler Straße 23, 10119 Berlin, Telefon 282 91 33, täglich von 14 bis 2 Uhr (Sonntags hin und wieder geschlossen)
ZUR LETZTEN INSTANZ - Waisenstraße 14-16, 10179 Berlin, Telefon 2452 55 28, www.gourmetguide.com, Mo.-Sa. 12 bis 1 Uhr, So. 12 bis 23 Uhr