Die Chance der Krise
Um den gegenwärtigen Zustrom von Flüchtlingen nach Deutschland und Europa zu analysieren, müssen wir zunächst zwischen Ursache und Anlass unterscheiden. Der Anlass liegt im syrischen Bürgerkrieg, vor dem bisher mehr als vier Millionen Menschen in die Nachbarländer Türkei und Jordanien sowie nach Ägypten geflohen sind. Der damit verbundene Druck stieg in diesem Jahr durch zwei Faktoren weiter an: Zum einen ist im vierten Jahr des Bürgerkriegs noch immer keine baldige Lösung in Sicht. Dies hat die Verzweiflung und damit auch die Bereitschaft der Menschen gesteigert, den Weg nach Europa anzutreten. Zum anderen haben sich die Zustände im Zufluchtsland Türkei drastisch verschlechtert, vor allem aufgrund des drohenden türkisch-kurdischen Bürgerkriegs.
Die Ursache für die europäische Krise in der Flüchtlingsfrage liegt hingegen tiefer. Man findet sie in einer Migrationspolitik, die auf Abschreckung und Grenzsicherung setzt. Das Scheitern dieser Politik war schon vor dem Einsetzen des Flüchtlingsstroms aus Syrien deutlich geworden. Trotz der gigantischen finanziellen Mittel, die in die Überwachung und Sicherung der EU-Außengrenze gesteckt wurden, kamen Menschen aus Afrika und dem Nahen Osten. Grenzübertritte wurden auf diese Weise nicht verhindert, sondern nur teurer, aufwendiger und gefährlicher. Die Zahl der Todesopfer, die diese Grenzpolitik besonders im Mittelmeer fordert, stieg von Jahr zu Jahr. Zudem trug die Aufrüstung der Grenze zu einer Professionalisierung des Schleusertums bei – und damit zum Wachstum des organisierten Verbrechens.
Das Scheitern einer europäischen Lebenslüge
Darüber hinaus brach das Dublin-System zusammen, das vor allem den Binnenländern des Schengen-Abkommens genutzt hatte. Nicht zuletzt Deutschland konnte lange von diesem System profitieren, während die äußeren EU-Staaten von der Last der vielen Geflüchteten zunehmend überfordert wurden. Die Verschlechterung der humanitären Situation in den Aufnahmeeinrichtungen dieser Länder führte dazu, dass die Dublin-Verfahren durch Gerichtsurteile aufgehoben wurden und Abschiebungen – zum Beispiel nach Griechenland – nicht mehr vorgenommen werden durften. Diese Grenzpolitik hat dazu beigetragen, dass sich so viele Flüchtlinge an den Grenzen der EU sammelten. Mit einer Metapher gesprochen: Es bildeten sich „Blasen“, in denen der Druck ständig stieg. Die gegenwärtige Situation ist dem Platzen einer Blase geschuldet, die es mit einer anderen Grenzpolitik gar nicht erst gegeben hätte.
Die Flüchtlingskrise bedeutet das Scheitern einer europäischen Lebenslüge: Eine Politik, die einerseits globale Verflechtung betreibt, andererseits aber die Mobilität von Menschen einschränkt, kann nicht nachhaltig sein. Die Entgrenzung der Märkte sowie der globale Austausch von Waren und Finanzen führen zu einer Welt, in der die Einschränkung der Arbeitsmobilität nicht mehr nachvollzogen werden kann – etwa wenn die EU eine Agrar- und Fischereipolitik betreibt, die Menschen „vom Land freisetzt“, und die dadurch hervorgerufene Migrationsbewegung irgendwann auch Europa erreicht. Die Idee einer Festung Europa, hinter deren Mauern man einen Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts errichten kann, während davor Elend, Chaos und Bürgerkrieg herrschen, ist unrealistisch. Man kann die Festungsmauern nur um den Preis des Verrats eigener Ideale aufrechterhalten – etwa mit einem Schießbefehl an der Außengrenze.
Migrationsforschern war schon lange vor der Syrienkrise klar, dass der Druck auf die EU-Außengrenzen früher oder später zu groß werden würde. Aber wir waren auch ratlos: Das Thema Einwanderung war so angstbesetzt, dass jede Forderung nach einer Revision der Grenz- und Migrationspolitik im politischen Raum ungehört verhallte. Auch die Hinweise von Demografen und Ökonomen auf die Konsequenzen der Migrationsbeschränkung blieben weitgehend folgenlos.
Überraschend ist deshalb nicht allein, dass der Bundesinnenminister beteuert, die aktuelle Fluchtbewegung sei nicht vorhersehbar gewesen, sondern auch die Reaktion der hiesigen Zivilgesellschaft. Anstatt in Angststarre zu verfallen und nach dem starken Staat zu rufen, reagierten viele Bürger mit eigenen Initiativen. Anscheinend stellt sich die Zivilgesellschaft in diesem Prozess neu auf. Viele Bürger demonstrieren damit die Möglichkeit, etwas bewegen zu können und wirken so diffusen Ängste entgegen. Wer sich einbringt, begegnet ganz normalen Menschen – und das Bild von einer Flut anonymer Geflüchteter löst sich von selbst auf.
Deutschland hat sich mit seinem neuen Staatsbürgerschaftsrecht dazu bekannt, ein Einwanderungsland zu sein. Die jetzige Bürgerbewegung bietet die Chance, dieses politische Bekenntnis kulturell zu unterfüttern und einen selbstverständlichen, differenzierten und angstfreien Umgang mit den Fremden zu entwickeln. Somit ist die aktuelle Krise vor allem eine Chance – ähnlich wie nach der Katastrophe von Fukushima 2011, die eine gesellschaftliche Bereitschaft erzeugte, den Atomausstieg zu wagen und sich von einer nicht nachhaltigen Politik zu verabschieden. Analog könnte die Katastrophe von Syrien dazu führen, dass Deutschland sich von einer nicht nachhaltigen Migrations- und Grenzpolitik verabschiedet. Auch wenn sich dies nicht von heute auf morgen in die Tat umsetzen lässt – besonders wegen der Haltung der anderen europäischen Staaten –, könnte es doch als langfristiges Politikziel formuliert werden.
Skepsis gegenüber der Zivilgesellschaft
Kurzfristig ist eine Politik erforderlich, die sich der Herausforderung der großen Zahl ankommender Flüchtlinge stellt und ihnen möglichst schnell und effizient zur Seite steht. Das im Oktober verabschiedete Gesetzespaket trägt allerdings kaum dazu bei. Es soll der Beschleunigung der Asylverfahren dienen, wird dieses Ziel aber absehbar nicht erreichen. So zielen zahlreiche Maßnahmen auf die Flüchtlinge aus sicheren Herkunftsstaaten sowie auf Abschiebungen von Geduldeten. Diese Abschreckungsmaßnahmen richten sich vor allem gegen Flüchtlinge vom Westbalkan, betreffen derzeit aber nur 10 Prozent aller Asylbewerber. Anstatt die Lösung in der Identifizierung „regelmäßig nicht schutzbedürftiger Personen“ zu suchen, sollte man lieber denjenigen, deren Anträge wohl ohnehin anerkannt werden, eine Aufenthaltserlaubnis ohne Einzelfallprüfung erteilen. Damit würden mit einem Schlag Kapazitäten frei, um die Asylanträge von Geflüchteten aus anderen Staaten ordnungsgemäß und zügig zu bearbeiten. Dabei hätte man sich an der Aufnahme der rund 50 000 vietnamesischen Kontingentflüchtlinge Ende der siebziger Jahre sowie der mehr als 200 000 jüdischen Kontingentflüchtlinge aus der ehemaligen Sowjetunion seit 1991 orientieren können.
Doch die Regierung hält an der aufwendigen Individualprüfung für alle Asylbewerber fest. Damit wird auch die Bereitschaft der Industrie- und Handelskammern ausgebremst, die Geflüchtete in den Arbeitsmarkt integrieren wollen. Zudem berichten Initiativen allerorten, wie sie im Umgang mit den Behörden ständig an Grenzen stoßen. Statt systematisch eine Ermöglichungspolitik zu betreiben (zum Beispiel durch die Einrichtung von Koordinationsstellen), die Synergien zwischen den Initiativen, Flüchtlingen und Behörden erzeugt, dominieren abwiegelndes Verhalten, der Versuch Kontrolle auszuüben und eine generelle Skepsis gegenüber der Zivilgesellschaft. Es gibt zwar Ausnahmefälle, vor allem auf der kommunalen Ebene, die signalisieren, dass es doch geht und mehr möglich ist, als weithin postuliert wird. Nur sollten diese Ausnahmen möglichst schnell die Regel werden.
Ebenso wichtig sind die Signale von Politikern, die um die Gunst derjenigen Wähler buhlen, die der Einwanderung negativ gegenüberstehen. Dabei handelt es sich um rückwärtsgewandtes Denken: Entgegen der Faktenlage wird suggeriert, dass es einen Ausweg aus der Krise gäbe, wenn man nur zu einem Regime der Grenzsicherung und Abschreckung zurückkehrte. Politiker suggerieren, die Wanderungsbewegung wäre in den Griff zu bekommen, indem Lager in der Türkei und in Griechenland ausgebaut werden. Die Gefahren weiterer Zuwanderung werden wieder und wieder beschworen – was eine Angst hervorruft, die lähmt. Der gesellschaftliche Rückhalt, den die Initiativen aus der Mitte der Gesellschaft besaßen, wird auf diese Weise zerredet. Es ist symptomatisch, dass Innenminister Thomas de Maizière von 30 Prozent „falschen Syrern“ sprach, diese Zahl dann aber kleinlaut zurücknehmen musste. Hier wird bewusst Misstrauen gesät – und gefordert, dass mehr Geld in die Aufstockung der Polizei statt in Integrationsarbeit fließen soll. Eine gegenüber den Fakten derartig blinde Politik ist gefährlich. Sie suggeriert die Handlungsfähigkeit des Staates in einem Feld, das sich nicht so einfach kontrollieren lässt. Das Scheitern dieser Politik wird nur die Fundamentalopposition von rechts stärken.
Gesellschaft und Politik in Deutschland müssen jetzt alle Kräfte bündeln, um die aktuelle Herausforderung gemeinsam zu meistern. Wenn wir daran scheitern, wird es furchtbar. Wenn wir es aber schaffen, ist damit eine große Chance auf positive Veränderung verbunden. Wir sind zurzeit Zeuge, wie sich unsere Gesellschaft neu aufstellt. Wer sich im Umfeld der vielen Initiativen bewegt, der merkt, wie gut sie unserer Gesellschaft tun. Ein Ruck geht durchs Land, wie ihn Roman Herzog einst forderte. Dieser Ruck ist die Antwort auf die zunehmende Individualisierung, Entsolidarisierung und Atomisierung der Gesellschaft. Hier wird das Verhältnis von Gemeinschaft und Gesellschaft im Zeitalter der Globalisierung in der Praxis neu formuliert. Hier macht sich eine Gesellschaft bereit, die auf uns zukommenden Herausforderungen des 21. Jahrhunderts zu bewältigen.