Die Corbyn-Fantasie - von Anfang an zum Scheitern verurteilt
Manchmal vermitteln die Einzelheiten eines riesigen politischen Schocks mehr Einsicht als große Gesamtanalysen. Um den Zustand der britischen Linken in diesem Herbst zu begreifen, sollten sie dies bedenken: Am Sonntag nach seinem Wahlsieg saß Jeremy Corbyn, der neue Führer der Labour Party, in einem kleinen Büro im Parlament und versuchte, seine Spitzenmannschaft zusammenzubasteln. Eben hatte Corbyn seine Konkurrenten vernichtend geschlagen. Mehr noch: Er hatte sie schlicht ausgelöscht. Und trotzdem tat er sich schwer, überhaupt ein Team zusammenzustellen.
Wie war das möglich? Am Vortag erst hatte eine begeisterte Menschenmenge den neuen Anführer auf dem Parliament Square angefeuert. Jeremy Corbyn ist kein Alexis Tsipras oder Pablo Iglesias. Er ist vielleicht deren englischer Onkel: verhaltener, sanfter, ein bisschen blasser. Aber er erweckt dieselbe Inbrunst. Jeremy Corbyns Mandat als neuer Parteiführer stand daher außer Frage. Seine Beliebtheit innerhalb der Partei war evident. Eigentlich hätten alte Verbündete und neue Schmeichler bei ihm Schlange stehen müssen. Außerhalb des Parlaments hat Corbyn in der Tat viele Freunde: Gewerkschaftsführer, Journalisten, Prominente, Studenten, Rentner – alle sind sie enthusiastisch und über seinen Aufstieg begeistert.
Diesem General dienen? Lieber nicht
Und trotzdem. Jeremy Corbyn ist seit 32 Jahren Mitglied des Unterhauses. Dennoch hat die überwältigende Mehrheit seiner Parlamentskollegen erklärt, dass sie seine Politik missbilligt. Weniger als einer von zehn Labour-Abgeordneten wollte ihn als Parteiführer. Diejenigen, die ihn unterstützten, sind bis auf eine oder zwei Ausnahmen habituelle Parteirebellen wie Corbyn selbst. Um ein Team aufzubauen, musste er deshalb Kollegen über diese Gruppe hinaus erreichen. Er versuchte dies. Doch viele weigerten sich, unter diesem General als Offizier zu dienen.
Noch komplizierter wurde die Sache dadurch, dass die Konservativen sogleich einen knallharten Angriff auf Corbyn starteten, um ihn als Gefahr für die nationale Sicherheit zu brandmarken. Dabei verdrehten sie (ein bisschen), was Corbyn vor langer Zeit auf einer Friedenskundgebung gesagt hatte. Seine Worte liefen auf die Ansicht hinaus, Großbritannien brauche keine Streitkräfte, die in der Lage seien, das Meer zu überqueren.
Corbyns drei grundlegenden Probleme
Also benötigte der neue Labour-Anführer einen Schattenverteidigungsminister. Gemeinsam mit seinem Fraktionschef suchte er einen. Unglücklicherweise wussten die beiden nicht, dass ihre Telefonate von den draußen Wartenden mitgehört werden konnten. Dabei vernahm ein Journalist das Folgende: „Das hört sich jetzt vielleicht ein bisschen wie eine abwegige Idee an, aber könntest du dir vorstellen, Schattenverteidigungsminister zu werden?“ Pause. „Was denkst du eigentlich so über Trident?“ Trident ist das britische Atomwaffensystem. Jeremy Corbyn ist dagegen, dass Großbritannien Atomwaffen besitzt. Die meisten Labour-Abgeordneten sind darin anderer Meinung als er. Eine viel, viel längere Pause. „Aber wärst du bereit, darüber zu diskutieren?“
Hier zeigen sich wie unter einem Brennglas die drei grundlegenden Probleme, vor denen Labour jetzt steht. Erstens geht es um die einfache Frage der Kompetenz. Nachdem sie ihr ganzes politisches Leben in der inneren Opposition verbracht haben, sind die führenden Persönlichkeiten der früher als „Linksaußen“ bezeichneten Richtung in Großbritannien nicht an die rigorose Durchleuchtung gewöhnt, die nationale Führungsämter nun einmal mit sich bringen. Natürlich besitzen sie Fähigkeiten, enorm wichtige noch dazu. Sie können große Themen identifizieren. Sie können das Ende von Ungerechtigkeit und Folter, Armut und Krieg fordern. Sie können mitreißen – und haben das auch bereits getan. Das ist der Grund für ihren aktuellen Triumph. Diesen verdanken sie nicht zuletzt der Tatsache, dass ihre Gegner – einschließlich des Autors dieser Zeilen – unfähig schienen, irgendwen zu solcher Leidenschaft anzustacheln.
Dennoch ist es schwer vorstellbar, dass ein Lyndon B. Johnson oder ein François Mitterrand jemals wegen einer zu dünnen Tür in Verlegenheit geraten wäre. Ebenso schwer vorstellbar ist, dass sie jemandem irgendwelche Macht in Verteidigungsfragen angeboten hätten, dessen Ansichten dazu sie nicht kannten. Dies würde schließlich bedeuten, dass die persönlichen Ansichten von Politikern ziemlich unwichtig sind. Corbyn argumentiert seit langem, dass über politische Positionen die gesamte Partei zu entscheiden habe. Bis zum Beschluss könne frei debattiert werden. Das wird nun das neue Führungsmodell sein.
Natürlich haben demokratische Debatte und Meinungsbildung ihren Wert. Doch sie haben zugleich auch ihren Preis: scheinbare Unentschiedenheit. Um die mögliche Verwirrung zu beheben, ist sehr viel Überzeugungs- und Erklärungsarbeit notwendig. Aber Jeremy Corbyn, während der Führungskampagne noch allgegenwärtig, gab nach seinem Sieg zunächst keinerlei erhellende Interviews.
An seiner Stelle wehrte sein neu gewählter Stellvertreter Tom Watson, ein Befürworter sowohl der Nato als auch der britischen Atomwaffen, Fragen zur Verteidigungspolitik von Labour diplomatisch ab: Die Ansichten seines Parteivorsitzenden kenne er nicht, die bevorstehende Debatte werde Klarheit schaffen. Hilary Benn, Labours neuer außenpolitischer Sprecher, wiederum erklärte, die Partei werde bedingungslos dafür kämpfen, dass Großbritannien in der EU bleibe. Erst am Abend zuvor hatte sein Vorsitzender vor Labour-Abgeordneten gesagt, die Frage sei offen. Auch zu diesem Thema ist sicherlich demnächst eine Debatte fällig.
Von Journalisten mit der Frage konfrontiert, warum er ins Führungsteam der Partei keine Frauen aufgenommen habe, schritt der neue Labour-Chef schweigend und allein in die Nacht. Am nächsten Tag argumentierten seine Anhänger, dies sei ein neuer politischer Ansatz. Es gebe in der Labour Party jetzt keine „Spitzenpositionen“ mehr. Vielleicht wussten die betreffenden Personen einfach nicht, ob der Posten des Finanzministers oder der des Jugendministers die wichtigere Position ist. Auf die plötzliche Entdeckung hin, dass alle Positionen mit gleicher Macht ausgestattet seien, hat allerdings niemand einen Wechsel angeboten.
Die Notenbank soll Geld drucken
Moderne politische Führung ist schwer. Sie ist anstrengend. Es könnte sein, dass Jeremy Corbyns politischer Lebensweg des prinzipienfesten Widerstands den neuen Labour-Vorsitzenden nicht mit dem Geschick ausgestattet hat, das üblicherweise von politischen Führungsfiguren erwartet wird. Es könnte sein, dass er nicht sehr gut darin ist, eine politische Partei auf traditionelle Art und Weise zu führen. Aber das ist noch sein einfachstes Problem. Jeremy Corbyn kann es ganz einfach lösen, indem er auf nichttraditionelle Art und Weise führt. So hat er schließlich auch die Konkurrenz um den Parteivorsitz für sich entschieden.
Womit wir vor dem zweiten Problem stehen: Welchem Zweck soll die Parteiführung dienen? Jeremy Corbyn hat die Labour-Führung erobert, indem er für echten und umfassenden Wechsel warb. Worin die Natur dieses Wechsels liegen würde, das wurde prinzipienfest und mit großer Anmut kommuniziert.
Corbyn versprach, die Austeritätspolitik zu beenden, was durch die Beseitigung jeglicher Steuervermeidung finanziert werden könne. Gleichzeitig forderte er die Bank of England auf, die Regierung mit dem notwendigen Geld zur Finanzierung ihrer Vorhaben auszustatten.
Er wandte sich gegen jede internationale Beteiligung Großbritanniens, egal ob im Hinblick auf die Nato-Präsenz an den Grenzen Russlands oder auf militärische Optionen in Syrien, es sei denn, solche Einsätze seien vom UN-Sicherheitsrat ausdrücklich genehmigt.
Anführer oder Notar der Bewegung?
Er kündigte an, Sozialstaat und öffentliche Dienstleistungen besser zu finanzieren, die Ausweitung des Freihandels zu verhindern und die neoliberale Ökonomie zu beenden. Zudem hat sich Jeremy Corbyn (aus der Perspektive des Autors dieser Zeilen: in bewundernswerter Weise) als konsequenter Verfechter der Rechte von Migranten und Geflüchteten profiliert – dies in einer Zeit, da viele Briten in der Einwanderung eine Bedrohung ihrer Bequemlichkeit und Sicherheit sehen.
Auf dieser Grundlage hat Corbyn seine Wähler inspiriert. Er gewann ihre Herzen, ihre Köpfe und ihren Applaus. Es war eine Welle, ein Tsunami, eine Revolte gegen konventionelles Denken und politischen Kleingeist. Die Wahl, die den neuen Parteiführer mit einem gigantischen Mandat ausgestattet hat, bedeutete also ein echtes Fest des politischen Enthusiasmus. Dennoch litt Corbyns Kampagne unter einem subtilen Widerspruch. Jeremy Corbyn war der Mann der Prinzipien, des Glaubens, der Klarheit. Doch zugleich war er ein Zusammenführer, ein treuer Diener bloß, der sich demütig erbot, jener großen Bewegung zu dienen, deren Willen auszuführen er nun die Ehre habe.
Aber was genau ist dieser Wille? Sein eigener? Beschlüsse von Parteiversammlungen? Die Stimmung einer Demonstration oder einer Online-Kampagne? Hinzu kommt, dass nicht alle Entscheidungen aufgeschoben werden können, bis der Wille der Bewegung bekannt geworden ist. Jede Personalentscheidung, jeder öffentliche Auftritt hat Konsequenzen. Will Corbyn, dass Großbritannien eine atomare Streitmacht besitzt? Will er, dass die Labour-Partei bedingungslos für die britische EU-Mitgliedschaft eintritt? Lehnt er Obergrenzen bei der Einwanderung ab? Wie will er Steuerflucht und Steuervermeidung verhindern?
Bis jetzt antwortet Corbyn, dass er einfach nur das Instrument einer großen demokratischen Bewegung sein wird. Wichtig ist nicht, was er denkt. Wichtig ist, was die Bewegung entscheidet. Als Strategie verwirklicht würde dies bedeuten, dass diejenigen, die die Maschinerie der Bewegung steuern, auch deren Schicksal bestimmen. Früher einmal war Corbyn ein Anhänger von internen Vorabsprachen und Flügelbildung. Heute ist er das nicht mehr. Es gibt andere, die diese Aufgaben mit Geschick und Sorgfalt erledigen. Im digitalen Zeitalter haben sich sogar die Aufgaben selbst verändert. Manche der Talente auf diesem Gebiet teilen Corbyns Prinzipien, andere deutlich weniger.
Wenn sich Jeremy Corbyn verpflichtet, Diener der Bewegung zu sein, könnte er sich am Ende als Gefangener einer Maschinerie von Gruppen und Flügeln wiederfinden, die um die Herrschaft über Ausschüsse und Kampagnen konkurrieren. Sein Verteidigungssprecher etwa könnte sich einer Debatte nicht verweigern, müsste aber womöglich die Niederlage der eigenen Position fürchten und würde deshalb eine Beschlussfassung vermeiden. Folgt er diesem Weg, kann Corbyn nur das durchsetzen, was ihn Kräfte durchsetzen lassen, die er nicht beherrscht. Im besten Fall wird er dann über einen prekären Frieden präsidieren, bis er irgendwann zu schwach ist, seine Absetzung zu verhindern. Im schlimmsten Fall wird ihm die Partei schon vorher um die Ohren fliegen.
Corbyns eigene Agenda ist bizarr
Deshalb muss Corbyn vielleicht doch selbst führen. Er hat das Mandat seiner Partei gewonnen, große Veränderungen zu bewirken. Er hat den bestehenden Konsens beendet. Er hat den alten Rahmen gesprengt. Er hat die triumphale Ära von New Labour sowie die Jahre der nervösen, kleinmütigen Nachfolger Tony Blairs beendet. Warum sollte er nicht mit allem und allen Tabula rasa machen? Warum sollte er sich nicht zur Macht seines Sieges bekennen?
Corbyn kann – völlig zu Recht – aus der öffentlichen Unterstützung für ihn als politische Person einen klaren Anspruch auf Gefolgschaft ableiten. Er hat jegliche Autorität, seine Agenda durchzusetzen. Täte er dies, würde er einfach nur auf die Grundsätze pochen, die ihn an die Parteispitze getragen haben. Selbst seine innerparteilichen Gegner wissen, dass Corbyn kaum daran gehindert werden könnte, seine Popularität in Macht über die Partei zu verwandeln. Er könnte also seine Agenda durchsetzen – aber das wäre dann Jeremy Corbyns Agenda, nicht eine Synthese aller guter Dinge.
Dies führt zum letzten und fundamentalsten aller Probleme der Labour Party – und an dieser Stelle werde ich aufhören, auch nur scheinbar neutral Optionen und Konsequenzen zu erörtern. Sie werden vielleicht völlig anderer Meinung sein. Für meine Partei gilt dies – in ihrer überwältigenden Mehrheit – auf jeden Fall. Vielleicht haben Sie ja Recht, und das ist dann auch überhaupt kein Problem.
Die Sache ist nur die: Das Ganze ist von Anfang an zum Scheitern verurteilt.
Vergessen Sie meinen ersten Punkt, beschäftigen Sie sich überhaupt nicht mit Fragen von Kompetenz und Geschick. Unterstellen Sie einfach, dass Corbyn tatsächlich der herausragende politische Operateur und inspirierende Anführer ist, den seine Anhänger in ihm sehen.
Ignorieren Sie auch meinen zweites Thema. Stellen Sie sich einfach vor, jedes interne Hindernis wird überwunden, jede Schlacht gewonnen. Entweder mittels sorgfältiger Steuerung des demokratischen Willens oder mittels der Macht des eigenen Mandats verpflichtet Jeremy Corbyn seine Partei auf eine ebenso prinzipientreue wie leidenschaftliche radikale Agenda der Linken und tritt mit diesem Projekt vor die Öffentlichkeit.
Es wird nicht funktionieren. Nicht, weil das Projekt zu links oder zu extrem wäre. Sondern ganz einfach deshalb nicht, weil es falsch ist.
Wir haben mit der Verteidigungspolitik angefangen. Die französischen Sozialisten unterstützen die Nato. Die deutschen Grünen haben den Einsatz der Nato im Kosovo befürwortet. Jeremy Corbyn aber hat gesagt, die Nato sollte aufgelöst werden, und die Angriffe auf Serbien seien illegal gewesen. Jetzt glaubt er, die Nato provoziere Moskau absichtlich, indem sie Russland einkreise.
Die Nato zu verlassen oder aufzulösen oder den Schutz für unsere osteuropäischen Partner zu begrenzen – das ist ganz einfach eine schlechte Idee. Nichts weiter.
Und wie will Corbyn seine Pläne finanzieren? Selbst in dieser grundlegendsten aller Fragen flüchtet sich Corbyn entweder in die Fantasie von Steuerlücken oder in die Idiotie von unproblematischem Geld, das auf Geheiß von Politikern gedruckt wird. Wie oft ist so etwas schon gut ausgegangen?
Die besten seiner Anhänger akzeptieren keine dieser beiden Optionen. Stattdessen befürworten sie eine Kombination von höheren Ausgaben, höheren Steuern und höherer Kreditaufnahme. Die britischen Wähler haben solch ein Labour-Programm aber bereits zweimal abgelehnt. Dabei war ihnen ziemlich egal, wie viele Nobelpreisträger uns unterstützten. Für sie geht es um Kompetenz, nicht um Ideologie. Corbyn hat sich für die Fantasie-Option entschieden, weil er weiß, dass die ebenso realistische wie teure Version seines Radikalismus bei den Wählern durchfallen würde. Selbst wenn er aufgrund irgendwelcher bizarren Umstände mit solch einem Programm gewinnen würde, müssten wir es entweder aufgeben wie Mitterrand und Tsipras – oder wir würden schon am Anfang scheitern.
Die ganze Konstruktion wird kollabieren
Natürlich wird manches aus unserem Angebot beliebt und sinnvoll sein – noch in jedem großen politischen Scheitern gibt es irgendetwas zu bewundern. Es gibt Ideen, die es wert sind, gerettet zu werden und von denen wir lernen können. Aber die ganze Konstruktion wird in sich zusammenstürzen. Sie ist einfach nicht im Stande, die auf sie gesetzten Hoffnungen zu tragen.
Aus meiner Sicht wäre es deshalb das Beste für die Labour Party, wenn bereits das erste oder das zweite Problem Jeremy Corbyn überwältigen würde. In dem Fall müssten wir uns wenigstens nie mit dem dritten herumschlagen.
Ich könnte falsch liegen. Ich hoffe das sogar, denn wenn ich Recht habe, dann ist es nun einmal so, dass der Fortschritt der Sozialdemokratie nicht unter einem sanften, freundlichen Mann gelingen kann, dessen Überzeugung, die Erinnerung von Wassermolekülen könne Krankheiten heilen, noch zu seinen weniger umstrittenen Ansichten zählt.
Und da ich mich also irren könnte, sollte ich vielleicht am besten ein irgendwie heiteres Ende finden. Also: Wir alle vergehen. Unser Leben ist ein bedeutungsloses Staubkorn. Entspannen wir uns! Denn nichts von alledem ist wirklich wichtig.
Aus dem Englischen von Tobias Dürr
Wir bedanken uns beim Policy Network London für die freundliche Genehmigung zum Abdruck.