Die DDR hinterläßt ihre Kinder

Zu Besuch im Hotel Sittavia in Zittau

Die Glasvitrinen hängen in dem geräumigen Hotelzimmer. In den Vitrinen sind Zahnpastatuben, Zahnbürsten, Zahnpastatubenschachteln, Werbeblätter kunstvoll plaziert. Alles wirkt wie eine Installation und interessanter als damals in der DDR-Wirklichkeit. Ich bin im "Putzi"-Zimmer des Hotels Sittavia in Zittau. Damals war "Putzi" einfach eine Zahnpasta für Kinder. Sie gab es in verschiedenen Geschmacksrichtungen und konnte gefahrlos gegessen werden. Bananen gab es in der DDR selten zu kaufen, Putzi aber immer. Ich liebte diese Zahnpastamasse besonders mit Bananengeschmack. Man konnte sie schlucken oder zum Wettspritzen aus der Tube quetschen. Irgendwie enttäuschten mich die ersten richtigen Bananen, sie schmeckten so gar nicht nach der entsprechenden Putzi-Sorte.

Das sind die netten Geschichten, von denen einer gar nicht genug hören kann, der sich die DDR schönreden will. So einer ist Günter Ziemann nicht. Der faßte sich ein Herz und bekam einen Kredit und gründete mit Hilfe einer Werbeagentur den Staat außer Diensten neu. Die DDR erst einmal als Hotel. So ist die Erinnerung an eine Zahnpasta der kleinste gemeinsame Nenner, der Herrn Ziemanns DDR und meine verbindet. Es war nicht alles schlecht, ein beliebter Satz. Welcher Ort der Welt hätte das schon jemals geschafft, alles Schlechte zu vereinen? Vor einem Jahr wurde dieses DDR-Erinnerungshotel erneuert. "Ostalgie statt Nostalgie" beschreibt der Hotelier sein Motto. Für den Besitzer des Hotels Sittavia gilt: "Unsere Devise: Devisen". Der Spruch steht im Prospekt. Den sagt er gern. Der findet sich in jedem Interview wieder.


Der ehemalige Leiter eines DDR-Gewerkschafts-Ferienheims liebt kurze, knackige Sätze. Propaganda-Sprüche ("Meine Hand für mein Produkt", "Unsere Bilanz ist richtig") und Gedanken aus der Eigenproduktion ("Ich lebe wie die ganze DDR auf Pump") mischen sich. Im Gespräch und auf dem werbenden Faltblatt. Auf jeden Fall geht es ums Geld. Um das Westgeld der Besucher. Das müssen sie in imitiertes DDR-Geld umtauschen - und zwar 1 zu 4. Für 4 Westmark gibt es 1 DDR-Mark - die kleine Rache des finanziell schwächeren. Ein Einzelzimmer kostet bei diesem Kurs 22,50 (DDR)M, das Doppelzimmer 30 M.

Und die Zimmer sind in Ordnung. Günter Ziemann hatte einen Vorgänger, der vor drei Jahren ein ganz normales Hotel zurechtrenovierte. Die Gäste blieben aus. Heute riecht nichts nach DDR. Es gibt genügend ehemalige Arbeiterwohnheime, die viel DDRiger sind. Immer noch. Ein Beobachter glaubte im Braun des Mobiliars eine Anspielung auf die alten Zeiten zu sehen. Das ist Renovierungszufall. Das Telefon funktioniert. Der Fernseher zeigt per Kabel soviel Westfernsehen wie überall. Und früher nie in Zittau.

Ein Jahr nach der Hoteleröffnung bin ich wieder da. Es geht dem Hotel nicht allzu gut. Die Zimmer sind zu 20 Prozent belegt. Das sei in Zittau der Standard. Herr Ziemann übt sich weiter im Prinzip Hoffnung. Die großen Reiseveranstalter müssen angelockt werden. Denn die Zittauer mögen dieses Hotel nicht. Es ist ihnen peinlich. Im gut gemachten regionalen Kultur- und Veranstaltungsmagazin Südost schreibt der Redakteur Detlef Krell: "Die D.D.R. wird in einem obskuren Zittauer Hotel (...) als Reality-Show inszeniert, der vergangenen Realität abgelauscht wie ein Furz dem Stoffwechsel." Ein klarer, selbstbewußter Satz. Doch Krell scheint wie andere Kritiker noch nicht im Hotel gewesen zu sein. Denn die Inszenierung ist mehr als gehemmt, und ein Furz verrät eben etwas über den Stoffwechsel.

Das Hotel ist ein Beispiel für die Neuerfindung der DDR. Die Buchstaben "H" und "O" im Logo "Haus des Ostens" erinnern beim ersten Hinsehen an das Kürzel "HO". Das kennt jeder von den HO-Verkaufseinrichtungen. Das Logo spielt mit dem Erinnerungseffekt. Die DDR pur lockt nicht genug. Sie wirkte in vielem eben nur zu- und unauffällig. Und zum Horror-Trip (mit Stasi und Doping) will der Mini-Staaten-Erfinder sein "Event" nicht aufpäppeln. Der Knast in der Nachbarstadt Bautzen wäre dafür besser geeignet. Total lächerlich soll der Staat a.D. auch nicht sein. Eben alles ganz durchschnittlich. Normal.

Doch exzentrisch ausgelebte Normalität funktioniert nur als Satire. Und das erweist sich als Problem. Wie mache ich Unauffälligkeit exotisch? Um die DDR zu erfinden, die DDR pur vermeiden? Mit echten Versatzstücken. Dafür hat der Hotelier heute eine gute Erklärung. Auch die DDR hätte sich weiterentwickelt und wäre zehn Jahre später nicht mehr die alte gewesen. Wohl war. Das mag für die mit verändertem Design verkauften Originalprodukte angehen. Ob die Speisekarte so reichhaltig gewesen wäre wie die jetzt? Und natürlich arbeitet Herr Ziemann mit Fax und Computer. Auch die zehn Jahre gealterte DDR hätte viele einen Hotelier einschränkende Vorschriften bei der Nutzung moderner Kommunikationsmöglichkeiten gemacht. Nur die Pseudo-DDR Ziemanns kann ganz unbekümmert ins Internet gehen.

Er brauche Gäste, Gäste, nochmals Gäste. Am besten Gruppen, da machen die thematisch gestalteten Zimmer Sinn. Der Chef führt den Besucher stolz herum und erklärt. Auf dem Flur stehen Erinnerungsschränke, vom Ost-Verbandskasten bis zu den Waschmittelverpackungen. Natürlich fehlt ein Honecker-Bild mit Trauerflor nicht. Obenauf eine Krone aus Stacheldraht, die soll symbolisch die kritische Reflexion ersetzen. Die Zimmer wirken immer noch unterschiedlich - irgendwo zwischen interessant und lächerlich. So entsteht dann der museale Bildungseffekt, wenn das "Putzi"-Zimmer mit dem über die Lastkraftwagen ("VEB Robur") verglichen wird. Dederon Beutel, Püree und Möhren, neben Mitgliedsausweisen und Propaganda der Pionierorganisation. Was mag dem unkundigen Besucher wohl jene Urkunde aus der Vitrine über eine zehnjährige Betriebszugehörigkeit zu einem Oberlausitzer Textilbetrieb sagen? "Treue zum sozialistischen Betrieb ist Treue zur Arbeiter- und Bauernmacht."

Hinter Glas finden sich Dokumente, Fotos und Gegenstände aus der DDR-Zeit. Das geplante Zimmer über die "Gesellschaft für Sport und Technik" ist nun doch durch eines über die Leipziger Messe ersetzt worden. Alles mit Militär ist heikel. Obwohl es Günter Ziemann schon militärisch mag. Er paßt problemlos in die Armeeuniform und stellt sich bei größeren Gruppen
gern am Wachhäuschen vor dem Hotel auf. Dann marschiert er auf und ab und zeigt Westbesuchern, wie eine DDR-Kontrolle an der Grenze gewesen sein soll. Aber nur bei Gruppen, sonst lohnt ja der Aufwand nicht. Und das alles auf dem Gelände einer ehemaligen Offiziersschule, die zu DDR-Zeiten natürlich von einer hohen Mauer umgeben war.

Zittau war nie die DDR, aber die DDR war auch in Zittau. Ich spaziere am winterdunklen Abend durch das zu zwei Dritteln genutzte Areal. Die Hochschule für Technik, Wirtschaft und Sozialwesen Zittau/Görlitz stockt mit einem Neubau auf. Kreisarchive, ein Zollkommissariat, das Vereinssportzentrum oder der Kreissportbund Oberlausitz e.V. nutzen die alten Gebäude. Die Fußwege sind in der Dunkelheit eher geheimnisvoll uneben. Nur in den Studentenheimen scheint Leben zu sein. Die anderen abends leerstehenden und die gänzlich ungenutzten Gebäude verschmelzen zu einem einzigen Erinnerungsanlaß auf einen untergegangenen Staat. Welche Kriege wurden hier geplant, welche Schlachten geübt? Allein für diesen unwirklichen Spaziergang lohnte die Übernachtung.

Ich wandere zum geschickt angeleuchteten und klug von außen renovierten Hotel Sittavia zurück. Nichts in dem ganzen Areal wirkt weniger DDRhaft als dieses Hotel. Dem Besitzer wünsche ich beim Abschied viel Glück und weiß nicht, was das für ihn bedeuten würde. "Putzi" war wahrscheinlich gar keine richtige Zahnpasta, sondern nur eine, die so tat als ob. Und den Kindern die Angst vor einem gar nicht so leckeren wirklichen Zahnpastageschmack nehmen wollte. Dann hätte die Nichtzahnpasta für Kinder nur die Funktion gehabt an etwas zu gewöhnen, das im Original anders war. So wollte ein ganzer Staat 41 Jahre lang vortäuschen, ein ganz normales Land mit einer einfach richtigen Politik zu sein. "Putzi" und dieses Hotel und die DDR passen doch irgendwie zusammen.

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