Die digitale Opposition

Bei der Bundestagswahl 2009 schnitt die Piratenpartei besser ab als die Grünen bei ihrer ersten Kandidatur 1980. Sieht die größte außerparlamentarische Oppositionspartei ähnlichen Erfolgen entgegen - oder hat sie ihren Zenit schon überschritten?

Die Piratenpartei ist außerparlamentarische Oppositionsführerin: Genau 845.904 Stimmen erhielt sie bei der Bundestagswahl 2009 – das sind immerhin 2 Prozent. Der Einzug in den Bundestag ist verpasst, aber ein Achtungserfolg erzielt. Nicht nur gemessen an den Stimmen ist sie die stärkste der nicht im Bundestag vertretenen deutschen Parteien, sondern auch gemessen an der Mitgliederzahl in Höhe von etwa 10.000. Dem Wahlerfolg voraus war der Partei ein medialer Sprung gelungen aus den Diskussionszirkeln und sozialen Netzwerken online in die Zeitungen und Nachrichtensendungen offline.


Es war das „Zugangserschwerungsgesetz“ aus dem Jahr 2009, das drei Jahre nach Gründung der Piratenpartei für den unerwarteten Boom sorgte. Dieses von Ursula von der Leyen vorangetriebene Gesetz, im Netz unter dem Schlagwort „Zensursula“ diskutiert, hat die so genannten nerds und geeks enorm politisiert – Menschen also, die bisher unter dem Verdacht standen, ihre gesellschaftlichen Ambitionen seien auf Codezeilen, Computerspiele und Pizzabringdienste beschränkt.

Bereits die im Jahr 2007 beschlossene sechsmonatige Vorratsdatenspeicherung von Telefon-, E-Mail- und Internet-Verbindungsdaten hatte im Netz zu einer großen Oppositionsbewegung geführt. Als „AK Vorratsdatenspeicherung“ schlossen sich Bürgerrechtsorganisationen und Einzelpersonen lose zusammen, um gegen das Gesetz vorzugehen. Erst das Internetsperrgesetz jedoch führte zum Aufschwung der Piratenpartei. War die Vorratsdatenspeicherung noch ein klassischer Konflikt zwischen den Sicherheitsbedürfnissen von Innenpolitikern und dem Freiheitsverständnis von Bürgerrechtlern, kam beim Internetsperrgesetz eine neue Dimension hinzu. Offensichtlich sollten unter dem Deckmantel des Kinderschutzes populistische Scheinlösungen mit gefährlichen Nebenwirkungen installiert werden. Die geplanten Sperren sind technisch wirkungslos und binden Kräfte, die dann nicht zur Bekämpfung von Kinderpornografie eingesetzt werden können. Außerdem zeigten bereits existierende Sperrgesetze anderer Länder, dass enorme Kollateralschäden entstehen können, wenn legale Seiten versehentlich gesperrt werden. Auch die Behauptung von Bundeskriminalamt und Fachministern, ausländische Seiten könnten nicht von Deutschland aus gelöscht werden, wurde von Netzaktivisten innerhalb kürzester Zeit widerlegt. Es gelang ihnen, kinderpornografische Seiten abschalten zu lassen, die teilweise schon jahrelang auf den Sperrlisten anderer Staaten zu finden waren – allein durch eine Benachrichtigung der Provider.

Ist Kinderpornografie in Indien legal?

Befeuert wurde die Kritik dadurch, dass die erfolgreiche E-Petition gegen das Gesetz, die mehr als 134.000 Mitzeichner fand, keinerlei erkennbaren Einfluss auf die Entscheidungsfindung hatte. Zudem zeigte eine Kleine Anfrage der FDP-Fraktion, dass die Bundesregierung das Gesetz mit vermeintlichen Fakten begründete, die der Wirklichkeit nicht standhielten. Hinzu kamen haltlose Unterstellungen Ursula von der Leyens. So behauptete die damalige Familienministerin, in Indien sei Kinderpornografie legal. In Wirklichkeit gibt es in Indien deshalb keine speziellen Gesetze gegen Kinderpornografie, weil jede Form von Pornografie verboten ist. Somit bediente das Gesetz alle gängigen Vorurteile gegen Parteipolitik: Arroganz der Macht, Beratungsresistenz, Macht- vor Sachpolitik, Ideologie statt Pragmatik.

Die Piratenpartei hat sich den Protest geschickt zueigen gemacht. Doch mit ihrer Popularität wuchs auch die Zahl ihrer Kritiker im Netz. Kontrovers diskutiert wurden Fragen wie die Abgrenzung nach rechts, das Verständnis von Geschlechtergerechtigkeit, die Verortung im politischen Spektrum und die Wertbasis der Partei, wobei deren partizipationsorientierte Diskussionskultur verstärkend wirkte: Die Piraten kennen keine Redeverbote nach Parteiräson und führen Debatten nicht in Hinterzimmern, sondern für alle einsehbar im Netz. Und machen sich damit angreifbar.

Der typische Pirat ist ein nerd

Das typische Mitglied der Piratenpartei ist ein nerd. Es hat ein relativ hohes Bildungsniveau und einen natur- oder ingenieurwissenschaftlichen Hintergrund, ist männlich und hat sich zuvor kaum politisch betätigt. Daraus resultiert ein unbefangenes, begeistertes und undogmatisches Herangehen an die Politik. Sie wird nicht als das Aushandeln von wertbasierten Positionen verstanden, sondern als prinzipiell logisch lösbares Problem. Die Selbstverortung im Kontext des traditionellen Parteienspektrums wird abgelehnt; Piraten empfinden sich weder als links noch als rechts.


Das Parteiprogramm der Piratenpartei beschränkt sich auf bürgerrechtliche Fragen mit Fokus auf die Netzpolitik, das Urheber- und Patentrecht sowie die Bildungspolitik. Über Themen wie Sozial- und Gesundheitspolitik, Außen- und Wirtschaftspolitik wird parteiintern debattiert, ohne dass es eine offizielle Grundposition dazu gibt. Sollte das Programm einmal ausgeweitet werden, ist eine Zerreißprobe absehbar: In der Piratenpartei gibt es Lebensschützer, Männerrechtler, Kommunisten, Libertäre – kaum eine Position, die sich nicht finden lässt. Eine unbestimmte Begeisterung für „Freiheit“ ist die Klammer, die die Partei zusammenhält.

Jedoch bleibt dieser zentrale Begriff in den offiziellen Dokumenten der Partei unbestimmt. Genau deshalb spricht die Piratenpartei sowohl die pragmatische und ideologiefreie Mehrheit an wie auch ideologisch Festgelegte, die keine Heimat in den bestehenden Parteien finden. (Prominentere Neumitglieder sind der sich als „Männerrechtler“ verstehende Publizist Arne Hoffmann ebenso wie die ehemalige grüne Bundesvorsitzende und Verteidigungsexpertin Angelika Beer.) Die Kehrseite: Jede nähere Bestimmung des Freiheitsbegriffs wird einzelne Mitgliedergruppen verprellen.

Anlaufstelle für Geschichtsrevisionisten?

Der unbestimmte Freiheitsbegriff macht die Piratenpartei auch für Geschichtsrevisionisten und Holocaustleugner interessant, ebenso kommt den Rechtsextremen das unter Piraten verbreitete Ressentiment gegenüber den etablierten Parteien zupass. Dennoch kann die Piratenpartei als ganze – trotz gelegentlicher Vereinnahmungsversuche – nicht unter Rechtsverdacht gestellt werden. Umfragen verorten Parteimitglieder eher im linksliberalen Bereich. Eine breitere Programmdiskussion dürfte die Piratenpartei damit für Rechte unattraktiv machen.

Die Versuchung liegt nahe, die Piraten (aufgrund ihrer Forderung nach der Vergesellschaftung von Wissen) vorschnell als linke oder (aufgrund der Betonung des zentralen Wertes der Freiheit) liberale Bewegung einzuordnen. Tatsächlich bestehen die größten inhaltlichen Gemeinsamkeiten mit den Grünen, die nicht nur das bürgerrechtliche Anliegen der Piratenpartei teilen (wie die FDP), sondern auch eine Reform von Urheber- und Patentrecht mit derselben Stoßrichtung wie die Piratenpartei anstreben (im Gegensatz zur FDP). Damit ist aber noch keine abschließende Festlegung auf eine linksliberale Ausrichtung getroffen.

Erhellend waren die Positionen der Partei im „Wahl-O-Mat“; wo das Programm keine Aussage trifft, galten die Mehrheitsentscheidungen der Bundestagskandidaten. Der Wahl-O-Mat machte deutlich, dass die Piraten keiner politischen Richtung eindeutig zuzuordnen sind. Es gibt linke Positionen (gegen eine Senkung der Unternehmenssteuer, für ein gebührenfreies Erststudium) ebenso wie liberale (keine gesetzliche Regelung von Managergehältern, keine dauerhafte staatliche Beteiligung an Banken). Eine eindeutige Tendenz lässt sich allein bei den Begründungen für die einzelnen Positionen erkennen: Sie basieren überwiegend auf einer möglichst „ideologiefreien“ Beurteilung der Sachlage auf der Grundlage des „gesunden Menschenverstands“.

Die Piraten erfüllen erstaunlich viele Kriterien, die der britische Soziologe Anthony Giddens als Merkmale einer zentristischen Politik nennt: eine dezidierte Orientierung an politischer Partizipation, eine nichtideologische Herangehensweise an den Sozialstaat und eine Orientierung an der Selbstverwirklichung des Individuums im Gegensatz zu einer Orientierung an Ungleichheiten (exemplarisch daran zu erkennen, dass Bildung das zweite offizielle Thema der Partei ist). Die Umwandlung von oben, die Gerhard Schröder und Tony Blair ihren Parteien vorgaben, hin zu pragmatischer und ideologiefreier Politik, hin zu einem „Third Way“ zwischen reinem Kapitalismus und tradiertem Sozialismus, scheiterte an der sozialdemokratischen Basis. Was in der Sozialdemokratie scheitern musste, zeichnet die Piratenpartei aus und macht sie erfolgreich – nicht zuletzt, weil ihre Impulse von unten kommen.

Was bleibt? Was wird?

Der kurzfristige Erfolg darf freilich nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Piratenpartei sich langfristig breiter positionieren muss. Das Bewusstsein dafür, dass Politik nicht mit szientistischen und damit eindeutig entscheidbar „richtigen“ oder „falschen“ Positionen zu tun hat, sondern am Ende auf Wertentscheidungen basiert, fehlt weiten Teilen der Piratenpartei derzeit noch. Ein erster Schritt in Richtung eines Vollprogramms müsste eine Bestimmung des Freiheitsbegriffs sein, der – zusammen mit dem pragmatischen Ansatz – den normativen Kern des Parteiprogramms ausmacht. Damit ließe sich auch Vereinnahmungsversuchen von Rechtsaußen besser begegnen.

Was bleibt? Was wird? Die Piratenpartei hat bei ihrer ersten Bundestagswahl ein besseres Ergebnis erzielt als die Grünen bei ihrer ersten Bundestagskandidatur im Jahr 1980. Beide Parteien sind als parteipolitischer Ausdruck gesellschaftlicher Bewegungen entstanden, die Politik neu gestalten wollen. Als Sammelbecken von Umweltschützern, Friedensbewegung, Frauenbewegung haben es die Grünen geschafft, die Konfliktlinie, die zwischen klassischen materiellen und postmateriellen Werten entstanden war, erfolgreich zu besetzen und sich so dauerhaft zu etablieren.


Ob die Piratenpartei eine vergleichbare Konfliktlinie findet, ist noch offen. Der naheliegende Konflikt zwischen innerer Sicherheit und Bürgerrechten wird im deutschen Parteienspektrum bereits von Grünen und FDP repräsentiert. Und schon jetzt versuchen die Grünen verstärkt, auch netzpolitische Themen zu besetzen; ähnliche Bewegungen sind in allen anderen Parteien zu finden. Die Grünen, die auch auf den Feldern der Bildungspolitik und des Urheber- und Patentrechts sehr Piraten-affine Positionen vertreten, sind dabei für die junge Partei die größte Gefahr.

Besteht die Konfliktlinie hingegen lediglich in einer Generationenfrage, kann die Piratenpartei nicht von Dauer sein. Das Thema Digitalisierung kommt mit Verspätung auch in den anderen Parteien an, dort werden die Vertreter des „altmodischen“ Lebensgefühls von ihren Nachfolgern mit einem moderneren Lebensgefühl verdrängt: Hier die digital natives, also die Generation, die mit dem Internet aufgewachsen ist, dort die älteren digital immigrants, die sich das Netz erst erarbeiten mussten. So erklärt sich übrigens auch das Unverständnis, das der Piratenpartei seitens der politikwissenschaftlichen Lehrstühle entgegenschlägt; die verständigen Analysen stammen aus dem akademischen Mittelbau und von ambitionierten Laien in Blogs.

Ohne Vollprogramm keine Zukunft

Aus dieser Perspektive droht der Piratenpartei Gefahr von Parteien mit einer jüngeren Mitgliederstruktur. In der SPD und vor allem in der FDP steht ein Generationenwechsel an, der eine Generation überspringt. Der FDP fehlt durch den Kursschwenk 1982 eine mittlere Generation an potenziellen Führungskräften, in geringerem Maße gilt für die SPD wegen der Gründung der Grünen zur gleichen Zeit dasselbe. In beiden Parteien sind gerade in der zweiten und dritten Reihe viele junge Politiker zu finden, die ähnlich im Netz verwurzelt sind und selbstverständlich mit modernen Kommunikationsmedien umgehen wie die Klientel der Piratenpartei. Und sowohl die FDP als auch die SPD legen derzeit verstärkt Augenmerk auf innerparteiliche Partizipation.


Eine Chance für die Partei besteht paradoxerweise gerade in der Parteienverdrossenheit. Es gibt ein Bedürfnis nach einer pragmatischen, ideologiefreien und partizipativen Politik. Ohne ein Vollprogramm kann die Piratenpartei ihr Wählerpotenzial aber nicht voll ausschöpfen. Damit steht für die Zukunft nicht nur eine inhaltliche Richtungsentscheidung an, sondern auch eine strukturelle Konsolidierung. Die Partei muss die vielen Neumitglieder einbinden, notwendig ist aber auch eine Verwurzelung in der Kommunal- und Landespolitik durch – wenig prestigeträchtige – Alltagspolitik. Während es an hoch motivierten, aber politisch unerfahrenen Neumitgliedern nicht mangelt, fehlen erfahrene Kommunalpolitiker. Es gilt jetzt, die bisher Politik- und Parteiverdrossenen in eine demokratische und freiheitliche Anti-Parteien-Partei einzubinden und dauerhaft zu motivieren.

Nach der Bundestagswahl ist es um die Piratenpartei wieder auffallend still geworden, was nicht nur auf das Scheitern an der Fünf-Prozent-Hürde zurückgeführt werden kann. Es liegt auch daran, dass die Partei in den Diskussionen im Internet über Bürgerrechte und Datenschutz (etwa zum SWIFT-Abkommen oder zum Arbeitnehmerdatenschutz) nicht meinungsbildend wirkt. Wie vor dem Erfolg der Piratenpartei wird der Diskurs vor allem von Mitgliedern des Chaos-Computer-Clubs und dem führenden Blog www.netzpolitik.org bestimmt.

Selbst wenn ein dauerhafter Erfolg der Piratenpartei ausbleiben sollte, hat sie große Erfolge erzielt. So hat sie neue Partizipationsformen aufgezeigt. Statt langwieriger Ochsentouren vom Ortsverein in die Hinterzimmer der Programmkommissionen und Vorstände gibt es bei den Piraten transparente Internetdiskussionsforen. Jeder kann sich sofort einbringen, jeder ist wichtig, und mangels Flügeln und Funktionärscliquen zählt nur das bessere Argument. Was die anderen Parteien noch diskutieren und planen, haben die Piraten verwirklicht. Auf diese Weise hat es die Partei geschafft, erstaunlich viele Menschen dafür zu begeistern, sich politisch zu engagieren.

Das eigentlich Neue ist die Partizipation

Auch im Wahlkampf setzten die Piraten neue Standards. Die kleine Partei hat einen professionellen Graswurzelwahlkampf geführt. Es gab keine zentralisierten, grafisch aufwendigen, videolastigen Kampagnenseiten von oben, stattdessen haben „einfache“ Leute viele Kleinigkeiten zum Wahlkampf beigetragen: hier ein Beitrag in einem Forum oder Blog-Artikel, dort ein Piraten-Banner oder ein T-Shirt, dazu die virtuose Beherrschung der neuen sozialen Online-Netzwerke.

Die Versuchung ist groß, die Piratenpartei auf ihre populären Themen zu reduzieren und dabei die Stärken ihrer Struktur und Organisation zu übersehen. Die inhaltlichen Schwerpunkte der Piratenpartei bringen zwar ein gewisses Wählerpotenzial mit sich, das die kleineren Parteien bereits jetzt teilweise abschöpfen. Das eigentlich Neue sind in Wirklichkeit jedoch die Methoden der politischen Partizipation: direkte Demokratie, Durchlässigkeit der Strukturen, vielfältige, gestufte Mitwirkungsformen, flache Hierarchien. Von der Piratenpartei zu lernen erfordert von den etablierten Parteien einen großen Schwenk. Auf ihrer Agenda stünde nichts anderes als die Selbstentmachtung der Gremien und Funktionäre zugunsten der Basis. Kurzum, es ginge um die Umwandlung von Funktionärsparteien in Volks-Parteien.

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