Die Enttäuschung

Nach der Bundestagswahl 2002 hat Gerhard Schröder die SPD zur einzigen "wirklich gesamtdeutschen Partei" ausgerufen - dreizehn Jahre nach dem Fall der Mauer. Warum hat es so lange gedauert? In ihrem neuen Buch Aufgewacht. Mauer weg geht Susanne Leinemann der Lähmung der westdeutschen Linken unmittelbar nach der Revolution von 1989 auf den Grund. Die westdeutsche Autorin, Jahrgang 1968, erlebte die letzten Jahre der deutschen Teilung sehr bewusst, nachdem sie sich 1985 in einen jungen Dresdner Fotografen verliebt hatte. Im Kapitel Die Enttäuschung beschreibt sie die Zeit zwischen dem 9. November 1989 und dem 3. Oktober 1990

Wie müde wirkten die großen Revolutionäre von gestern in diesen Tagen, während der kurzen Spanne nach dem Mauerfall und vor der Wiedervereinigung: die Bürgerrechtler im Osten, die ehemaligen 68er und linken Kadertruppen der 70er im Westen. Eine innerdeutsche Depression hatte sie gepackt, nun krochen sie kaum mehr morgens aus dem Bett. Der plötzliche Mauerfall löste einen Schock bei ihnen aus, Bärbel Bohley kippte nach den Bildern von Schabowskis Pressekonferenz vor Schreck einen Schnaps. "Als dann der erste Trabant durch die Mauer fuhr, bin ich ins Bett gegangen und habe mich selbst für acht Stunden beerdigt."

Tausend Kilometer weiter südwestlich, in der französischen Hauptstadt, reagierte Patrick Süßkind ganz ähnlich. Aus dem Radio erfuhr er kurz nach 19 Uhr von der ab Mitternacht geplanten Grenzöffnung und ging ganz zufrieden essen. "Noch war die Welt in Ordnung." Reformen und Freizügigkeit waren auf gutem Wege in der DDR, das fand sein Wohlgefallen. Doch als der Schriftsteller Stunden später zurückkehrte und wieder das Radio anstellte, musste er nicht nur entsetzt erfahren, dass in Berlin eine "Art Karnevalsstimmung" ausgebrochen sei, sondern bekam auch ein Interview mit dem Sozialdemokraten Walter Momper, dem Regierenden Bürgermeister, zu hören, das ihn völlig aus der Bahn warf: "Ich war wie vom Schlag getroffen. Ich glaubte mich verhört zu haben. Ich musste den Satz laut nachsprechen, um ihn zu begreifen: ‚Heute nacht ist das deutsche Volk das glücklichste Volk auf der ganzen Welt‘ - und begriff ihn trotzdem nicht. Hatte der Mann nicht mehr alle Tassen im Schrank? War er betrunken? War ich′s? Was meinte er mit ‚das deutsche Volk‘? Die Bürger der Bundesrepublik oder die der DDR? Die West- oder die Ost-Berliner? Alle zusammen? Womöglich sogar uns Bayern? Am Ende gar mich selbst? Und wieso glücklich? Seit wann kann ein Volk - gesetzt, es gäbe überhaupt so etwas wie das deutsche Volk - glücklich sein? Bin ich etwa glücklich? Und weshalb befindet Walter Momper darüber?" Fragen über Fragen. Wie verkarstet musste man sein, dass man sich in so einer friedlichen und wundervollen Nacht nicht spontan der Euphorie hingab und mitfühlte. Die verspannten Reaktionen in Ost und West hätten uns alarmieren müssen: Die waren doch völlig von der Rolle!

Die ewigen Aktivisten mussten sich erst mal setzen und ein wenig nach Luft schnappen. Vor ihren Augen wurden die geliebten Wartesäle der Geschichte zerstört, an denen sie so hingen, in deren engen Grenzen ihre legendären Emanzipationsbewegungen stattgefunden hatten. Besonders routiniert beherrschten sie in den Räumen das Spiel "Ziviler Ungehorsam". Auch wenn sie nie zu den Vorstehern des Wartesaals gehört hatten, fühlten sie sich immer als dessen schillerndste Gäste - exotisch und beweglich, schön und selbstverliebt, ehrlich und radikal. In beiden Deutschlands tricksten sie die Autoritäten aus, führten sie genüsslich vor. Organisierten an ihnen vorbei wilde Hinterhofpartys mit Jazzrock-Feten und Kunst-Happenings, während sie zunehmend sichere Posten in irgendeiner DDR-Nische fanden. Weiter westlich begannen sie mit riesigen Sit-Ins und zogen sich später in ihren antiautoritären Wohnküchen zurück, wo sie über Häuserkampf, Steinwürfe und Molotowcocktails berieten, bevor sie sich wieder mit Bürgerinitiative und neuer grüner Partei der Gesellschaft annäherten. Erfolgreich hatten sie gegen den Geist des Stalinismus, mit dem sie unter Ulbricht aufgewachsen waren, und die formierte Gesellschaft der Adenauer-Zeit rebelliert. Das geteilte Deutschland war ihre Heimat, hier kannten sie jeweils jeden Zentimeter, jede Fuge, jede Unebenheit.

Beide Seiten wollten ihre Wartesäle zwar renovieren und das System reformieren, aber es nie gänzlich abschaffen - statt Sozialismus lieber Demokratischer Sozialismus, statt Demokratie besser Basisdemokratie. Am 2. Oktober 1990 - einen Tag vor der offiziellen Vereinigung - sprach die Grünen-Politikerin Antje Vollmer offen über ihren Schmerz beim Verlust der gemütlichen Zweistaatlichkeit: "Euch ist die DDR verlorengegangen, ohne dass das Neue schon sichtbar wäre. Aber wir Wessis haben genauso gut jahrzehntelang an der anderen Seite Eurer Mauer gelehnt. So wussten wir, dass wir etwas Haltbares im Rücken haben und haben pfeifend gen Westen geguckt. Auch wir sind nach dem Fall der Mauer ein wenig umgefallen." Die Nachkriegskinder vermissten schmerzlich ihre engen, aber vertrauten Spielzimmer, die allerdings einen ganz kleinen Nachteil hatten: Nachfolgende Generationen - meine zum Beispiel - fanden darin einfach kein Platz.

 


Frustriert hockten die rund 40- bis 50jährigen auf den Sitzgelegenheiten in "D I" und "D II" - wie sich Gerhard Schröder noch im September 1989 ausdrückte, als ob es sich beim geteilten Deutschland tatsächlich um zwei Terminals einer Abflughalle handele - und mussten fassungslos zuschauen, wie die Zwischenwand und die Außenwände vom Volk weggehämmert wurden. Überall gaben schon Löcher den Blick nach drüben und draußen frei, Menschen steckten Kopf und Arme durch die Metallstäbe, mancher versuchte hindurchzuschlüpfen. Von allen Seiten drang der Klang des Klopfens auf die entnervten Revolutionäre von ‘68 und ‘89 ein. Aus dem Wartesaal D II erklang immer öfter die Nationalhymne - gesungen mal in der dritten, mal in der ersten Strophe. Auf den großen DDR-Demonstrationen im November und Dezember 1989 zeigte die Masse Flagge: schwarz-rot-gold. Die führenden Köpfe der Linken hielten sich die Ohren zu, starrten demonstrativ auf den Boden und grummelten vor sich hin. Es muss sie angewidert haben.

Oh weh! Die Revolution rennt einfach über unsere hübschen Pläne hinweg

Alles ginge zu schnell, hieß die Wehklage der linken Republik in Ost und West. Über ihre Köpfe hinweg werde entschieden. Die Wende werde gewendet, nun seien die falschen am Ruder. Statt die Chance auf Veränderungen zu nutzen, würden nun im Konsumrausch alle Reformen plattgetreten. Oh weh! Da kommt die große, friedliche deutsche Revolution und rennt einfach über unsere hübschen Pläne, Projekte und Papiere hinweg. Die ewig Bewegten waren auf einmal selbst bewegungsunfähig. Zwar konnten sie noch eine Menge Blödsinn reden, aber "Aufstehen" - wie es die Bots in ihrer Bewegungshymne besungen hatten - konnten sie nicht. Die Aussicht, die Nation werde nun wie ein bleicher Zombie aus dem Film Night of the Living Dead aus dem Grab wiederauferstehen, paralysierte sie. Ihr Traum der zwei postnationalen Republiken ging zu Bruch.

Verzweifelt klammerten sie sich an ihrem Gepäck fest, das jetzt plötzlich übermenschlich schwer wog. In den Koffern von D I die deutsche Schuld, der deutsche Massenmord, Auschwitz. In den Taschen von D II 160 Kilometer Stasiakten, die nach und nach in diesen Wochen auftauchten und die bis heute dazu dienen, auch dem letzten Bürgerrechtler schmerzhaft den Traum vom Sozialismus auszutreiben. Immer hatte sich die Generation in den letzten beiden Jahrzehnten als aktivster Teil der Gesellschaft verstanden, als Motor, der den Laden Ost und West in Schwung brachte oder hielt. Jetzt verkehrte sich die Welt. Während die Bewegungen der linken Opposition unter der Last der Vergangenheit immer schwerer würden, konstatierte Vollmer treffend, werde der Schritt des Kanzlers dank seines Pragmatismus′ von Tag zu Tag leichter. Die Mahnung war das Lied der Stunde: "Aber die Chance für eine zivile Zukunft der Deutschen liegt gerade in der Chance, die beiden Vergangenheiten, die Erfahrung der Diktatur von links und die Erfahrung der Diktatur von rechts, nie wieder aus ihrem historischen Gepäck zu entlassen. Und da muss man manchmal langsamer vorangehen, wegen dieses Gepäcks."

Aber wer klammerte sich hier an wen? Merkte die deutsche Linke etwa erst im Angesicht der drohenden Wiedervereinigung, wie schwer es wiegt, einem Volk von ehemaligen Massenmördern anzugehören? Wohl kaum. Natürlich ist es hart, zu entdecken, dass einige Landsleute - darunter auch geliebte und befreundete Menschen - fast bis zum Schluss der DDR eifrig für das System spitzelten und denunzierten. Doch ich werde den Verdacht nicht los, dass ihnen die lähmende Wirkung dieser Erkenntnisse ganz guttat. Wer sich vor Deutschland so gruseln darf, muss sich mit Deutschland nicht freuen. Sie benutzten die deutsche Vergangenheit, um sich aus der deutschen Einheit herauszuhalten. Tatsächlich würde in beiden Feldern - bei der Aufarbeitung der NS-Vergangenheit wie der Stasi-Geschichte und DDR-Diktatur - in den nächsten Jahren ein bis dahin nie gekannter Aktionismus einsetzen. Neue Stiftungen, Museen und Gedenkstätten wurden gegründet, Projekte initiiert, Debatten geführt. Die Wehrmachtsausstellung von Hannes Heer prägte die junge wiedervereinigte Bundesrepublik wie keine andere. Diese Themen trafen und treffen den Zeitgeist. Natürlich ist gegen steigende Besucherzahlen in den Gedenkstätten Buchenwald oder Hohenschönhausen nichts einzuwenden - im Gegenteil. Je mehr Menschen diese Orte sehen und die Verbrechen begreifen, desto besser. Aber wo, bitte, blieb die Gegenwart? Denn zeitgleich gingen in Deutschland ungeheure Veränderungen vor sich.

Es war ja nicht so, dass es für eine deutsche Linke nichts zu tun gegeben hätte - nur für eine Linke, die sich der Einheit innerlich verweigerte, gab es in der Tat keine Verwendung. Also wurden die DDR und ihre marode Wirtschaft auf eine Art abgewickelt, wie es eine aktive Linke nie hätte zulassen dürfen. Die Treuhand durfte viel zu eigenmächtig und unkontrolliert arbeiten. Ohne Phantasie schloss man riesige Kombinate einfach von einem auf den anderen Tag und schickte Zehntausende in deprimierende ABMs und SAMs, bis man sie Jahre später erleichtert in den Vorruhestand entlassen konnte. In meinem ostdeutschen Bekannten- oder Freundeskreis hat jeder mindestens einen Elternteil, der zeitweise oder für immer in der Arbeitslosigkeit landete. Das hätten Staat und Wirtschaft einmal flächendeckend mit unseren Eltern im Westen machen sollen. Nie habe ich dagegen einen wirklich lauten, leidenschaftlichen Protest derer in den alten Bundesländern gehört, die sich doch für das soziale Wohl der Republik immer besonders verantwortlich fühlten. Ich würde ja schon wie ein Jammerossi reden, kriegte ich sogar einmal auf einer Fete bei älteren Freunden - alles Sozialdemokraten und Grünen-Wähler - zu hören, als wir am Büfett zwischen Carpaccio und Tiramisu darüber diskutierten. Dabei waren es ihre Altersgenossen, die drüben als ganze Generation abgewickelt wurden.

Wir hatten doch Übung in Menschenketten. Aber jetzt? Für die?

Für den Start in ein neues Deutschland wollte sich kaum einer recht ins Zeug legen. Wo blieben denn die großen übergreifenden Aktionen, in denen sich die West-Linken mit den Ost-Linken solidarisierten? Zum Beispiel am 3. Dezember. Da kam es zu einer eher späten, aber ziemlich beeindruckenden Aktion in der DDR: Hunderttausende bildeten an einem Sonntag um 12 Uhr eine Menschenkette, die das Land von Nord nach Süd und West nach Ost durchzog. Sie soll ziemlich geschlossen gewesen sein - und tatsächlich erinnere ich mich noch an die Bilder in der Tagesschau. Ernste Menschen auf Kopfsteinpflaster, in Städten, sogar irgendwo auf einer Landstraße weit außerhalb eines Ortes. Ein Zeichen für die Demokratie. Hätten wir sie nicht verlängern können bis Kassel, Hannover, Nürnberg? Vielleicht sogar noch von Hannover bis Aachen und von Nürnberg bis München. Als unterstützende Geste für die Reformer in der DDR. Als Zeichen, dass auch wir verstanden hatten, es würde sich bald etwas ändern - in beiden Teilen Deutschlands. Als Willkommensgruß, der uns nicht mal DM-Scheine gekostet hätte. Wir hatten doch Übung in Menschenketten. Für jeden sterbenden Baum, gegen jede neue Rollbahn auf einem Flughafen, für tausend gute und gegen tausend schlechte Dinge waren wir doch schon auf die Straße gegangen. Aber jetzt? Für die? Für Deutschland? Wäre das nicht zu weit gegangen, eine Einmischung in die inneren Angelegenheiten der souveränen DDR?

Niemand hat am Anfang die scharfe Trennung zwischen Ost und West so sehr betont wie die politische Linke. Sie taten das aus Bedacht, aus Rücksicht. Es sollte doch ein freundliches Geben und Nehmen sein, kein Übernehmen. Die Bürgerrechtler im Osten schafften es nicht, ohne ein Gefühl nagender Minderwertigkeit mit den Genossen im Westen zusammenzuarbeiten. Die linken Westler konnten sich nicht mit der untergehenden DDR beschäftigen, ohne in den Selbstverdacht zu geraten, sich als Kolonialist die Hände schmutzig zu machen.

Nicht, dass sich alle der Wiedervereinigung verweigert hätten. Im Gegenteil. Die SPD bekannte sich als erste zur ostdeutschen Schwesterpartei SDP und sprach sich fast zeitgleich mit Helmut Kohls Zehnpunkteplan für Zusammenwachsen und Einheit der beiden deutschen Staaten aus. Sie stellte relativ früh fest, dass Einheit und Reformen nach dem 9. November untrennbar zusammengehörten. Wirkliche Wiedervereinigungsgegner hielten am längsten am äußeren linken Rand durch - im Westen bei den Grünen, im Osten manches Mitglied des rapide schrumpfenden Neuen Forums und natürlich die Genossen der SED-PDS. Doch nur wenige Demonstrationen fanden unter dem Motto "Unheilbares Deutschland" oder "Wider Vereinigung" in West und Ost statt.

Trotzdem: Der Vorbehalt war auch bei der SPD nicht zu überhören. Kanzlerkandidat Oskar Lafontaine, ein Westdeutscher durch und durch, wurde nicht müde, erst die Kosten des weiterhin anhaltenden Umsiedlerstroms von Ost nach West und dann die der Wiedervereinigung vorzurechnen - mit dem Blick nach Westen, mit dem Rücken zum Osten gesprochen. Seinen Reden und Appellen mangelte es an Freude, Glück, Rührung über die historische Entwicklung. Diesen Part überließ er gerne dem Ehrenvorsitzenden Willy Brandt, dem Alterspräsidenten der Herzen. Aber ewig dunkel zu mahnen - ähnlich wie Günter Grass oder Erich Kuby - reichte jetzt nicht. Lafontaine wirkte wie jemand, der sich ein tiefes Gefühl abgebunden hatte. Dem irgendwo im Innern etwas vertrocknet war. Er blieb wie so viele distanziert.

"Ich war nicht darauf vorbereitet, ein Deutscher zu sein"

Dabei hätte es doch gereicht, sich die Freude der ersten Tage zu Kopf steigen zu lassen. Sich überwältigen zu lassen - ohne gleich einen Fahnenmast im Garten aufzustellen. So wie es dem DDR-Schriftsteller Uwe Kolbe einige Monate vor dem Mauerfall ergangen war. "Ich war nicht darauf vorbereitet, ein Deutscher zu sein", überschrieb er im Februar 1989 seinen Text und traf damit das Gefühl so vieler. Zwei Jahre zuvor hatte er dank eines Visum von Ost-Berlin nach Hamburg ziehen können. Dieses deutsche Doppelleben in Ost und West führte bei ihm - etwas verfrüht - zur inneren Einheit. "Ich fuhr inzwischen in Landschaften hinein, hörte Namen und sah in Täler hinab, die mir eins ums andere die Tränen hervortrieben. Was mich zurückversetzte in Gefühlswallungen der Pubertät, womit ich konfrontiert war, es hieß: Deutschland."

Dabei hatte er sich wie so viele andere lange mit seiner Nationalität gequält, quälte sich auch weiterhin - dem Ettersberg-Trauma, in der Sprache schreiben zu müssen, die sowohl Goethe als auch die SS benutzt hatten. Der "vertrackte Knoten". Trotzdem ließ er das verschüttete Nationalgefühl aufsteigen und bis an die Oberfläche dringen; er schaffte es sogar, darüber zu schreiben. Er vernachlässigte dabei das bestechend vernünftige Argument, Deutschland als Einheitsstaat sei die kürzeste und unglücklichste Phase unserer Geschichte gewesen. Das einzige, was uns Deutsche wirklich verbinde, sei doch die Tatsache, dass wir national nicht bindungsfähig seien. Teilung und Kleinstaaterei wären sozusagen unser natürlicher Aggregatzustand. "Denn was gehört denn da zusammen, bitte sehr? Gar nichts! Im Gegenteil: nichts Unzusammenhängenderes lässt sich denken als DDR und BRD! Verschiedene Gesellschaften, verschiedene Regierungen, verschiedene Wirtschaftssysteme, verschiedene Erziehungssysteme, verschiedener Lebensstandard, verschiedene Blockzugehörigkeit, verschiedene Geschichte, verschiedene Promillegrenze - gar nichts wächst da zusammen, weil gar nichts zusammengehört", wütete Patrick Süßkind aus seiner Pariser Loge. Doch wer einmal in die DDR gefahren war, wusste: Ganz so einfach war es nicht.

Vielleicht war die Nationenbildung einfach eine Nummer zu groß für die Linken, die Freunde der Selbstverwaltung, für gewerkschaftlich engagierte Lehrer und antiautoritär gestimmte Politiker. Für die vielen Pfarrer, Friedhofsgärtner und Künstler, die irgendwo in der DDR lange Jahre gepflegte Gesprächsrunden im kleinen Kreis geführt hatten. Sie liebten ihren Mikrokosmos. An der Basis war die Welt noch in Ordnung. Je kleiner, je autonomer, je dezentraler, desto anständiger. Wenn sich die linke Bundesrepublik den neuentdeckten Brüdern und Schwestern vorstellte, dann wirkte es fast, als ob sich die Tore zum beschaulichen Zwergenland öffneten, indem es heiter temperiert zugeht und alles biologisch abbaubar ist.

Öko-Chianti und Naturfaser-Teppiche für die Ossis

So besuchten im Februar 1990 Schüler aus Eisenach auf Einladung des Landes Hessen die nahe gelegene Residenzstadt Kassel. Was konnten sie da nicht alles Tolles entdecken! Sie durften einen Öko-Chianti probieren, der nicht durch einen Asbestfilter geflossen war. Besuchten einen kleinen Biobaumarkt, um sich giftfreie Farben und Naturfaser-Teppiche anzugucken. Natürlich fehlte auch die Kanne Tee in einem selbstverwalteten Café nicht, in dem 60er-Jahre-Musik lief und hübsche Kerzen auf dem Tisch standen. Auch ein deutsch-türkisches Zentrum stand auf der Liste, damit von den Schülern - unter wacher Aufsicht - schon Mal der Umgang mit Multi-Kulti geprobt wurde. Am Ende aber stand der Höhepunkt dieser Reise: Die Besichtigung einer echten Wohngemeinschaft, kurz WG. "So etwas Chaotisches hatten wir alle noch nicht gesehen, aber irgendwie war es doch urgemütlich. Die Wohnung bewohnten zwei Studenten und zwei Studentinnen, wo jeder sein eigenes Zimmer hat, welches jeder individuell gestalten kann." Das Programm ist hübsch, nett, engagiert - aber es geht so völlig an den Bedürfnissen der Schüler vorbei, dass es sich nicht erst von heute wie eine Realsatire liest.

Denn währenddessen bereiteten die ersten westdeutschen Möbelhäuser ihre Invasion in riesigen Containerverkaufshallen vor, wurden wahrscheinlich die letzten Liter eines benzolverseuchten Rotweins aus Spanien irgendwo zwischen Rostock und Zittau vertickt, ließ McDonald′s in Plauen den Grundstein für das erste Schnellrestaurant legen, hatten ihre Eltern schon dubiose Knebelverträge für Versicherungen oder Zeitschriftenabonnements unterschrieben. Die revolutionäre Idylle explodierte drüben gerade in tausend Fetzen. Also schloss die freundliche Zwergenwelt ihre Fenster und zündete eine neue Kerze an.

Und was drang aus dem Osten nach Westen? Als die SED-Fassade zusammenbrach, als die Mauer zerbröselte, zeigte sich, dass den DDR-Bürgerrechtlern auch nicht viel mehr einfiel, als das, was die Linke im Westen längst praktizierte: Bürgerinitiativen, Grüne Ligen, Arbeitskreise, Netzwerke, Bündnisse, Demonstrationen. Sie eiferten dem westdeutschen Vorbild nach, zerfielen in Einzelaktionen, verloren dabei ihre Geschlossenheit und Kraft. Handgemalte Flugblätter mit Sonnen und Blumen riefen den "Aktionstag für Umwelt und Gesundheit" aus, ostdeutsche Schwule und Lesben gründeten das Bündnis "Lila", irgendwo anders entstanden Frauenforen, die für eine Quote plädierten. Nachdem die übergroße SED als Hauptgegner weggefallen war, wollten viele endlich zu hören sein, jeder hatte sein eigenes, ganz wichtiges Anliegen. Die Zusammenarbeit der Gruppen und Individuen wurde zunehmend schwierig. Ein antiautoritär-autonomer Flügel verhinderte Ende November 1989 die Gründung einer linken Dachorganisation - mit dem Argument, das entspräche einer Wiederbelebung "stalinistischer Parteibürokratie". "Egal wie der Staat heißt, die Umweltbibliothek bleibt", trötete es aus dem Prenzlauer Berg. Das klang für Westdeutsche auf einmal alles sehr vertraut, nachdem in den ersten Wochen noch die ostdeutsche Eigenart bewundert worden war.

Die 89er Revolution verlangsamte sich selbst. "Man hätte wahrscheinlich nur hingehen müssen und ohne Pathos die leeren Plätze einnehmen können. Dialog, Besonnenheit, Appell an die Vernunft, Konsens und überhaupt alles, was die revolutionäre Energie bremsen konnte, waren die Parolen", konstatierte der enttäuschte Theologe Erhart Neubert im März 1990, ein Mitbegründer der Partei Demokratischer Aufbruch. Und die Runden Tische, wirklich neu, beschäftigten sich so sehr mit der Abwicklung der DDR, dass fast nichts von ihren Beschlüssen und Vorschlägen - außer dem Stasiunterlagengesetz - in die vereinigte Bundesrepublik Eingang fand. Ihre Arbeit mag ehrenwert und zeitweise auch wichtig gewesen sein. Aber eine Rolle spielte sie später kaum.

Die Liebe der Linken zum Patchwork, zur bunten, individuellen Gesellschaft, in der jeder seine Schrullen ausleben konnte, stand im Gegensatz zur Einheit, die eine Beschränkung oder sogar das Ende der Vielfalt bedeuten sollte. Also: wählt farbenfroh. Aber schnell war klar - die Mehrheit in der DDR wäre dafür nicht zu erwärmen. Bei einem Flug zum Wahlkampf nach Erfurt im Oktober 1990 versuchte Oskar Lafontaine, die Charakterunterschiede von Ost und West zu begreifen. Er machte es an der Landschaft unter ihm fest: "Aus der Luft stellt sich Westdeutschland als Flickenteppich grad- oder schrägwinklig aneinandergereihter Parzellen dar. In Ostdeutschland sind die Felder größer, akkurater voneinander abgegrenzt, zugeschnitten auf die Produktionsweise großer landwirtschaftlicher Genossenschaften." Der Westen ist schräg und individuell, der Osten liebt es akkurat und kollektiv. Während also der engagierte Westdeutsche die Einheit als Prozess verstanden haben wollte, indem man sich im Laufe der Jahre langsam aufeinander zuentwickeln würde und am Verhältnis wie an einer schwierigen Beziehung arbeiten müsse, hatten viele DDR-Bürger nur einen Wunsch: endlich ankommen. "Keine Experimente mehr! Wir sind keine Versuchskaninchen", sprach schon am 20. November 1989 auf der Leipziger Montagsdemonstration der Werkzeugmacher Hans Teschnau - und traf damit die Stimmung der Massen. Das Begrüßungsgeld werteten die Ostler als Zeichen der offenen Arme im Westen: Hier gehört ihr hin, wir alle sind Deutschland. Warum sollten sie also jemanden wählen, der ihnen wie Oskar Lafontaine erklärte, wenn überhaupt, sei ein wiedervereinigtes Deutschland nur eine Durchgangsstation auf dem Weg zu einem vereinten, staatenlosen Europa. Nicht jeder liebt das Leben als Ort ständiger Selbstfindung und postnationaler Lebensabschnittsbeziehungen.

Als Otto Schily den Ossis die Banane zeigte

Am Abend der Volkskammerwahl im März, der letzten DDR-Wahl, erhielt die Linke die Quittung für diese Politik, an der Ost und West gleichermaßen beteiligt waren. Die SPD kam auf magere 21,8 Prozent, Bündnis 90 nur auf 2,9 Prozent. Dagegen erreichte die CDU alleine 40,8 Prozent, mit ihrer "Allianz für Deutschland" kam sie sogar auf 48 Prozent. Formal waren natürlich die anderen Schuld. Lafontaine meinte, hier habe die Lust auf "Kohl und Kohle" gesiegt. Bundestagsabgeordneter Otto Schily - heute gelernter Innenminister - hielt eine Banane in die Kamera, die er offensichtlich schon in einer Vorahnung in die Tasche gesteckt hatte. Seitdem erklingt in Deutschland die leiernde Litanei von der verpassten Chance Wiedervereinigung. Ohne Kohls Dominanz und seiner Wahlkampfwalze wäre mehr drin gewesen - an Veränderungen, an Reformen, an Chancen, Neues aufzubauen. Anstatt sich einzugestehen: Wir standen ganz schön schlapp da. Die ewig omnipotenten Fans von Love, Peace and Rock ‘n′ Roll, die nie so recht altern wollten, hatten kurzzeitig eine politische Funktionsstörung durchlitten. In dem wahrscheinlich historisch bedeutsamsten Moment, den sie in ihrer Biographie je erleben würden. Nur das erklärt die gallige Wut der Geste von Schily.

Am Ende, als die Wiedervereinigung unmittelbar bevorstand, würde Antje Vollmer - stellvertretend für den Teil ihrer Altersgenossen, die von linker Weltsicht geprägt waren - versuchen, doch noch die Kurve zu kriegen und den friedlichen Weg zur Einheit als Krönung ihres Generationsprojektes nachzeichnen. Nicht weniger als eine Erleuchtung war dafür nötig. Denn angetrieben von dem Wunsch, die Welt vor einem neu erstarkenden Deutschland zu warnen und aufzurütteln, bereiste sie im Sommer 1990 als Kassandra verschiedene europäische Hauptstädte. Doch wohin sie auch flog - überall schienen die EU-Partner relativ ruhig und wenig angstvoll. Frau Vollmer war extrem irritiert. Warum hatten die keine Angst? Bis es sie auf dem Londoner Flughafen wie ein Blitzschlag traf: Die 68er und Bürgerrechtler hatten offensichtlich die deutsche Nation - auf beiden Seiten der Mauer - zu einem Umbau in der Tiefenschicht, im Seelenleben der Gesellschaft gezwungen. "Das Resultat ist eine Art Zivilisierung des Teutonischen. Und das hat nicht Herr Kohl geschafft, das haben wir geschafft: Die Grünen, die ‘68er, die Bürgerinitiativen, die deutschen Intellektuellen. Diese plötzliche Einsicht, dass meine Generation nicht ganz wirkungslos war - das war verblüffend."

Die Einheit war wie ein Eimer kaltes Wasser

Obwohl also die ungeliebte Nation wiederkehren würde, hatte das linke Projekt nicht verloren, sondern recht eigentlich gewonnen. Mit ihrem zivilen Ungehorsam hatten sie den Deutschen Chauvinismus, Faschismus, Nationalismus so weit ausgetrieben, dass sie auch bei einer Nationendämmerung kaum mehr in der Gefahr waren, in vergangene Muster zurückzufallen. Balsam auf der wunden linken Seele. Mit dieser These trat sie auch im Bundestag auf, formulierte sie - während ihre konservativen Gegenspieler laut pöbelten - wie eine Kampfansage: Wir waren machtvoll, wir sind machtvoll, und eines Tages werden wir an die Macht kommen. Tatsächlich. Acht Jahre später trug Antje Vollmer den Titel der Vizepräsidentin des Bundestags.


Doch für mich - wohl auch für viele andere in meinem Alter - war diese späte Kehre nicht ausreichend. Die 68er und die Bürgerrechtler hatten dem Geist der Revolution von 1989 selbst den Schwung genommen und Helmut Kohl zu schnell, frustriert und kampflos, das Feld überlassen. Das hatte Folgen. Viele Jugendliche, gerade im Osten, die sich in den ersten Monaten engagiert hatten, zogen sich - wie wir - von allem zurück, was nach Politik roch. In Ost und West verfolgte man nun zielstrebig die eigenen Interessen weiter: studierte, jobbte, machte Musik, ging an die Börse, reiste, besuchte Clubs, suchte Arbeit, wechselte den Wohnort, besorgte sich einen Internet-Anschluss, telephonierte, kaufte sich einen Golf, hörte Musik und so weiter. Sollte uns keiner mehr mit idealisierten Gesellschaftsmodellen kommen. Die Macht der 68er und ihrer unmittelbaren Nachfolger war gebrochen, auch im Osten verloren die Bürgerrechtler schnell an Boden. Die Einheit war wie der Eimer kaltes Wasser gewesen, den Dorothy aus dem Zauberer von Oz über die Hexe des Westens schüttete und sich damit aus ihrem Bann befreite. Denn die mächtige Frau schrumpft und schrumpft, bis nur noch eine Lache von ihr bleibt. So ging es mir mit meinen linken Vorbildern, sie liefen einfach ein, auf Briefmarkengröße.

Susanne Leinemanns Buch Aufgewacht. Mauer weg ist erschienen in der Deutschen Verlags-Anstalt, München und Stuttgart 2002. 270 Seiten kosten 19,90 Euro.

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