Die FDP-Kaperer
Die 98er" hat man uns ein Mal großspurig in einer Zeitung genannt - eine Gruppe junger Berliner Studenten, die auszog, um die FDP zu übernehmen. Zugegeben: uns hat das damals sehr imponiert. Wir fühlten uns für eine kurze Zeit als Teil von etwas Großem. Wer wir sind? Eine bunte Menge junger Menschen, die den "Crashkurs Politik" belegte, die ein Stück gemeinsamen Lebensweges miteinander gegangen ist, die etwas Neues versuchen wollte, ohne dabei - wie ihre Elterngeneration - den Anspruch zu haben, die Welt zu retten. Wir waren ein Projekt, ein Modellversuch, der nie da ankommen konnte, wo er hingewollt hat. Aber wie fing das alles überhaupt an?
Es fing an im Dezember 1997 als die Studentenprotestwelle über deutsche Unis rollte. Studenten strömten auf die Straße, um gegen überfüllte Hörsäle, leere Bibliotheken und überhöhte Semestergebühren zu demonstrieren. Politiker aller Parteien auf Landes- und Bundesebene lächelten, nickten wohlwollend, hatten Verständnis und Sympathie für die Demonstranten und beteuerten immer wieder, dass sie ja gerne helfen würden, aber leider nichts tun könnten. Angeregt durch einen Artikel in der tageszeitung (von dem Göttinger Politologen Tobias Dürr) fand eine kleine Gruppe Studenten dann den Lösungsansatz: der Marsch durch die personell ausgetrockneten Parteien, genauer gesagt durch die FDP, die sich durch ihre geringe Mitgliederzahl und ihre damalige Regierungsbeteiligung auf Bundesebene auszeichnete. So könne man endlich erreichen, dass die Interessen junger Menschen stärker in der Politik vertreten seien, dass die Verfilztheit der Parteien sich etwas lichtet und öffnet für neue Ideen von neuen Leuten.
3000 Studenten mussten es sein, die in den FDP-Landesverband eintreten, dann hätte man die Mehrheit - bei einer Zahl von über 100.000 Studenten in Berlin schien dies ein erreichbares Ziel. Erreichbar war es: nach zwei Monaten hatten wir die erforderlichen Aufnahmeanträge gesammelt. Aber die Schwierigkeiten auf dem Weg dahin hatten wir bei weitem unterschätzt. Es galt ein Büro zu organisieren, Flyer und Plakate zu drucken, Infostände aufzubauen, die Medien zu informieren, und das alles ohne jegliches Kapital, ohne Unterstützung durch die studentischen Selbstverwaltungsgremien oder sonstige Organisationen. Von Seiten der Universitätsverwaltungen bekamen wir sogar extremen Widerstand zu spüren. "Parteienwerbung" nannte man das, was wir machten, und verbannte uns mit unseren Informationsständen aus den Universitätsgebäuden. So sammelten wir also vor den Unis Mitgliedsanträge für die FDP im Januar und Februar 1998, draußen, bei Minusgraden, im Schnee.
Doch neben diesen logistischen und finanziellen Problemen, die sich durch viel Engagement der Projektmitbegründer bewältigen ließen, hatten wir vor allen Dingen die unpolitische Haltung unserer Kommilitonen unterschätzt. In unserem Enthusiasmus wurden wir immer wieder erschüttert von Studenten, die nach eigenen Aussagen ihre persönliche politische Überzeugung nicht vertreten wissen wollten, die Politik für uninteressant hielten, für unwichtig, oder zumindest für weniger wichtig als das eigene schnelle, ungehinderte Vorankommen im Studium. Viele von ihnen beteuerten beflissen, dass sie ja eigentlich unser Projekt für sehr gut hielten und uns viel Erfolg wünschten - aber doch bitte ohne persönlichen Aufwand für sie. Und dann gab es natürlich noch die Kommilitonen, die schon längst in der FDP oder einer anderen Partei waren, die uns als persönlichen Angriff auf ihre Parteikarriere sahen und auf die Strukturen, mit denen sie sich doch arrangiert hatten, und deshalb selbst zum Angriff gegen uns rüsteten, wenn auch ohne messbaren Erfolg.
Diese erste Phase des Projektes war geprägt von großem Elan, von viel Eigeninitiative. Es war eine spannende Zeit, die viel Neues für uns alle bereithielt. Dieser Schwung lief ins Leere, nachdem die Phase des Sammelns abgeschlossen war und die Anträge in einer großen Medienaktion übergeben worden waren. Die Wochen und Monate, die folgten, waren bestimmt vom Warten auf Aufnahmegespräche, die sich über Wochen hinzogen, unter teilweise kuriosen Bedingungen, wie sich herausstellte. Von persönlichen Gesprächen, zu denen um 23 Uhr eingeladen wurde, bis hin zu Großveranstaltungen, bei denen die Studenten zwar kurz begutachtet, aber pauschal abgelehnt wurden, gab es diverse Spielarten solcher Termine - wenn man auch sagen muss, dass die meisten von ihnen durchaus fair abliefen.
Allerdings zog sich die Aufnahmeprozedur über einen derart langen Zeitraum hin, dass das Projekt langsam begann, sich zu zerfasern. Das ewige Warten darauf, dass endlich etwas passieren möge, machte viele von uns mürbe und förderte noch ein weiteres elementares Problem zu Tage: Bei der Idee zu der Aktion war es darum gegangen, junge Menschen ihre eigenen politischen Vorstellungen in eine Partei einbringen zu lassen. Bald stellte sich jedoch heraus, dass diese Vorstellungen zum Teil unendlich weit voneinander entfernt waren oder aber noch gar nicht existierten. Viele der Antragsteller hatten eine politische Konsumentenhaltung, die die Projektgründer nicht befriedigen konnten. Der Wille zur Eigeninitiative, zur eigenständigen politischen Diskussion, war selbst bei den Kommilitonen, die mitgemacht hatten, nur wenig vorhanden.
Nach anderthalb Jahren, im Herbst 1999, erklärten wir das Projekt für beendet. Die Bilanz wies 250 Studenten aus, die noch Mitglied der FDP waren, eine gute Hand voll Aktiver, die in kurzer Zeit sehr viel darüber gelernt hatten, wie Politik funktioniert und diverse Eintritte ehemaliger FDP-Kaperer in andere Parteien. Manche von ihnen sind zu den Grünen gegangen, ein paar zur SPD, sogar einen Übertritt zur PDS haben wir zu vermerken - nur zur CDU ist nach unserer Kenntnis niemand gegangen. Jeden einzelnen von ihnen betrachten wir als persönlichen Erfolg: weil es ein junger Mensch mehr ist, der sich aktiv in das politische Geschehen einmischt in der Partei, die ihm am nächsten liegt.
Im Rückblick erhält das ganze Projekt gerade in bezug auf die aktuellen Entwicklungen eine Bedeutung, die uns damals nicht bewusst war. Unser naiver Versuch, die verkrusteten Strukturen unserer Parteiendemokratie an einer Stelle aufzubrechen, scheiterte und belegt damit symptomatisch die Abgeschlossenheit unseres politischen Systems. Die Parteien erwiesen sich am Ende doch als Kaste, in die man entweder nicht aufgenommen wird, oder die in ihren Strukturen so erschreckt, dass man ihr nicht angehören will.
Wir alle, die aktiv an diesem Projekt teilgenommen haben, haben in dieser Zeit sehr viel gelernt, darüber, wie Parteien intern funktionieren, darüber, wie Politik in diesem Land gemacht wird, wir haben sehr viel gelernt über die Art von Menschen, die Politik betreiben und am Ende auch über uns selbst. Für viele von uns ist Politik zu einem Bestandteil unseres Lebens geworden, und das, obwohl - oder vielleicht gerade weil - uns die Vielzahl dieser Erkenntnisse, die wir im Schnelldurchlauf gesammelt haben, die politische Unschuld geraubt hat. Der Enthusiasmus, der Idealismus und der Elan sind zu weiten Teilen Ernüchterung und oft auch Resignation gewichen. Und doch ist der Wille, etwas verändern zu wollen, bei den meisten geblieben. Nur muss nun jeder seinen eigenen Weg finden, dies zu tun - in der FDP oder anderswo.