Die Gesellschaft der Unterschiede: Ein neuer Blick aufs neue Deutschland
Vor 15 Jahren ereignete sich in der DDR die „Wende“ genannte Revolution, zehn Jahre später gründeten einige junge SPD-Bundestagsabgeordnete die Zeitschrift Berliner Republik. Der Titel ließ einen hehren Anspruch vermuten. Und einen neuen, anderen Blick auf das vereinigte Deutschland: nicht mehr allein in der Zeit von vor 1989 geprägt, nicht mehr ausschließlich westdeutsch. Einen Blick, der die Perspektive des neuen, des künftigen Landes ohne West- oder Ostalgie analysieren und entwickeln helfen wollte.
Hat das Blatt diesem impliziten Anspruch Genüge getan? Das Fazit vorweg: Mehr als in allen anderen Publikationen hat in dieser Zeitschrift eine jüngere Generation ihr Sprachrohr gefunden, die ein neues Deutschland – die Berliner Republik eben – als Bezugspunkt ihrer Überlegungen und Ideen voraussetzt. Logisch, dass solch ein Blatt von Vertretern anderer Generationen und Prägungen auch angefeindet wird. Aber irgendwann ist eben Schluss mit der Zukunftsfähigkeit jeglicher Früher-war-alles-besser-Mentalität, ganz gleich, ob sie sich aus Ho-Ho-Ho-Tschi-Minh-68er-Zeiten, aus legendären Juso-Bundeskongressen des Jahres 1971 oder verpassten Dritte-Weg-Chancen in der DDR speist.
Diese neue Generation, gebürtig in Ost und West, diskutiert heute – pfleglich dirigiert von Chefredakteur Tobias Dürr – in der Berliner Republik Themen, die das gesamte Deutschland betreffen, ohne dabei die besonderen Erfahrungen der beiden weiterhin existierenden Teilgesellschaften in Deutschland auszublenden. Wichtig ist daran, dass die Berliner Republik diese Existenz der beiden Teilgesellschaften in einem Land nicht negiert, sie aber auch nicht ausschließlich durch die Erfahrungen und Prägungen von 40 Jahren DDR oder westdeutscher Bundesrepublik (alt) erklärt. Denn die ost- und die westdeutsche Teilgesellschaft im vereinigten Land existieren auch deshalb weiter, weil die Prägungen nach 1989 so unterschiedlich waren und weiterhin sind.
Die Reformpolitik muss besser werden
In einer ehemaligen ostdeutschen Industrieregion zu leben, die seit mehr als einem Jahrzehnt gut 30 Prozent Arbeitslosigkeit ertragen muss, bedeutet nun einmal eine andere Sozialisation, aber auch einen anderen Blick auf die Wirklichkeit und Zukunft dieses Landes als aus dem Göttinger oder Tübinger Uni-Biotop, aus dem Großraum München oder Berlin Mitte heraus. Diese eigentlich selbstverständliche Einsicht ist für viele Menschen offenbar schmerzhaft, für andere einfach nur lästig – die hektischen, nervösen, teilweise hysterischen Reaktionen auf die östlichen Montagsdemonstrationen des vergangenen Sommers machten das deutlich. Doch genau diese Einsicht ist nötig, wenn wir in diesem Land die vor uns liegenden Herausforderungen bestehen wollen.
Die notwendige Reformpolitik für unser Land muss besser werden. Besser werden auch dadurch, dass sie die differenzierte Lebensrealität und daraus resultierende unterschiedliche Einstellungen und Prägungen zur Kenntnis nimmt, sie einbezieht und – wo nötig – auch differenzierte politische Antworten gibt. Die Debatten in der Berliner Republik leisten dazu einen wichtigen Beitrag.
Der Zeitgeist prägt eine jede Zeitschrift – eine gute Zeitschrift prägt aber auch den Zeitgeist. Die Berliner Republik hat diesen Anspruch. Eingelöst hat sie ihn bisher sicherlich nur in Ansätzen. Aber die Ansätze sind gut. Und sie sind – für eine politische Zeitschrift nicht selbstverständlich – auch gut lesbar. Wenn die Berliner Republik auf diesem Weg bleibt, kommt vielleicht auch die Berliner Republik auf ihrem schwierigen Weg ein Stück voran.