Die hemmungslose Herrschaft des Finanzkapitals
SOKRATES: „Jene Verfassung, die auf der Vermögensschätzung beruht, in der die Reichen herrschen und die Armen keine Macht haben.“
Platon, Der Staat
Im Herbst 2008 erschütterte die Finanzkrise die Weltwirtschaft mit der Wucht eines Tsunami. Für kurze Zeit sah es so aus, als würde das Geld- und Bankensystem völlig zusammenbrechen. Rasch geschnürte staatliche Rettungsprogramme von bislang unvorstellbarem Ausmaß verhinderten dies. Vorläufig.
Die Kosten waren enorm. Und dennoch: Man hätte sich vielleicht damit abgefunden, wenn die Politik die Lehren aus der Krise gezogen hätte. Wenn das Finanzsystem endlich sicherer wäre und die Menschen in eine bessere Zukunft blicken könnten. Aber nichts davon ist der Fall! Die dringend notwendige Reform des Finanzsektors ist ausgeblieben. Nach einer kurzen Schreckenspause machen die Investmentbanken, Hedgefonds und andere Finanzakteure weiter wie bisher: Ungehindert von der Politik betreiben sie ihr hochriskantes, oft toxisches Geschäft. Mittlerweile fragen sich sogar konservative Denker wie der britische Publizist Charles Moore und der Herausgeber der Frankfurter Allgemeinen Frank Schirrmacher, ob die Kapitalismuskritik des Sozialismus nicht im Grundsatz berechtigt sei. „Das große Versprechen an individuellen Lebensmöglichkeiten hat sich in sein Gegenteil verkehrt“, schreibt Schirrmacher. Einer der Kerngedanken von Charles Moore lautet: Die Reichen dieser Welt haben ein globales System organisiert, das mit seinen Freiheiten und demokratischen Rechten allein ihnen nützt. Die vielen Anderen haben zu arbeiten, um die Reichen noch reicher zu machen.
Sozialismus für Banken und Superreiche
Ein solcher „Sozialismus für Banken und Superreiche“, in dem diese Gruppen auf Kosten des Staates leben, ohne sich angemessen an der Wertschöpfung in der Wirtschaft zu beteiligen, untergräbt die Demokratie. Stattdessen brauchen wir ein faires marktwirtschaftliches Finanzsystem, welches nicht leistungsfreie Kapitaleinkommen belohnt, sondern ermöglicht, dass jeder Arbeitswillige Arbeit findet, man mit einer Vollzeitstelle eine Familie ernähren kann und eine hinreichende Altersversorgung besteht.
Inzwischen haben Investmentbanken und spekulative Investmentgesellschaften nach und nach den Geschäftsbankensektor und die Realwirtschaft überwuchert und sich gefügig gemacht. Ganze Märkte und Staaten tanzen heute nach der Pfeife der Finanzmärkte. Und anstatt die Spekulation einzudämmen, wird diese durch die heutige Gesetzeslage und Finanzmarktregulierung sogar noch gefördert. Der ehemalige Chefvolkswirt des Internationalen Währungsfonds, Simon Johnson, beklagt die „Kaperung“ der Politik durch hemmungslose Privatinteressen und spricht in diesem Zusammenhang von einer Finanzoligarchie.
Dieser Begriff wurde von Louis Brandeis, einem angesehenen amerikanischen Verfassungsrichter, bereits 1913 geprägt. Die Finanzoligarchie, bestehend aus Investmentbanken, Hedgefonds, Schattenbanken, Ratingagenturen und weiteren Akteuren, ist die derzeit dominierende zivile Weltmacht. Regierungen erliegen dem Diktat der Finanzmärkte, denen Spitzenpolitiker einen geradezu abgöttischen Respekt zollen. Aber „die Finanzmärkte“ sind nichts anderes als wirtschaftliche, rechtliche und politische Strukturen, die von Menschen geschaffen wurden. Sie sind das Ergebnis der Art und Weise, wie wir alle Politik und Wirtschaft betreiben, nicht deren schicksalhafte Grundlage.
Die Oligarchie verteidigt ihre Interessen
Heute stehen die großen und mächtigen Investmentbanken – in den Vereinigten Staaten an erster Stelle Goldman Sachs, in Deutschland die Deutsche Bank – eindeutig an der Spitze der Nahrungskette. Sie agieren am schnellsten, haben die begabtesten Finanzingenieure und außerdem beste Verbindungen in Regierungskreise. Den mächtigen Akteuren arbeiten Wirtschaftsprüfungsgesellschaften, willfährige Regierungen und Regulierungsbehörden als Erfüllungsgehilfen zu. Es geht hier nicht um „Verschwörungen“, sondern um soziale Herrschaftsstrukturen – wie sie die kritische Sozialwissenschaft seit jeher analysiert. Die Oligarchie hat keinen Masterplan, aber sie verteidigt ihre Interessen.
Dabei sind unregulierte Finanzmärkte höchst gefährlich. Sie werden von starken Emotionen getrieben und schwanken extrem. Spekulation kann die Realwirtschaft massiv schädigen. Wenn das Kapital an eine bestimmte Stelle strömt – zum Beispiel in spanische Immobilien – und dort eine Spekulationsblase erzeugt, fehlt es woanders – etwa bei der Renovierung deutscher Schulen. Wird eine Technologieblase aufgebläht, fehlt das Kapital in der produzierenden Industrie.
Nach der Weltwirtschaftskrise von 1929 wurde in den USA mit der gesetzlich vorgeschriebenen Trennung von Investmentbanken und Geschäftsbanken sichergestellt, dass nicht mehr mit dem Geld der Sparer spekuliert werden konnte. Zum Zocken einladende Finanzprodukte, zum Beispiel Derivate, wurden verboten und der internationale Zahlungsverkehr durch das Bretton-Woods-System reguliert. Damit tat man genau das, was Jahrzehnte später der damalige Bundesfinanzminister Peer Steinbrück im Oktober 2008 forderte: Es wurden Brandbeschleuniger entfernt und Brandschutzmauern eingefügt.
Das Finanzkapital dient heute nicht mehr der Realwirtschaft, sondern hat sich zum Herrscher über Realwirtschaft und Politik aufgeschwungen. Mit der Folge, dass die Einkommens- und Vermögensverhältnisse in den Industrienationen auseinander driften, die Alters- und Krankenversicherungssysteme erodieren, öffentliche Investitionen in Bildung, Wissenschaft und Infrastruktur ausbleiben und öffentliche Güter wie Infrastruktur und Wissenschaft zunehmend in Privateigentum überführt werden.
Es führt auch dazu, dass blühende Industrieunternehmen von renditesüchtigen Finanzinvestoren ausgesaugt und dann weggeworfen werden. Private-Equity-Gesellschaften profitieren dabei ganz konkret von einer Politik, die die Spielregeln zu ihren Gunsten festlegt. Beispielsweise müssen sie wesentlich weniger bilanzieren als jeder Industriekonzern, während produzierende Unternehmen und Banken nach den Regelwerken International Accounting Standard (IAS) und Basel II gezwungen sind, immer kurzfristiger und detaillierter zu bilanzieren.
Die Basis einer marktwirtschaftlichen Ordnung ist das Eigenkapital. Wer viel eigenes Geld in ein Unternehmen oder eine Investmentgesellschaft steckt und damit haftet, wird sich in der Regel verantwortlicher verhalten als jemand, der vor allem mit fremdem und geliehenem Geld arbeitet. Aber ausgerechnet die Investmentbanken und spekulativen Finanzgesellschaften müssen kaum Eigenkapital vorhalten, sondern können fast grenzenlos mit fremdem Geld spekulieren. Als Konsequenz hat zum Beispiel die Deutsche Bank tatsächlich weniger als zwei Prozent (sic!) Eigenkapital in ihrer Bilanz. Wenn sie sich verzockt, wird sie durch unsere Steuergelder gerettet. Genau das bezeichne ich als „Sozialismus für Banken und Finanzdienstleister“: eine Wirtschaftsordnung, die Banken weitgehend vom Risiko der Spekulation freistellt und leistungsfreie Einkommen für Banken, Finanzdienstleister und Superreiche schafft.
Unproduktive Einkommen werden begünstigt
Auch die Besteuerung von Kapitaleinkünften zeigt die subtilen Machtverschiebungen zugunsten leistungsfreier Einkommen und der Finanzoligarchie. Ein faires Steuersystem würde alle Einkommen gleich besteuern und vielleicht politisch gewollte Ausnahmen machen, etwa zur Begünstigung der Arbeit von Geringverdienern oder sozialer, kultureller oder wissenschaftlicher Zwecke. In den Steuersystemen der meisten Industrienationen werden heute aber Kapitaleinkünfte wie Zinsen, Dividenden und Spekulationsgewinne wesentlich geringer besteuert als Arbeitseinkünfte. Die Konsequenz: Unproduktive Einkommen werden begünstigt, produktive Arbeit wird benachteiligt.
Im Frühjahr 2010 wurde immer deutlicher, dass Griechenland seine Staatschulden nicht mehr bedienen konnte. Der Staatsbankrott drohte. Daraufhin entspann sich ein Drama, das uns bis heute in Atem hält. In der Politik wird seither die Abwendung einer griechischen, zuweilen auch irischen oder portugiesischen Staatsinsolvenz als Schicksalsfrage für Europa hochstilisiert. Der luxemburgische Premierminister Jean-Claude Juncker wird nicht müde zu betonen, es gehe um den Erhalt der europäischen Idee. Er scheut sich auch nicht, das Wort „Krieg“ in den Mund zu nehmen und damit absurde Ängste zu wecken.
»Private gläubiger« – ein Propagandabegriff
An diesem Drama ist nichts so, wie es scheint. Warum wird Griechenland überhaupt zur Schicksalsfrage für Europa hochstilisiert? Im Fall einer Staatsinsolvenz erklärt der Staat seinen Gläubigern, dass er zahlungsunfähig ist und seine Schulden nicht mehr bedienen kann. Oft einigen sich dann Schuldner und Gläubiger auf einen teilweisen Schuldenerlass oder eine Umschuldung. In der Geschichte des modernen Finanzsystems ist dieses Vorgehen bereits viele Male durchexerziert worden, zum Beispiel nach der lateinamerikanischen Schuldenkrise von 1982.
Bei einer Insolvenz kann der Schuldner einen Beitrag leisten, um aus seiner verfahrenen Situation herauszukommen, indem er Sparauflagen erfüllt und Vermögen veräußert. Die Gläubiger ihrerseits leisten einen Beitrag, indem sie auf einen Teil ihrer Forderungen verzichten. Genau hierum geht es bei der aktuellen Diskussion um die Beteiligung der „privaten Gläubiger“ an der Behebung der griechischen Haushaltsmisere.
Dabei ist der „private Gläubiger“ wieder so ein irreführender Propagandabegriff der Finanzoligarchie. Denn „privat“ suggeriert, dass es sich hierbei um einfache Bürger handelt. Nichts liegt der Wahrheit ferner. Private Gläubiger sind Banken und Finanzdienstleister – allen voran griechische Banken, die häufig in der Hand griechischer Milliardäre und Oligarchen sind. Das sind die Akteure, die wir nun europaweit „retten“ – nicht den Euro, nicht Griechenland und auch nicht die Griechen. Die Steuern zahlende Allgemeinheit ist die dritte Gruppe, die sich daran beteiligen kann, einen insolventen Gläubiger zu sanieren.
Doch auch die Bürger der betroffenen Krisenstaaten gehören zu den Leidtragenden dieses perfiden Spiels. Im Rahmen der „Rettung“ werden etwa Griechenland enorme Sparanstrengungen aufgebürdet. Von 2010 auf 2011 reduzierte das Land sein Haushaltsdefizit bereits um fünf Prozentpunkte – das ist eine der größten Anstrengungen, die jemals von einem Schuldnerstaat unternommen wurden. Natürlich hätte Griechenland niemals in die Eurozone aufgenommen werden dürfen; natürlich ist die griechische Wirtschaft in weiten Teilen korrupt; natürlich grassiert dort die Steuerhinterziehung. Doch dies alles löst man nicht, indem man das Land zwingt, sich mitten in einer Wirtschaftskrise kaputt zu sparen.
Banken müssen für ihre Fehler einstehen
Statt demagogisch die Angst vor dem Zusammenbruch des Euro zu schüren, müssten unsere Banken erst einmal für ihre eigenen Fehlentscheidungen einstehen – und zwar durch echte Staatsinsolvenzen. Wenn dann einzelne Institute durch die Höhe der Verluste in Schwierigkeiten geraten, können wir immer noch helfen. Wir wissen ja mittlerweile gut, wie das geht.
Ein Schuldenschnitt für Griechenland und die defizitären Südländer und damit eine Beteiligung der Banken und großer Kapitalvermögen an der Behebung des selbst angerichteten Schadens ist unumgänglich, wenn unser Finanzsystem gesunden soll – das wäre der erste Schritt. Darüber hinaus plädiere ich dafür, Griechenland, Irland, Portugal und Spanien aus der Eurozone zu entlassen. Dann könnten diese Länder wieder ihre eigene Wirtschaftspolitik betreiben; durch die Abwertung ihrer Währungen würden sie wieder wettbewerbsfähiger, und die Finanzoligarchie könnte demokratisch gewählte Regierungen nicht mehr erpressen.
Ein solcher Ausstieg aus dem Euro würde nicht billig. Gewiss wäre noch einmal die Solidarität Deutschlands und anderer starker Länder gefragt. Die Krisenländer wären wahrscheinlich kurzfristig von den Kreditmärkten abgeschnitten und benötigten weitere Finanzhilfen. Aber es wäre der beste Weg, um aus der Schuldenspirale auszusteigen und einem harten „Kerneuro“ eine Perspektive zu öffnen.
Die hemmungslose Herrschaft des Finanzkapitals gefährdet unsere Demokratie inzwischen so stark, wie es zuletzt vielleicht vor hundert Jahren in den Vereinigten Staaten der Fall war. Jahrzehntelang sicherten die nach der Weltwirtschaftskrise 1929 eingeleiteten Reformen das Primat der Politik über die Finanzmärkte. Heute aber setzt sich die grenzenlose Herrschaft der Finanzmärkte immer brutaler durch. Chancengleichheit als Grundlage einer modernen Demokratie ist oft nicht mehr gegeben. Unter dem Diktat der angeblich effizienten Finanzmärkte verwandeln wir uns von der Leistungsgesellschaft zurück in eine Klassengesellschaft.
Vier einfache Regeln für das Finanzsystem
Für Reformen bedarf es des flächendeckenden politischen Willens. Und da sieht es düster aus. Dabei helfen viele mit, zum Beispiel ehemalige Politiker und angesehene Wissenschaftler wie etwa Otmar Issing, ehemals Mitglied des Bundesbank- und EZB-Rats, der später beratend in die Dienste von Goldman Sachs trat. Die Banken kaufen damit nicht überwiegend Beratung ein – sie kaufen angesehene Gesichter und Reputation, um genauso weitermachen zu können wie zuvor.
Es wäre gar nicht so schwer, die Situation zu verbessern. Mit vier einfachen Regeln könnten wir das Finanzsystem deutlich gerechter und stabiler machen:
1. Feste Mindesteigenkapitalanforderungen für alle Finanzakteure statt der wachsweichen und manipulierbaren Regeln von Basel II und Basel III würden das System erheblich transparenter und sicherer gestalten.
2. Größenbegrenzungen für Finanzdienstleister würden deren Marktmacht begrenzen und Erpressungen ganzer Staaten durch Megainstitute unmöglich machen.
3. Die Trennung von Geschäfts- und Investmentbanking und die Regulierung der Geschäftsmodelle, wie 1932 in den USA mit dem Glass-Steagall Act erlassen, würde die Spekulation der Banken mit Einlagen ihrer Privat- und Geschäftskunden verhindern.
4. Die Einführung einer Finanztransaktionssteuer würde die Spekulation dämpfen und Kleinsparer – entgegen der Propaganda der Finanzlobby – kaum belasten.
Noch haben wir in Deutschland die Genossenschaftsbanken und die Sparkassen, die viel zur Stabilität und Wertschöpfung unserer Wirtschaft beitragen. Die Idee der Kreditgenossenschaften ist urdemokratisch und 150 Jahre nach ihrer Gründung noch genauso gültig ist wie damals. Lassen wir es nicht zu, dass über Brüssel auch noch diese Stärke der deutschen Wirtschaft zerstört wird!
Deutschland hat immer noch die viertgrößte Volkswirtschaft der Welt. Zur Durchsetzung von Regeln muss Deutschland sich trauen, selbstbewusster seine Positionen zu vertreten. Die Regulierung der Kapitalmärkte ist im Interesse Europas. Deutschland und Frankreich ticken hier durchaus ähnlich. In Kontinentaleuropa geht man nämlich – anders als in den angelsächsischen Ländern – davon aus, dass es so etwas wie das Gemeinwohl gibt und dass der Staat es zu verteidigen hat. Das deutsch-französische Tandem muss sich also zusammenraufen und bei einer sinnvollen Regulierung der Kapitalmärkte eine zentrale Rolle spielen. Wenn Deutschland und Frankreich sich einig sind, können sie auch auf globaler Ebene viel bewegen und endlich das tun, was getan werden muss: unsere Wirtschaft und Gesellschaft aus der Umklammerung der Finanzoligarchie befreien, die europäische Währung nachhaltig stabilisieren und damit im Endeffekt nicht nur die europäischen Staaten in geordnetes Fahrwasser führen, sondern auch einen Beitrag zur Stabilität und Nachhaltigkeit der Weltwirtschaft leisten. Denn wir können nicht ewig für die Herrschaft der Wenigen zahlen. «
Dieser Text ist eine gekürzte, zugleich aber stellenweise gezielt erweiterte Version eines Kapitels aus Max Ottes neuer Streitschrift „Stoppt das Euro-Desaster!“, Berlin: Ullstein 2011.