Die humane Weisheit der Religionen

zu Georg W. Oesterdiekhoff und Hermann Strasser, Die Evolution des Glaubens, Berliner Republik 3/2009

Die Argumentationslinie der beiden Autoren hat einen jahrhundertealten Bart. Dahinter steckt ein Kulturoptimismus und -imperialismus, demzufolge mit dem Verschwinden der Religion Rationalität und Humanität ihr Recht bekommen. Georg W. Oesterdiekhoff und Hermann Strasser schauen mit einem durch nichts gerechtfertigten Hochmut "entwicklungspsychologisch" auf  Gesellschaften herab, in denen Religion als Fundament des Zusammenlebens eine überlebenswichtige Rolle spielt.

Christen zetteln keine Massenmorde an

Die Hoffnung auf mehr Vernunft und Humanität durch Abschaffung der Religion ist mit dem Stalinismus und dem Nationalsozialismus gründlich an ihr Ende gekommen. Beide Ideologien sahen bekanntlich die Religion, besonders das Christentum, als vollkommen überholt an. Doch es waren ja nicht die Christen oder religiöse Fanatiker, die das Massenmorden des vergangenen Jahrhunderts anzettelten, sondern im Gegenteil diejenigen, die gewachsene humane Weisheiten, wie sie in den Religionen verdichtet sind, ihrer Ideologie unterwarfen.

Dass atheistische Gesellschaften humaner und fröhlicher, partizipativer und kreativer seien, müsste also erst noch gezeigt werden. Ich meine umgekehrt, der Verlust an Religiosität geht gerade nicht mit einem Gewinn an Vernunft einher, sondern mit einem Verlust an Humanität, Geschichtsbewusstsein, an poetischer Kreativität und visionärer Kraft. Wobei ich zugleich denke, dass es eine Aufgabe der Politik ist, Religion im öffentlichen Raum diskursiv zu verankern. Denn die gefährlichen (weil fundamentalistischen) Aspekte, wie sie alle Religionen zeitigen, entstehen durch Segmentierung und den Abschied vom gesamtgesellschaftlichen aufgeklärten Diskurs - und durch eine Politik, die die Religionen aus der gesellschaftlichen Verantwortung entlässt und stattdessen versucht, selbst die gesellschaftlichen Wertordnungen zu setzen. Deshalb habe ich mich immer für einen Religionsunterricht an Schulen eingesetzt, wo eine aufgeklärte Religion unterrichtet wird, die in der Lage ist, auf der Höhe der Zeit über ihre Inhalte Auskunft zu geben.

Religion als ein sterbendes, weil entwicklungspsychologisch passageres Konzept zu verstehen, kann somit getrost als ein überholter Standpunkt gelten. Jürgen Habermas hat jüngst das Passende zu dieser Fragestellung gesagt: Er räumte ein, dass der Religion Lebens- und Kreativkräfte zugeschrieben werden können, die mit den bekannten Kategorien nicht zu fassen sind.

Mich erschüttert, dass in einer sozialdemokratisch orientierten Zeitschrift ein solcher Artikel nicht von vornherein diskursiv angelegt wurde. Vielleicht ist dieses Vorgehen symptomatisch für eine Partei, die dabei ist, sich aus ihren evangelischen beziehungsweise christlichen Kooperationen im Dienste dieser Gesellschaft zu lösen.

Stille Kooperation zum Besten der Menschen

Es ist ja unübersehbar, dass es in den vergangenen 40 Jahren in Deutschland in beinahe allen gesellschaftspolitisch wichtigen Sachfragen eine stille Kooperation zwischen der evangelischen Kirche und der SPD gegeben hat - zum Besten der Menschen. Diese Zusammenarbeit scheint zu Ende zu gehen. Und hier hat das Bild, das der Regierende Bürgermeister von Berlin in Sachen "Pro Reli" abgegeben hat, vor allem die Häme nach der Niederlage dieser Initiative bei der Volksabstimmung, auch bundesweit mit Sicherheit auf viele SPD-Wähler einen einschneidenden Eindruck gemacht.

Es könnte also sein, dass es die Aufgabe der Berliner Republik ist, hier einen ausführlichen und differenzierten Dialog anzuzetteln, um die Haltung der Sozialdemokratie in verschiedene Richtungen auszuloten und eine (vielleicht neue) Standortbestimmung zu formulieren. Sofern der vorliegende Essay die "neue" kulturelle Standortbestimmung der Sozialdemokratie demonstrieren sollte, würde dies einen Abschied von gemeinsamen Wertevorstellungen - wie zum Beispiel der Gerechtigkeit - signalisieren, die die Kirchen mit der Mehrheit ihrer Mitglieder immer mitgetragen haben.

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