Die Kommunalwirtschaft lebt!
Als die Bevölkerung im 19. Jahrhundert explosiv wuchs und sich die städtischen Einwohnerzahlen binnen kurzer Zeit vervielfachten, "haben die Städte manche schwierige Herausforderung der Urbanisierungsepoche mit der breiten Palette ihrer Kommunalunternehmen verblüffend produktiv beantwortet", schreibt der Historiker Hans-Ulrich Wehler. Seitdem organisieren die Kommunen - meist in Form von städtischen Betrieben - eine umfassende Daseinfürsorge und halten die nötige Verkehrsinfrastruktur vor: Müllabfuhr, Kanalisation, Wasser-, Gas- und Stromversorgung, Krankenhäuser, sozialer Wohnungsbau, Nahverkehr, Häfen, Flughäfen, Parkhäuser. Darüber hinaus fördern kommunale Unternehmen spätestens seit den zwanziger Jahren den lokalen Wirtschaftsstandort, beispielsweise indem sie Messen und Kongresse veranstalten.
Wo die 68er ein praktisches Ergebnis erzielten
Schon damals geriet der stürmische Aufbau der Kommunalwirtschaft unter starken Beschuss. So agitierten die Unternehmensverbände in der Weimarer Republik gegen die "kalte Sozialisierung". Und die Nationalsozialisten setzten der Kommunalwirtschaft in der Deutschen Gemeindeordnung von 1935 erstmals rechtliche Grenzen, die sich bis heute in den meisten Gemeindeordnungen der Länder wiederfinden.
Eines der letzten Kommunalisierungsvorhaben dürfte im Jahr 1969 die Übernahme des hannoverschen Verkehrunternehmens "üstra" gewesen sein. Der Betrieb war von der damaligen Besitzerin Preußen Elektra völlig abgewirtschaftet worden. Als die üstra deftige Fahrpreiserhöhungen ankündigte, besetzten Studierende die Schienen und legten über Tage den Fahrbetrieb lahm. Die Revolution von Achtundsechzig hatte in Hannover damit ein ganz praktisches Ergebnis: Die Stadt übernahm das Verkehrsunternehmen. Übrigens erwirtschaftete es im vergangenen Jahr erstmals seit Jahrzehnten einen Überschuss.
Spätestens seit den achtziger Jahren befindet sich die Kommunalwirtschaft auf dem Rückzug. Damals begann die neoliberale Wirtschaftslehre, den wissenschaftlichen und öffentlichen Diskurs zu dominieren. Bis vor etwa einem Jahr galt die Privatisierung öffentlicher Unternehmen als die unbedingt richtige Ordnungspolitik. Noch durchschlagender als ordnungspolitische Vorstellungen war die kommunale Finanzkrise. Besonders Großstädte in strukturschwachen Gebieten leiden seit Anfang der neunziger Jahre unter gesunkenen Gewerbesteuereinnahmen und steigenden Sozialausgaben. Aufgrund dieser Zangenbewegung sind die Haushalte chronisch defizitär und weisen ein geradezu beschämend niedriges Investitionsniveau auf.
Diese Entwicklung ist mittlerweile am Zustand der Schulen und Straßen deutlich zu sehen. Auch das grundsätzlich richtige aktuelle Konjunkturprogramm, mit dem kommunale Investitionen gefördert werden, ist nur ein Tropfen auf den heißen Stein des Sanierungsstaus. Um Haushaltslöcher zu stopfen und investieren zu können, haben viele Städte in den vergangenen 20 Jahren ihre Unternehmen verkauft. Andere Städte wie Hannover haben dagegen ihre wichtigen Beteiligungen behalten. Der Verkauf von 24,9 Prozent der Stadtwerke Anfang der neunziger Jahre war sogar eines der größten Verlustgeschäfte der hannoverschen Finanzgeschichte: Die durch den Verkaufserlös eingesparten Zinszahlungen liegen weit unter dem entgangenen Anteil an den Gewinnausschüttungen. Allerdings hat damals niemand mit einer so langen Niedrigzinsphase und so anhaltend hohen Gewinnen der Stadtwerke rechnen können. Klugerweise hat die SPD weitere Anteilsverkäufe verhindert.
Die Bürger wollen nicht "ausgeliefert" sein
Von CDU oder FDP regierte Städte wie Düsseldorf, Braunschweig oder Dresden haben hingegen in großem Umfang privatisiert - und können nun mit Freibier feiern, keine Schulden mehr zu haben. Das hört sich erst einmal toll an. Aber betriebswirtschaftlich dürfte es nicht unbedingt sinnvoll sein, sich in der Niedrigzinsphase zu entschulden und auf hohe Gewinnausschüttungen zu verzichten. Auch die Stadt Hannover könnte wohl ihre kompletten Schulden tilgen, indem sie ihre Energieunternehmen verkauft. Allerdings müsste der Preis extrem hoch ausfallen, damit sich der Verkauf für die Stadtkasse rechnet.
Außerdem sollten in einer Demokratie die Präferenzen der Bevölkerung ausschlaggebend sein, beispielsweise haben die Einwohner von Freiburg und Leipzig eindeutig gegen die Privatisierung des Wohnungsbauunternehmens beziehungsweise der Stadtwerke votiert. Über die Gründe kann lange spekuliert werden. Offenbar spielt das Gefühl eine wichtige Rolle, ausgeliefert zu sein und nichts mehr beeinflussen zu können. In der Tat würde etwa Gazprom ein Stadtwerk nur als Filiale betrachten. Lokale Proteste gegen Preise und Service wären für einen weit entfernten Mutterkonzern wahrscheinlich ebenso irrelevant wie die Sicherung der Arbeitsplätze bei ihren Töchtern.
Mit welcher Strategie durch die Krise?
Derzeit lautet die Kernfrage: Mit welcher Strategie kommt eine Stadt am besten durch die gegenwärtige Weltwirtschaftskrise? Das hannoversche Beispiel vermag zumindest Hinweise zu geben. Ohnmächtig müssen Stadtrat und Verwaltungsspitze derzeit zusehen, wie große Unternehmen der Stadt ins Schlingern geraten. Nur zwei Beispiele: Der weltweit agierende Bierkonzern Inbev schluckt Anheuser-Busch, kann oder will sich die hannoversche Traditionsbiermarke "Gilde" aber nicht mehr leisten. Das älteste Unternehmen in der Stadt Hannover droht unterzugehen. Ebenso unerfreulich ist die Entwicklung um Continental, eines der größten hannoverschen Unternehmen. Die feindliche Übernahme durch Schaeffler und die harte Wirtschaftskrise treffen die Firma ins Mark. Nun stehen Werksschließungen und ein massiver Arbeitsplatzabbau an. Aber gerade jetzt hat die Stadt kein Geld für großzügige Wirtschaftsförderung. Die Gewerbesteuer, die mit Abstand wichtigste Einnahmequelle für den städtischen Haushalt, befindet sich im freien Fall. Dieser Vorzeichenwechsel vollzog sich in atemberaubender Geschwindigkeit: Noch im Jahr 2008 konnte die Stadt Hannover Rekordeinnahmen und den höchsten Haushaltsüberschuss ihrer Geschichte verbuchen.
Auch städtische Beteiligungen geraten ins Straucheln. Beim Flughafen bricht konjunkturbedingt der Umsatz ein; wenn bei diesem Unternehmen am Ende des Jahres eine schwarze Null steht, wäre das bereits ein Erfolg. Noch härter ist die Deutsche Messe AG getroffen, deren Ergebnis entscheidend von den beiden größten Messen der Welt abhängt: der Cebit und der Hannover-Industriemesse. Hier trifft die Weltwirtschaftskrise mit einem seit Jahren strukturell schwierigen Geschäftsmodell zusammen. Denn Unternehmen sparen in der Wirtschaftskrise zuerst bei kurzfristig beeinflussbaren Kosten wie Messebesuchen, wobei das Internet und der gnadenlose Wettbewerb zwischen den vielen Messegesellschaften die Margen im Messegeschäft bereits seit Jahren haben zusammenschnurren lassen.
An dieser Stelle zeigt sich ein gravierender Nachteil der Staats- und Kommunalwirtschaft: Es gibt viel zu viele Messen in Deutschland. Kein Land der Welt hat so viele Messen (und übrigens auch Flughäfen) wie wir! Mit Ausnahme von Frankfurt und Hannover werden alle nationalen Messen erheblich subventioniert, was natürlich zu gravierenden Wettbewerbsverzerrungen führt. Wenn beispielsweise eine süddeutsche Messe für nur fünf Millionen Euro im Jahr ein brandneues Gelände mit optimalen Hallen mieten kann, ist das ein riesiger Wettbewerbsvorteil. Um die Deutsche Messe AG zu stützen, haben sich das Land Niedersachsen und die Stadt Hannover zu einer Kapitalzuführung von 250 Millionen Euro entschlossen. Die Stadt kann ihren Anteil, also 125 Millionen Euro, nur über einen Kredit finanzieren, was zweifellos die finanzträchtigste Einzelmaßnahme der Stadtgeschichte ist.
Was, wenn die Krise jahrelang weitergeht?
Die Kapitalzuführung war keine leichte Entscheidung für Stadtverwaltung und Ratsfraktionen und ist sicher auch kein Ruhmesblatt für die Kommunalwirtschaft. Doch überlegen wir einmal kurz, wie sich ein privater Eigentümer in der jetzigen Situation verhalten würde. Sehr wahrscheinlich wäre der return on investment zu unsicher. Die Folge: Es gäbe keine Kapitalzuführung mehr und damit mittelfristig wohl auch keine Messen in Hannover. Damit gingen allein in der Stadt Hannover mehr als 11.000 Arbeitsplätze verloren! Die Messe selbst beschäftigt zwar "nur" knapp 1.000 Personen, aber die Aussteller und Besucher geben in der Stadt viel Geld aus und schaffen so zusätzliche Jobs. Im Unterschied zu Continental oder Gilde muss die Stadt hier also nicht ohnmächtig zuschauen, sondern kann aktiv versuchen, diese Arbeitsplätze zu halten. Man kann jedoch skeptisch sein, ob das auf lange Sicht gelingt, vor allem wenn die Wirtschaftskrise noch Jahre anhalten sollte.
Kumpelwirtschaft zahlt sich nicht aus
Die Wertschöpfungseffekte aller großen Beteiligungen und Eigenbetriebe der Stadt Hannover sind bekannt. Als erste Großstadt hat Hannover die volkswirtschaftlichen Effekte, die von ihren Unternehmensbeteiligungen ausgehen, wissenschaftlich untersuchen lassen. Das Ergebnis ist beeindruckend: Die städtischen Beteiligungen bewirken eine Gesamtwertschöpfung von 1,5 Milliarden Euro und gut 28.000 Arbeitsplätze. Der Anteil der städtischen Beteiligungen mit ihren Folgewirkungen liegt bei gut sechs Prozent der Gesamtwertschöpfung und bei gut sieben Prozent der gesamten Erwerbstätigen in der Landeshauptstadt Hannover. Bei diesen Werten sind die kommunalen Krankenhäuser, die Sparkasse, das Verkehrsunternehmen und die Müllabfuhr noch nicht einmal mit einbezogen, da sie zur Region Hannover gehören. Mit einem Anteil von insgesamt wohl 10 Prozent, den kommunale Unternehmen an der gesamten Wertschöpfung haben, kann von Munizipalsozialismus zwar keine Rede sein. Jedoch ist die Kommunalwirtschaft ein wichtiger Bestandteil der hannoverschen Wirtschaft und stabilisiert den regionalen Arbeitsmarkt.
Kann die Kommunalwirtschaft also - wie im 19. Jahrhundert - zentrale gesellschaftliche Probleme unserer Zeit lösen? Diese Frage muss differenziert beantwortet werden. Erst einmal sind die Beteiligungen nur ein Instrument, das von den Kommunen - mehr oder weniger gut - eingesetzt werden kann. Wenn beispielsweise verdiente Mitarbeiter aus Verwaltung oder Politik zu Vorständen beziehungsweise Geschäftsführern gemacht werden, erweist sich das für die Kommunalunternehmen in der Regel als Bärendienst. Erst ein gutes Management und eine professionelle Beteiligungssteuerung machen aus Kommunalunternehmen wirkungsvolle Instrumente.
Wie private Anteilseigner brauchen auch die Kommunen dabei nicht auf Gewinnabführungen zu verzichten. Im Gegenteil liefern besonders die Energieunternehmen einen wertvollen Beitrag zur Finanzierung der Kommune. Aber das Ziel eines kommunalen Beteiligungsmanagements ist es nicht, auf Kosten der Unternehmenssubstanz kurzfristig den Profit zu maximieren. Die aktuelle Wirtschaftskrise zeigt die Grenzen von Wirtschaftsmodellen auf, in denen der Shareholder value dominiert. Für den Unternehmenserfolg ist ein tragfähiges Geschäftsmodell eben wichtiger als der Quartalsbericht. Ein Management, das seine Kapazitäten ausschließlich zur Generierung und Präsentation guter Quartalszahlen verwendet, führt das Unternehmen unter Umständen direkt in die Krise.
Wo Unternehmen nicht "ausgecasht" werden
Kommunale Anteilseigner können es sich erlauben, langfristiger
- ja sogar in Generationen - zu denken. Beispielsweise werden die kommunalen Unternehmen in Hannover selbst in einer Haushaltskrise nicht "ausgecasht". Genau deshalb befinden sich die Stromnetze, Gasleitungen, die Kanalisation oder der Wohnungsbestand des städtischen Wohnungsbauunternehmens - also das Vermögen der städtischen Töchter - in einem ausgesprochen guten Zustand. Die langfristige Orientierung sorgt für eine ordentliche Infrastruktur. Dies steht im Gegensatz zum städtischen Kernhaushalt: Aufgrund der schwierigen Haushaltssituation muss bei der Unterhaltung von Gebäuden und Straßen gespart werden, was unbestritten vollkommen unwirtschaftlich ist.
Darüber hinaus werden mittels der Kommunalwirtschaft aber auch fachpolitische Ziele verwirklicht. Eines der größten Probleme des 21. Jahrhunderts ist ohne Zweifel der Klimawandel. Was wäre ein kommunales Klimaschutzprogramm ohne den Beitrag der Stadtwerke wert? Wenig! Das zeigt nicht zuletzt das ambitionierte Klimaschutzprogramm der Stadt Hannover.
Die aktuelle Weltwirtschaftskrise macht deutlich, dass die soziale Frage - übrigens der Hauptgrund, warum sowohl die SPD als auch die Kommunalwirtschaft im 19. Jahrhundert entstanden sind - auch im 21. Jahrhundert existiert. Kommunale Arbeitsmarktpolitik hat leider nur begrenzte Wirkung. Nur über ihre Unternehmen können die Kommunen den Arbeitsmarkt wirkungsvoll beeinflussen. Die städtischen Unternehmen sichern heute 45.000 Arbeitsplätze allein in der Region Hannover (Stadt und Umland).
Ein fünfter Player auf dem Energiemarkt?
Kurzum, die kommunale Selbstverwaltung ist handlungsfähig, weil sie Unternehmen hat. Die Gewinnabführungen tragen dazu bei, die Finanznöte zu lindern. Und für Politik und Verwaltung sind Kommunalunternehmen wirkungsvolle Instrumente zur Erreichung fachlicher Ziele.
Schließlich sei erwähnt, dass sich momentan möglicherweise ein neues Kapitel der Kommunalwirtschaft anbahnt. Wenn es dem Konsortium aus den Stadtwerken Hannover, Nürnberg und Frankfurt in Verbindung mit anderen Stadtwerken tatsächlich gelingt, die große E.ON-Tochter Thüga zu kaufen, wäre dies ein spektakulärer Ausbau der Kommunalwirtschaft und das größte Rekommunalisierungsprojekt überhaupt. Auf dem Energiemarkt entstünde ein fünfter nationaler Player, dessen Gewinne nicht privaten Anteilseignern zugute kämen, sondern zur Finanzierung der Schulsanierung und dem Ausbau der Kinderbetreuung eingesetzt werden könnten. Kein Zweifel, auch die Kommunalwirtschaft lebt im 21. Jahrhundert. Sie ist sogar lebendiger als in den vergangenen Jahrzehnten. Aus gemeinwohlorientierter und sozialdemokratischer Sicht ist das gut so.